Wilhelm Hauff – Das Gespensterschiff (Gruselkabinett Folge 171)

Halligalli auf des toten Manns Kiste

Basra, 1825: nach dem Tod seines Vaters möchte der junge Kaufmannssohn Achmet sein Glück in der Fremde versuchen und besteigt daher mit seinem Diener Ibrahim ein Schiff nach Indien. Als sie nach knapp zweiwöchiger Reise in einen Sturm geraten und plötzlich ein geheimnisvoller Segler mit johlender Besatzung aus dem Nichts auftaucht, gerät der Kapitän in Panik, da er in der vorbeidonnernden Mannschaft den Tod persönlich zu erkennen meint. Tatsächlich sinkt kurz darauf sein Schiff, und Achmet und Ibrahim scheinen die einzigen Überlebenden zu sein… (Verlagsinfo)

Der Verlag empfiehlt das Hörbuch ab 14 Jahren.

Der Autor

Wilhelm Hauff (* 29. November 1802 in Stuttgart, Herzogtum Württemberg; † 18. November 1827 in Stuttgart, Königreich Württemberg) war ein deutscher Schriftsteller der Romantik. Er gehörte zum Kreise der Schwäbischen Dichterschule. (Quelle: Wikipedia.de) Zu seinen zahlreichen Märchen hat die Wikipedia einen eigenen Artikel erstellt, der sehr zu empfehlen ist.

Der O-Text, der 1826 als Teil der Rahmenerzählung „Die Karawane“ erschien, ist online nachzulesen und anzuhören, denn er ist längst gemeinfrei.

Die Sprecher/Die Inszenierung

Die Rollen und ihre Sprecher:

Achmet: Jannik Endemann
Ibrahim: Bernd Kreibich
Kapitän: Peter Weis
Steuermann: Marc Gruppe
Stadttorwächter: Bene Gutjan
Muley: Willi Röbke
Kapitano: Thomas Balou Martin
Seemann: Marc Gruppe
Muleys Sklaven: Marc Gruppe & Stephan Bosenius

Die Macher

Regie führten die Produzenten, Skript-Autoren und Sprecher Marc Gruppe und Stephan Bosenius. Die Aufnahmen fanden bei Titania Medien Studio, bei Advertunes, bei speeech, im scenario tonstudio und in den Planet Earth Studios statt. Die Illustration trug Ertugrul Edirne bei.

Handlung

Der Kaufmannssohn Achmet ist erst 18 Jahre alt, als sein Vater all seinen Reichtum verliert und wenig später stirbt. Achmet will in die Fremde, um sein Glück zu versuchen, und besteigt mit seinem treuen Diener Ibrahim ein egelschiff, das ihn nach Indien bringen soll. nach 15 Tagen durchfurchen Sorgenfalten die Stirn des Kapitäns: Ein Sturm ist im Anzug. Doch was folgt, ist nicht der Sturm, sondern die unheimliche Stille davor.

Das unheimliche Schiff

Nachts taucht plötzlich wie aus dem Nichts ein anderer Segler auf und zieht wie von einem Geisterwind getragen vorüber. An Bord erblickt Achmet zu seinem Erstaunen saufende und johlende Seeleute, die fröhlich zu feiern scheinen. Der Kapitän befiehlt eilig: „Beidrehen! Das ist ein böses Omen.“ Offenbar kennt er den Segler schon, der wieder verschwindet. „Dort segelt der Tod.“ Dann bricht der Sturm los. „Das Schiff ist verloren“, orakelt der Kapitän. „Betet zu Allah!“

Schiffbruch

In der Tat dauert es nicht lange, bis der Sturm das Schiff in seine Bestandteile zerlegt. „In die Boote!“ befiehlt der Kapitän. Achmet und Ibrahim ergattern noch ein Boot, doch es treibt kieloben. Sie scheinen die einzigen Überlebenden zu sein. Da erscheint der fremde Segler erneut. Dass er völlig unbeschädigt ist, kommt Ibrahim unheimlich vor. Achmet ist unbeeindruckt. Der Segler sei ihre einzige Hoffnung, dieses Unglück zu überleben. Sie müssten mit den Händen rudern, um das am Heck herabhängende Tau zu erwischen. Alle Rufe um Hilfe bleiben unbeantwortet. Das Vorhaben gelingt, und Achmet klettert zuerst an Bord. Dort herrscht Totenstille. Er hilft Ibrahim an Bord, warnt ihn aber.

