Edith Wharton – Verhext. (Gruselkabinett 47)

Subtil und stimmungsvoll: Hexenjagd in Neu-England

Amerika um 1890: Das ländliche New England liegt tief verschneit. Prudence Rutledge bittet einige ihrer Nachbarn trotz des gefahrvollen Wetters zu sich in ihr Farmhaus. Weder sie, noch ihren Mann Saul Rutledge hat man seit Längerem in Hemlock County gesehen. Was kann die als eigenbrötlerisch bekannte Frau bloß von ihren Nachbarn wollen …? (Verlagsinfo)

Der Verlag empfiehlt das Hörspiel ab 14 Jahren.

Die Autorin

Edith Wharton (1862-1937) ist eine scharfe Beobachterin der gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrer Heimat Neu-England, wobei sie ihren Blick auf den Gegensatz zwischen persönlichen Leidenschaften und den Ansprüchen der Welt richtete. Sie schrieb ein rundes Dutzend Geistergeschichten und einige wichtige Romane:

1) The House of Mirth (1905)
2) Ethan Frome (1911)
3) The Custom of the Country (1913)
4) Tales of Men and Ghosts (Stories, 1910)
5) The Age of Innocence (1920)
6) Xingu and Other Stories (1916)
7) Here and Beyond (1926)

Die Sprecher/Die Inszenierung

Der Erzähler: Hasso Zorn
Prudence Rutledge: Susanne Uhlen
Saul Rutledge: Ernst Meincke
Orrin Bosworth: Frank Schaff
Diakon Hibben: Jochen Schröder
Sylvester Brand: Uli Krohm
Ora Brand: Annina Braunmiller
Loretta Bosworth: Reinhilt Schneider
Lucille Bosworth: Bettina Weiß
Orrin als Kind: Henri Färber
Loretta als Kind: Gabrielle Pietermann
Cressidora Cheney: Dagmar von Kurmin
Hannah Cory: Petra Barthel
Lefferts Nash: Alexander Turrek
Andy Pond: Bene Gutjan

Das Skript schrieb Marc Gruppe, der mit Stepahn Bosenius auch Regie führte. Die Aufnahme erfolgte in den Planet Earth Studios. Die Illustration ist von Firuz Askin.

Handlung

Neuengland im Jahr 1890, in Hemlock County. Die Nachbarn von Mrs Rutledge fahren durch den Schnee, um ihrer Einladung zu folgen. Der junge Orrin Bosworth begrüßt Diakon Hibben, der mit Sylvester Brand kommt, einem älteren Farmer. Sie alle rätseln, welchem Umstand sie wohl diese Einladung zu verdanken haben. Denn die Rutledges sind als eigenbrötlerisch bekannt.

Die Haustür öffnet sich und die Dame des Hauses bittet sie herein. Sie bittet den Diener Andy, Mr. Rutledge zu holen. Sie ist streng und kalt, und als der Hausherr nicht erscheint, meint sie, es liege angeblich ein Fluch auf ihrer Familie und ihr Gatte sei angeblich verhext worden. Als Mr Brand ob dieser unchristlichen Reden wieder gehen will, bittet sie ihn zu bleiben. Sie wisse genau, dass ihr Gatte Mr Brands Tochter Ora bei der alten Hütte am Weiher treffe. Mr Brand protestiert aufs heftigste: Ora sei doch längst tot! Prudence Rutledge beharrt auf ihrer Ansicht. Orrin beobachtet, wie Mr Brand zunehmend rot anläuft. Er nennt sie eine wahnsinnige Lügnerin.

