H. P. Lovecraft – Das gemiedene Haus (Gruselkabinett Folge 162)


Geisterjäger gegen das Unheil im Keller

Providence, 1919: Was ist dran an den unheimlichen Gerüchten um das Haus der Familie Harris, das nach unzähligen Todesfällen, die es dort gab, nun nicht mehr bewohnt wird? Dr. Elihu Whipple und sein Neffe Howard wollen dem Rätsel auf die Spur kommen und beschließen, eine Nacht im Keller des Gebäudes zu verbringen, um das vermeintliche Böse auszurotten. Ihr Gegner erwartet sie dort bereits… … (Verlagsinfo)

Der Verlag empfiehlt das Hörbuch ab 14 Jahren.

Der Autor

Howard Phillips Lovecraft (1890-1937) wird allgemein als Vater der modernen Horrorliteratur angesehen. Obwohl er nur etwa 55 Erzählungen schrieb, hat sein zentraler Mythos um die Großen Alten, eine außerirdische Rasse bösartiger Götter, weltweit viele Nachahmer und Fans gefunden, und zwar nicht nur auf Lovecrafts testamentarisch verfügten Wunsch hin.

Aber Lovecrafts Grauen reicht weit über die Vorstellung von Hölle hinaus: Das Universum selbst ist eine Hölle, die den Menschen, dessen Gott schon lange tot ist, zu verschlingen droht. Auch keine Liebe rettet ihn, denn Frauen kommen in Lovecrafts Geschichten praktisch nur in ihrer biologischen Funktion vor, nicht aber als liebespendende Wesen oder gar als Akteure. Daher ist der (männliche) Mensch völlig schutzlos dem Hass der Großen Alten ausgeliefert, die ihre Welt, die sie einst besaßen, wiederhaben wollen.

Das versteht Lovecraft unter „kosmischem Grauen“. Die Welt ist kein gemütlicher Ort – und Einsteins Relativitätstheorie hat sie mit in diesen Zustand versetzt: Newtons Gott ist tot, die Evolution eine blinde Macht, und Erde und Sonne nur Staubkörnchen in einem schwarzen Ozean aus Unendlichkeit. Auf Einstein verweist HPL ausdrücklich in seinem Kurzroman „Der Flüsterer im Dunkeln“.

Die Sprecher/Die Inszenierung

Die Sprecher und ihre Rollen:

Bene Gutjan: Howard
Jürgen Thormann: Dr. Elihu Whipple
Tom Raczko: Junger Howard
Dirk Petrick: David
Monika John: Alte Frau
Ingeborg Kallweit: Rhoby Harris
Herma Koehn: Mercy Dexter
David Nathan: Preserved Smith
Ursula Wüsthof: Ann White
Sigrid Burkholder: Phebe Harris
Patrick Bach: William Harris
Peter Weis: Richter
Dietmar Wunder: Jacques Roulet
Horst Naumann: Lehrer
Bert Stevens: Fahrer
Marc Gruppe: Arzt

Die Macher

Regie führten die Produzenten Marc Gruppe und Stephan Bosenius. Die Aufnahmen fanden bei Titania Medien Studio, im Fluxx Tonstudio, bei advertunes und in den Planet Earth Studios statt. Die Titelillustration trug Ertugrul Edirne bei.

Handlung

Providence, Rhode Island, USA. Im Jahr 1763 legte der erfolgreiche Kaufmann und Seefahrer William Harris den Grundstein zu seinem neuen Haus in der Benefit Street (ehemals Back Street), ohne zu ahnen, dass sich unter dem Keller etwas weitaus Älteres befindet: der Friedhof, auf dem Angehörige der Hugenottenfamilie Roulet begraben wurden. Der erste bekannte Vorfahr der Roulets war mutmaßlich ein Werwolf und fand im 16. Jahrhundert ein schmähliches Ende im Irrenhaus.

Nun, von dieser Vergangenheit ahnen William Harris und seine vielköpfige Familie nichts, doch schon als das fünfte Kind nur tot geboren wird, merken die Leute, dass etwas nicht stimmt. Auch der durchdringend üble Geruch und die grünlich schimmernden Wände scheinen der Gesundheit nicht gerade förderlich zu sein. Selbst die kräftigsten Mitglieder der Familie sowie ihrer Bediensteten klagen unter fortschreitender Schwächung, und der Arzt stellt eine durchgehende Blutarmut fest.

Nach mehreren Todesfällen, unter denen auch Harris ist, lebt seine Frau Robie wahnsinnig im Obergeschoss, und ihre Schwester führt das Haus. Schließlich äußert die aus einem rückständigen Teil der Gegend stammende Zofe Ann White den schlimmsten Verdacht: dass ein Vampir den Bewohnern dieses Hauses die Lebenskraft entziehe.