Die Toten

An Deck liegen mindestens 20 Leichen in starrer Haltung, doch am Großmast ist der Kapitano angenagelt. Ein riesiger Nagel ragt ihm aus der Stirn (s. das Titelbild). Den Säbel noch in der Hand, starrt er ins Nichts. „Was kann hier nur passiert sein?“, fragt Ibrahim. Achmet schlägt vor, zuerst in der Kajüte des Kapitano nachzuschauen, wem dieser Kahn gehört. Vielleicht gibt es dort auch etwas zu essen. Ibrahim findet eine gute Idee. In der Kajüte finden sie nicht nur Essen, sondern auch – zweifellos geraubte – Reichtümer. Achmet jubelt. Dann kommt ihm der Gedanke, dass man die vielen Leichen doch bestatten müsse. Doch dieses Vorhaben erweist sich als undurchführbar: Alle Toten inklusive des Kapitano sind wie angeklebt und lassen sich nicht bewegen. Kein Zweifel: „Dieses Schiff ist verflucht“, sagt Ibrahim. Aber er ahnt nicht, auf welche Weise der Fluch wirkt.

Die Lebenden?

In der ersten Nacht an Bord hält Achmet Wache, doch eine Stunde vor Mitternacht fällt er in einen Schlummer. Wind kommt auf, und er vermeint Stimmen zu hören. Der Kapitän schimpft auf seine Mannschaft und beginnt, betrunken zu singen. Achmet stellt fest, dass er keinen Finger rühren kann. Erst als die Sonne aufgeht, vergeht der Spuk wieder. Es muss ein Traum gewesen, sagt er sich, doch Ibrahim hat die Stimmen ebenfalls gehört. Doch wieder liegen die Toten an Deck und der Kapitano steht am Großmast. „Dieses Schiff ist verhext“, konstatiert Ibrahim zitternd.

Die zweite Nacht

Und was, wenn sich der unheimliche Spuk in der nächsten Nacht wiederholt und sie entdeckt werden? Ibrahim hat eine Idee und erinnert sich an den Rat, die ihm einst sein Großvater gab, nämlich über den rechten Umgang mit verfluchten Geistern. Zusammen treffen sie alle nötigen Maßnahmen. Als der Mond aufgeht und die Stunde vor Mitternacht schlägt, beginnen sich die Toten erneut zu regen. Achmet und Ibrahim beten zu Allah, dass ihre Maßnahmen helfen mögen…

Mein Eindruck

Dass „Die Geschichte vom Gespensterschiff“ aus dem Jahr 1825 an die Sage vom Fliegenden Holländer erinnert, verwundert nicht. Dieses Sujet ist im Gruselkabinett ziemlich beliebt. Aber war sie auch Hauff selbst bekannt? Und warum treten Piraten aus Algier im Indischen Ozean auf?

„Die Holländersage dürfte Hauff aus der deutschen Übersetzung von Vanderdecken’s Message Home bekannt gewesen sein, die 1821 im Stuttgarter Morgenblatt für gebildete Stände erschienen war, dessen Redaktion Hauff 1827 übernehmen sollte. Johannes Barth zufolge lag aber eine andere Quelle für Hauff näher, nämlich „Rokeby“ von dem schottischen Dichter Walter Scott („Ivanhoe“), wo eine Episode aus der Geschichte des Piraten Blackbeard erscheint, die für die Schilderung der Piraten und speziell für den Streit des Kapitäns mit dem Steuermann in der Kajüte, der von Achmet und Ibrahim in der zweiten Nacht beobachtet wird, Quelle gewesen sein kann.“ (Wikipedia)

Der Literaturwissenschaftler Gero von Wilpert meint in der Erzählung Züge des Biedermeiers zu erkennen, was er an drei Punkten festmacht:

1) die Brandmarkung rastloser Habgier und verderbenbringender Meuterei,
2) die Qual rastlosen Umhersegelns als negatives Gegenbild zur romantischen Reiselust und
3) das glückliche, zudem finanziell lohnende Ende und Achmets Rückkehr in eine wohlhabende und behäbige Existenz. (Wikipedia.de)

Abtrünnig (SPOILER!)

Diese Deutung unterschlägt aber völlig den religiösen Rahmen, der für die Rettung sowohl der Schiffbrüchigen als auch für die Seelen der Verfluchten relevant ist. Was nach Magie aussieht, ist die Anrufung Allahs. Wie magisch ist das denn? Achmet und Ibrahim folgen dem Rat von Ibrahims Großvater und befestigen auf dem ganzen Schiff Koransprüche. Außerdem – und das ist die Pointe – rufen sie einen Bannspruch gegen die Geister aus, der Allahs macht herbeifleht:

„Kommt ihr herab aus der Luft,
Steigt ihr aus tiefem Meer,
Schlieft ihr in dunkler Gruft
Stammt ihr vom Feuer her:
Allah ist euer Herr und Meister
Ihm sind gehorsam alle Geister.“

Der Spruch wirkt. Nun müssen noch die Seelen der Verfluchten gerettet werden. Sie wurden einst von einem heiligen Mann, einem Derwisch, dafür verflucht, dass sie seinen Rang missachtet und tödlich verwundet hatten. Ihr Zustand zwischen Leben und Tod, Tag und Nacht, Licht und Dunkel entspricht diesem Fluch. Darin lässt sich wieder die Macht Allahs ablesen.