Die drei sahen Mr Rutledge zuletzt vor etwa einem Jahr und erfreute sich bester Gesundheit. Doch als Saul Rutledge endlich in die Stube tritt, trauen sie ihren Augen kaum. Rutledge sehe aus wie ein lebender Leichnam, sagt seine Frau. Er bestätigt, dass er Ora Brand seit der Woche nach ihrem Tod vor einem Jahr regelmäßig getroffen habe. Seitdem sei er schwächer geworden. Der Diakon will wissen, wie alles begann, und Rutledge beginnt langsam zu berichten …

Drei Jahre lang liebte er Ora trotz des Verbots ihres Vaters, bis dieser sie in eine Ausbildung steckte, um sie aus der Stadt zu entfernen. Als sie zurückkehrte, war er mit Prudence verheiratet. Er sah sie nur ein einziges Mal noch lebend, das war auf dem Jahrmarkt. Sie gab zu, Tuberkulose zu haben und nur noch zwei Jahre leben zu können. Doch nach ihrem Tod wolle sie wieder bei ihm sein …

Doch nach ihrem Tod lockte ihn ein innerer Zwang zu jener Hütte am Weiher, wo Ora auf ihn wartete. Widerstand war zwecklos. Sie taten nichts, denn Ora wollte nur bei ihm sein. Das gab ihr Kraft. Der Diakon tadelt ihn, das gegen die Religion. Es sei wie die Geschichte von Lefferts Nash und Hannah Corey vor 30 Jahren. Auch die saugte sein Blut, wie ein Vampir. Damals pfählte der Diakon die Leiche von Hannah Corey. Doch seitdem will er nichts mehr davon wissen.

Brand protestiert vehement gegen die Unterstellung, seine Tochter Ora sei ein Vampir. Doch Prudence Rutledge verlangt die Pfählung. Schon in der Bibel stehe das Gebot, dass keine Hexe leben dürfe. Brand habe ja noch eine zweite Tochter, Vanessa. Vorerst einigt man sich darauf, sich Klarheit zu verschaffen.

Erst fährt Brand los, dann Orrin, der den Diakon mitnimmt. Orrin fährt wie magnetisch angezogen zur alten Hütte. Geht Ora Brand wirklich dort um? Sie sehen auch Brands Schlitten bei der Hütte stehen. Es ist finster um die Hütte, und nur der Abendstern leuchtet ihnen. Da entdecken sie Fußspuren im Schnee. Von kleinen nackten Füßen. Auch Sylvester Brand entdeckt sie. Sie wollen nachsehen.

Hinter der Tür steht eine junge Frau, die auflacht. Da fallen zwei Schüsse …

Mein Eindruck

Neuengland ist bekanntlich der älteste Teil der Vereinigten Staaten und trägt noch viel vom europäischen Erbe in sich. Schon H. P. Lovecraft fand hier zahlreiche verfallende Häuser in versteckten und unzugänglichen Bergtälern, wo er seine Monster und eigenbrötlerischen Farmer auftreten lassen konnte. Erstaunlich ist deshalb die Ähnlichkeit von Edith Whartons Farmer zu Lovecrafts Waldbewohnern, ganz so, als wäre die Grenze zur Wildnis nie ganz überwunden worden.

Als die Pilgerväter Anfang des 17. Jahrhunderts England verließen, flohen sie vor religiöser und politischer Verfolgung, um in der Neuen Welt Freiheit zu finden. Doch der Glauben an Hexen war bei ihnen noch präsent, wie wir noch heute in Shakespeares Stücken wie etwa „Macbeth“ ablesen können. Edith Wharton gräbt dieses zwischenzeitlich fast vergessene, kulturelle Erbe wieder aus.

Der junge Orrin Bosworth erinnert sich nicht nur, vom Fall Hannah Corey gehört zu haben, sondern erinnert sich sogar daran (in einer sehr schönen Rückblende), selbst einmal eine alte Tante kennengelernt zu haben, von der das Gerücht ging, die Alte sei eine Hexe. Dass die Alte den Kanarienvogel tötete, den er, seine Schwester und seine Mutter ihr schenkten, trug nicht gerade zur Widerlegung des Aberglaubens bei. Und dann dieses irre Lachen …

Immer wieder zählt die Autorin Schicksale von Frauen auf, die außerhalb der Noorm für „zivilisiertes Verhalten“ stehen. Ist die geistig labile Tante deshalb schon eine Hexe, weil sie irre lacht und Vögel tötet? Ist Hannah Corey wirklich aus dem Grab zurückgekehrt, um ihren Geliebten auszusaugen, genau wie Ora Brand? Man kommt sich vor wie in Transsylvanien, als Prudence Rutledge die Pfählung der Hexe fordert, genau wie bei Hannah Corey. Tatsächlich steht in der Bibel das Gebot, dass man keine Hexe am Leben lassen dürfe. Und es wird die Hexe von Endor erwähnt.