Im Jahr 1919 hat der Ich-Erzähler Howard zusammen mit seinem achtzigjährigen Onkel Elihu Whipple in mühseliger Kleinarbeit diese Zusammenhänge herausgearbeitet. Die Zusammenhänge sind kompliziert, aber das Bild eines Stein gewordenen Unheils, das mitten in der Altstadt steht, ist eindeutig. Eine Inaugenscheinnahme vor Ort hat in der Tat einen penetranten Geruch wie von Salpeter oder Schwefel zutage gefördert, und Howard vermeint eine Schwade von etwas Übelriechendem in den Kamin und durch den Schornstein verschwinden zu sehen.

Doch abschließende Sicherheit kann es nur geben, wenn die Beobachtungen nicht tagsüber, sondern in der Nacht durchgeführt werden. Darin sind sich die beiden Geisterjäger einig. Also richten sich die beiden Gentlemen mit Erlaubnis des gegenwärtigen Besitzers, ebenfalls eines Harris’, im Keller des gemiedenen Hauses aus, das seit rund sechzig Jahren als unvermietbar leer steht.

Einer von ihnen wird es nicht mehr lebend verlassen…

Mein Eindruck

Wer zuvor nur die früheren Erzählungen HPLs vor dem Jahr 1928 gelesen hat, wird von der sorgfältigen Ausarbeitung und der modern anmutenden geistigen Kultur in diesem gediegenen Stück Prosa überrascht sein. Die tiefste Vergangenheit – zunächst das Frankreich des 16. Jahrhunderts – ist den modernsten physikalischen Theorien gegenübergestellt. Dazwischen liegen die Familiengeschichten der Harris’ und der Roulets als Bindeglied. Die Roulets waren aus Frankreich vertriebene protestantische Hugenotten und in Neu-England nicht besonders gern gesehen (obwohl auch hier der Protestantismus vorherrschte).

Räumlicher Mittelpunkt ist stets das gemiedene Haus, insbesondere dessen tiefer, übelriechender Keller. Wie sich herausstellt, befindet sich dort ein Etwas, das noch älter (und größer) sein muss als der älteste hier begrabene Roulet. Denn vor den Kolonisten waren die Naragansett-Indianer hier sesshaft, und sie hatten hier wohl eine Begräbnisstätte angelegt. So entsteht ein Bild von mehreren Schichten übereinander, ohne dass der Nachfolger dem Vorgänger irgendeine Art von Respekt gegenüber den Toten bezeugte. Das ist die Ursünde, um die es hier geht. Sie muss gesühnt werden.

An diesem Punkt knüpfen die Motive der Erzählung an andere Geschichten HPLs an, die im Hinterland von Neu-England spielen, so etwa „The Dunwich Horror“, „Der Schatten über Innsmouth“ und insbesondere „Der Fall Charles Dexter Ward“. Alle drei Novellen sind dadurch gekennzeichnet, dass ehr sorgfältig der mitunter sehr lange Stammbaum des unglückseligen Helden – besonders Ward – aufgedeckt wird. Der Autor selbst erforschte intensiv den mütterlichen und den väterlichen Stammbaum, was ihn nach Devonshire und nach Norfolk in Ostengland führte – zumindest mit dem Finger auf der Landkarte. In Ostengland lag einst die versunkene Stadt Dunwich (s.o.), in der es heidnische Gebräuche gegeben haben soll. Und diesen ging u.a. Magister John Dee (1527-1608) nach, der Astrologe und Spion von Königin Elisabeth, der ersten ihres Namens.

Nicht nur Hexerei, sondern genetische Defekte spielen dabei eine Rolle. Im Fall des Innsmouth-Helden erweisen sie sich als Beimengung einer fremden Rasse, die den Dagon-Kult anhängt. Glücklicherweise liegt der Fluch dieser Vergangenheit weder auf Howard noch auf Elihu Whipple, wie es scheint. Vor diesem Hintergrund ist die vorliegende Geschichte nicht nur eine klassische Vampirstory, sondern etwas weitaus Komplexeres. Es ist die Geschichte der Kolonisation des nordamerikanischen Kontinents, zuerst durch die Indianer, die aus Asien kamen, dann von Franzosen, Holländern und Engländern, schließlich von Briten einer dissidentischen Gesinnung, wie etwa Quäker und Puritaner, die, wie die Pilgerväter der „Mayflower“ im 17. Jahrhundert aus Merry Old England vertrieben worden waren.

Um all dies vor uns auszubreiten, braucht der Autor allerdings den ganzen ersten Teil, denn er will klar machen, um was es eigentlich geht. Um den Hörer bei der Stange zu halten, sind sehr viele Rückblenden notwendig. Schließlich wird auch dem letzten Hörer klar, dass die Ursache der Teufelei, die den Bewohnern des gemiedenen Hauses die Lebensenergie ausgesaugt hat, der Garaus gemacht werden muss, soll dieser Schandfleck je getilgt werden. Es ist eine Frage der Unabhängigkeit der Neuen Welt.