Ebenso in dem Verfahren, mit dem die Verfluchten von ihrem Zustand erlöst werden können. Ein weiser Mann namens Muley Bey hilft Achmet und Ibrahim dabei. Die Lösung besteht darin, die Verfluchten in Kontakt mit Erde zu bringen. Sofort zerfallen sie zu Staub. Alle außer dem Kapitano, der sich vor seinem finalen Ableben herzlich bedankt und seine Geschichte erzählt. Zum Dank schenkt er seinem Retter sein Schiff mit sämtlichen Reichtümern darin.

Das ist aber nicht das Ende der Geschichte. Alle fünf Jahre pilgern Achmet und Ibrahim nach Mekka, der heiligen Stadt, um dort für die Seelen der Erlösten und des ermordeten Derwischs zu beten. Erst unter dieser Bedingung, so suggeriert der Autor, ist auch das Seelenheil Achmets gewährleistet. Denn ginge es ihm nur um den schnöden Mammon, so wäre auch seine Seele in Gefahr – er wäre nicht viel besser als ein Pirat.

Die Sprecher/Die Inszenierung

Die Sprecher

Im Mittelpunkt steht das dynamische Duo aus Achmet und Ibrahim. Achmet, gerade mal erwachsen geworden, ist vorwitzig, stets hoffnungsvoll und beinahe übermütig. Ibrahim, der treue, etwas ältere Diener seines Vaters, ist vorsichtig, warnend, ängstlich, aber auch fromm: Er hat den Einfall mit dem Bannspruch. So ergänzen sich beide perfekt. Ihre Sprecher bringen die jeweiligen Charakteristika ausgezeichnet zum Ausdruck.

Der Kapitän des Seglers nach Indien wird Peter Weis gesprochen, einem Veteranen des Gruselkabinetts. Sein Käptn ist zwar eine ehrliche Haut, aber auch ein Hasenfuß. Da gefiel mir der andere Veteran, Muley Bey aus Madras, schon besser. Willi Röbke klingt, als stamme er direkt aus der Augsburger Puppenkiste, die solche Märchen liebend gern aufgeführt hat, oder aus einem Märchenfilm wie „Der kleine Muck“.

Die Verfluchten

Die größte Mühe hat sich die Tonregie jedoch mit den Stimmen der verfluchten Piraten gegeben. Sie sollen selbstredend nicht wie die vollen Stimmen von lebenden klingen, außerdem befindet sich zwischen den Lauschern und den untoten Sprechern eine Holzwand. Deshalb sind die Sätze des Kapitano und seines Maats sowohl verzerrt als auch mit deutlichem Hall versehen. Dann beginnen die beiden auch zu singen, über eine Buddel voll Rum, jo-ho!

Aber gleich darauf wird’s ernst, denn sie streiten sich über das Kommando an Bord – und so kommt es allnächtlich zu jener Meuterei, deren Opfer Achmet und Ibrahim an Deck liegen sehen. Wenn der Hörer etwas zartbesaitet ist, wirken die Piraten schon recht bedrohlich und möglicherweise auch gruselig. Ich fand sie eher pittoresk, was wahrscheinlich am extensiven Genuss von Piratenfilmen à la „Fluch der Karibik“ liegt.

Geräusche

Dieses Hörspiel hat eine der ausgefeiltesten Sound-Kulissen, die ich je im Gruselkabinett gehört habe. Eine schier unglaubliche Vielfalt von Geräuschen verwöhnt das Ohr des Zuhörers. Der Eindruck einer real erlebten Szene entsteht in der Regel immer, sei es während des verhängnisvollen Sturms oder auf dem Gespensterschiff. Da rauscht jede Welle durch die Lautsprecher, der Wind heult um die Masten und auf dem Totenschiff knarrt und quietscht jedes Stück Holz, das man sich nur vorstellen kann: Planken, Treppen, Türen, Kojen und vieles mehr. In Madras, dem Zielhafen, kommen noch weitere Geräusche hinzu. All diese Samples setzt die Tonregie zur Genüge ein, um einer Szene eine Fülle von realistisch klingenden Geräuschen zu vermitteln.