Die Autorin unternimmt in dieser Hörspielfassung keinen Versuch, freudianisch zu werden und das Vampir- und Hexenphänomen irgendwie sexuell zu begründen. Das ist ja bei symbolistischen Erklärungsversuchen gang und gäbe: Blutsaugen als Ersatz für den Geschlchtsakt. Auch eine ökonomische Begründung fehlt, doch es wird deutlich, dass ein Mann wie Brand seine Töchter wie Leibeigene behandeln kann.

Am ehesten kommt noch eine soziokulturelle Erklärung in Frage: Die Außenseiterinnen, die zu viel vom Mann wollen, werden von den puritanisch-prüden Anwohnern geächtet und stigmatisiert – eben als Hexen. Der Haken an dieser Erklärung: Der körperliche Verfall von Saul Rutledge darf dann nicht wörtlich genommen werden, sondern ist eine Metapher dafür, wie der männliche Körper unter den Ansprüchen der Hexe bzw. Vampirin leidet. Was natürlich ein wenig lächerlich wirkt. Alles andere als lächerlich sind jedoch die Schüsse, die in der Hütte fallen. Welcher Wahn hat den Schützen befallen, eine lachende Frau zu töten?

Die Geschichte hat ein Nachspiel voller Untertöne, denn Vanessa, Oras Schwester, stirbt drei Tage später, an einer Lungenentzündung, wie es heißt. Doch Orrin wird nicht vorgelassen, um sie zu sehen …

Die Sprecher/Die Inszenierung

Einige Stimmen bekannter Schauspieler treten hier auf, allen voran natürlich von Susanne Uhlen, einer Aktrice mit einer langen Erfolgsgeschichte im deutschen Kino und Fernsehen (mehr Info auf www.titania-medien.de]http://www.titania-medien.de). Sie verleiht dem Tribunal, das Prudence Rutledge abhält, die nötige Glaubwürdigkeit, indem sie Autorität, Strenge und Härte in ihre Stimme legt. Wenn sie die Pfählung einer Toten fordert, so abstrus das auch klingen mag, so wissen wir doch, dass sie ihr Ansinnen absolut ernst meint. Und rechtfertigt der Verfall ihres Gatten nicht diese Strafe?

Ihr Gegenspieler ist weniger der Diakon oder gar Orrin, als vielmehr Sylvester Brand. Uli Krohm stellt ihn als jähzornigen, stets protestierenden Farmer dar, Sein aufbrausendes Gehabe lässt aber auch den Verdacht zu, dass er Angst hat, aber wovor? Ist es eine Entdeckung, die niemand machen darf, der ihm darob am Zeug flicken könnte? Der Ruf ist bekanntlich schnell ruiniert, doch danach lebt es sich in Neuengland keineswegs ungeniert, wie die Redensart nahelegt, sondern recht fürchterlich: Es gibt zwar kein Scherbengericht mehr, aber bleiben kann der Frevler ebenfalls nicht länger.

Geräusche

Die Geräusche sind genau die gleichen, wie man sie in einem realistischen Spielfilm erwarten würde, und die Geräuschkulisse wird in manchen Szenen dicht und realistisch aufgebaut, meist aber reichen Andeutungen aus. Natürlich knarren und quietschen Türen, und das Feuer knistert im Kamin. Auch der Jahrmarkt, auf dem Rutledge Ora ein letztes Mal vor ihrem Tod sieht, ist vielfältig mit Stimmen und Geräuschen nachgebildet.

Aber wichtiger sind später die Stimmen der Vögel: In den Rückblenden mit Orrins alter Tante (Hexe?) trillert der Kanarienvogel mit Inbrunst – bis er verstummt. Im Kontrast zu den Wintergeräuschen des heulenden Windes und der Schritte im Schnee wirkt diese Szene wie ein Exkurs in eine fremde Welt, in der alles blüht und gedeiht. Umso unnatürlicher muss Orrin das verrückte Lachen seiner Tante erscheinen. Ganz am Schluss hat wieder ein Vogel das letzte Wort: eine Krähe.