Die Musik

Von einem Score im klassischen Sinn kann keine Rede mehr sein. Die zuweilen dramatisch-düstere Hintergrundmusik dient nur dazu, eine düstere oder angespannte Stimmung zu erzeugen, und zwar nur dort, wo sie gebraucht wird. Hier steigert sich die Spannung von Szene zu Szene, bis der Spuk vorüber ist. Doch in der Rückblende, in der der Kapitano seine Geschichte erzählt, beginnt die gruselige Stimmung von Neuem. Erst ganz am Schluss kann so etwas wie heitere Stimmung aufkommen.

Milieugerecht integriert die Hintergrundmusik orientalische sowie indische Motive, sowohl in der Instrumentierung wie auch bei den Melodien. Da kommt echtes Orient-Feeling auf.

Das Booklet

Das Titelmotiv zeigt die Szene, die sich Achmet und Ibrahim an Bord des Gespensterschiffs bietet, sobald es Tag ist. (Nachts werden die Untoten lebendig.) Deutlich sind der Nagel in der Stirn des Kapitano sowie sein Säbel zu erkennen. Für Grusel sorgen auch die schwarzen Segelfetzen, die auch von der „Black Pearl“ stammen könnten.

Im Booklet sind die zahlreichen Titel des GRUSELKABINETTS und der SHERLOCK HOLMES Reihe bis Herbst/Winter 2021 verzeichnet. Die Vorschau wird online auf der neugestalteten Homepage bestens dargeboten. Die letzte Seite des Booklets zählt sämtliche Mitwirkenden auf.

Ab Frühjahr / Sommer 2021

168: G. Rodenbach: Das tote Brügge
169: Per McGraup: Ein Heim für Oscar
170: Eric Stenbock: Eine wahre Vampir-Geschichte
171: Hauff: Das Gespensterschiff
172 + 173: Spuk in Ballechin House 1+2

Unterm Strich

Dieses Hörspiel ist wieder mal ein ordentlich dramatisches Seeabenteuer wie „Der fliegende Holländer“ (Gruselkabinett Folge 22), „Die Herrenlose“ (Folge 53), „Stimme in der Nacht“ (Folge 69) oder „Tropischer Schrecken“ (Folge 154) sowie „Die obere Koje“ (Folge 34). Es findet im Indischen Ozean statt, wo auch häufig die „Märchen aus Tausendundeiner Nacht“ angesiedelt sind. Hier setzt der bekannte deutsche Märchenautor Wilhelm Hauff sein Gruselmärchen effektvoll in Szene. Die Botschaft ist jedoch nicht in den Biedermeier-Werten (s.o.) zu finden, sondern auch in einem soliden religiösen Kontext.

Denn die verfluchten Piraten haben einen Derwisch getötet, der sein Leben Gott geweiht hatte. Er verfluchte sie, und so kommt es, dass sie 50 Jahre lang rastlos, zwischen Leben und Tod hin und her vegetierend, über die Meere segeln. Sie verletzten dabei so ziemlich jedes Naturgesetz: Segeln gegen den Wind, sausen bei Windstille, mit zerfetzten Segeln – eine Beleidigung Allahs, kein Zweifel. Das Schiff ist mal „verwunschen“, mal „verhext“, jedenfalls alles andere als gottgefällig. Fromme Koransprüche wehren die Gefahr, von den Untoten abgemurkst zu werden nur vorläufig ab – das sorgt für einige Spannung. Nur ein frommer Weiser wie Muley Bey kann sich die Methode ausdenken, wie die Verfluchten erlöst werden können…

Ebenso wichtig ist die Botschaft, dass selbst ein junger Mittelloser wie Achmet sein Glück machen kann, wenn er sich gottgefällig verhält. Er nimmt fetten Lohn in Empfang: ein Segelschiff samt der Reichtümer. Dass er davon dem weisen Muley etwas abgeben muss, versteht sich von selbst: Eine Hand wäscht die andere. Romantik sieht allerdings anders aus.

Das Hörspiel

Die professionelle Inszenierung, die filmreife Musik und bekannte Stimmen von Synchronsprechern und Theaterschauspielern einsetzt, bietet dem Hörer ein akustisches Kinoerlebnis, das man sich mehrmals anhören sollte, um auch die Feinheiten mitzubekommen. Die Atmosphäre, die von Sounds und Musik erzeugt wird, ist unheimlich und stellenweise sogar actionreich.

Auch jungen Menschen, die sich einfach nur für gruselige Audiokost interessieren, die gut gemacht ist, lässt sich das Hörspiel empfehlen. Es ist leicht verständlich, wirkungsvoll inszeniert, und die Stimmen der Piraten und des weisen Muley Bey vermitteln das richtige Kino-Feeling. So mancher mag sich in Piratenfilme oder einen Märchenfilm versetzt fühlen. Schade, dass es für eine Frauenfigur keine Rolle gibt.

CD: 57 Minuten
ISBN-13: 9783785783191

www.titania-medien.de

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