Musik

Die Musik ist sehr stark zurückgenommen und fast gar nicht zu existieren. Das macht die Geräusche und Dialoge umso wichtiger. Erst gegen Schluss stimmt das Orchester eine traurige Melodie an, und der Ausklang wird ebenfalls von melancholischen Akkorden bestritten.

Das Booklet

… enthält im Innenteil lediglich Werbung für das Programm von Titania Medien. Auf der letzten Seite finden sich die Informationen, die ich oben aufgeführt habe, also über die Sprecher und die Macher. Die Titelillustration von Firuz Akin fand ich diesmal wenig passend: Denn die leichtgeschürzte, wenn auch verführerisch lächelnde Hexe (Vampirin?) mit der wetterfesten Taft-Frisur scheint mir in der Geschichte so nicht vorzukommen. Aber das ist sicher Interpretationssache.

Firuz Akin hat auch eine Seite Werbung für sein Buch „Illustration“ bekommen, das Mitte Dezember im Heider Verlag erscheinen soll.

In einem Zusatzblatt ist Werbung für Gruseldinner zu finden: „ein schaurig-komischer Spaß mit 5 Akten und 4 Gängen“. Thematisch werden Frankenstein, Dracula und Jack the Ripper mundgerecht zubereitet und serviert.

Diesmal sind in einem zusätzlichen Katalog Hinweise auf die nächsten Hörspiele zu finden:

Nr. 48: Bram Stoker: Die Squaw (November)
Nr. 49: Frederick Marryat: Der weiße Wolf (November)
Nr. 50: Das Gespenst von Canterville (März 11)
Nr. 51: Arthur Conan Doyle: Die Mumie (März 11)
Nr. 52: Robert E. Howard: Tauben aus der Hölle (April 11)
Nr. 53: William Hope Hodgson: Die Herrenlose (April 11)
Nr. 54 + 55: Alice & Claude Askew: Aylmer Vance – Abenteuer eines Geistersehers (Mai 11)

Unterm Strich

Die Inszenierung dieser relativ wenig bekannten Erzählung ist weniger ein Drama, als auf weite Strecken ein Stimmungsbild. Dazu passen auch zwei Rückblenden, wenn sich die verschiedenen Teilnehmer von Prudence Rutledges Tribunal an Vorfälle erinnern, die für sie den Begriff „Hexe“ prägten. (Und wenn Ora Brand verspricht, nach ihrem Tod zu Saul Rutledge zurückzukehren, dann ist das ja auch nicht gerade beruhigend.)

Doch was geht es nun in der Geschichte, fragt sich der Hörer. Haben wir es hier mit Hexenglauben zu tun, mit dem Aberglauben an Vampire, womöglich sogar mit Nachzehrern, jenen Kreaturen, die nach ihrem Tod einen geliebten Menschen heimsuchen, um ihm die Lebenskraft auszusaugen? Die Autorin legt sich wohlweislich nicht fest. Aber sie deutet an, dass es eben aufgrund dieses Aberglaubens zu einer folgenschweren Verwechslung gekommen sein könnte: Wer wurde in jener verrufenen Hütte am Weiher erschossen – eine Lebende oder eine Tote? Das Nachspiel legt nahe, dass die Bestrafung genau die Falsche getroffen hat. Eine sehr subtile Warnung also vor jedweder Art von Hexenjagd.

Das Hörspiel

Die professionelle Inszenierung, die filmreife Musik und Stimmen von Hollywoodstars einsetzt, bietet dem Hörer ein akustisches Kinoerlebnis, das man sich mehrmals anhören sollte, um auch die Feinheiten mitzubekommen.

Audio-CD mit 63 Minuten Spieldauer
Originaltitel: Bewitched (zwischen 1900 und 1920)
ISBN-13: 978-3785743904
www.titania-medien.de
www.luebbe-audio.de