Ein Glück, dass Elihu Whipple immer noch einen Flammenwerfer parat hat. Aber auch ein wenig Schwefelsäure könnte nicht schaden, wenn es um eine gründliche Reinigung geht…

Die Sprecher/Die Inszenierung

Die Sprecher

Im Mittelpunkt stehen natürlich die beiden Hauptfiguren, die ihre Sache sehr gut machen. Bene Gutjan als Howard ist im „Gruselkabinett“ ein Newcomer, doch er bewährt sich. Jürgen Thormann als Sprecher des Dr. Elihu Whipple ist hingegen ein Gruselkabinett-Veteran. Die Autorität als Historiker und Stammbaumforscher nimmt man ihm bedenkenlos ab. HPLs Großvater hieß übrigens Whipple Van Buren Phillips, wurde 1833 geboren, heiratete seine Frau Robie und hatte mit ihr fünf Kinder, von denen immerhin drei überlebten, ähnlich wie William Harris.

Diese Autorität erweist sich im zweiten Teil, während der Nachtwache, als ein klitzekleines Problem: Seine Autorität lässt ihn unangreifbar erscheinen. Das ist er aber mitnichten. Genau wie Howard ist Whipple nicht gefeit gegen den Angriff des geisterhaften Blutsaugers, dessen Natur wohl vampirhaft zu nennen ist. Diesem „Vampir“ sekundieren die verfluchten Seelen seiner zahlreichen Opfer, die er alle ihrerseits in Vampire verwandelte, als wären sie Konvertiten seiner blutsaugenden Kirche. Diese Konversion wird vielfach bezeugt von Sprecher*innen, die in Monologen ihre leidvolle Erfahrung bezeugen. Nun machen sie sich unter dem Bann des Vampirs über die beiden Ghostbuster her.

Geräusche

Eine schier unglaubliche Vielfalt von Geräuschen verwöhnt das Ohr des Zuhörers. Der Eindruck einer real erlebten Szene entsteht in der Regel immer. Papierrascheln von Dr. Whipples Büchern, klappernde Teetassen, knisterndes Kaminfeuer – all diese Samples setzt die Tonregie zur Genüge ein, um einer Szene eine Fülle von realistisch klingenden Geräuschen zu vermitteln.

Der ebenso erstaunliche wie bizarre Höhepunkt ist wohl die verzerrte Stimme „Howards“, der durch eine Gasmaske spricht. Die musste er sich aufsetzen, um nicht von den Dämpfen der Schwefelsäure in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Ein Einsatz des Flammenwerfers ist gegen Geister wenig ratsam. Dieses Geräusch bleibt dem Hörer – leider? – erspart.

Die Musik

Da der Plot so arm an Action ist, muss die Stimmung und ihre Zuspitzung im Finale den Hörer beeindrucken. Bei diesem Bestreben spielt die Musik eine zentrale Rolle, denn sie steuert die Emotionen des Hörers und erzeugt so mit ihren Mitteln mal eine heitere Stimmung, mal eine dramatische, mal eine traurige.

Die Musik ist meistens orchestral realisiert und erinnerte mich zuweilen an Szenen aus Peter Jacksons „Herr der Ringe“ (Musik: Howard Shore), etwa aus den Minen von Moria. Ein Hinweis darauf ist der männliche Chor, den Shore seinerzeit einsetzte, um die dramatische Szene auf der Brücke von Khazad-dûm einzuleiten.

Ebenso wichtig sind aber die zahlreichen Soundeffekte, die eine eigene Klangebene erschaffen, die noch unterschwelliger wirkt.

Das Booklet

Das Titelmotiv zeigt die Szene, in der Howard und Dr. Whipple (im Bett) erstmals das Antlitz des Vampirs bzw. bösen Geistes im Keller des gemiedenen Hauses erblicken.

Im Booklet sind die zahlreichen Titel des GRUSELKABINETTS bis Herbst 2020 verzeichnet. Die letzte Seite zählt sämtliche Mitwirkenden auf.

Ab Frühjahr 2020

156: O. Preußler: Krabat
157: Bierce: Das Auge des Panthers
158: A. Machen: Das innerste Licht
159: Hauff: Das kalte Herz
160: F.M. Crawford: Denn das Blut ist das Leben
161: McGraup: Heimflug

Ab Herbst 2020

162: Lovecraft: Das gemiedene Haus
163: H. H. Ewers: Der letzte Wille der Stanislawa d’Asp
164: Robert E. Howard: Die Toten vergeben nichts
165: E. Gaskell: Das alte Kindermädchen erzählt
166: Bisclavret
167: E. und H. Heron: Flaxman Low – Der Fall Hammersmith

Unterm Strich

„Das gemiedene Haus“ von 1928 ist eine ebenso gute Erzählung wie viele der auf mittelguter Ebene angesiedelten HPL-Stories. Sie enthält eine recht komplexe Geschichte der Kolonisation des nordamerikanischen Kontinents bis hin zu den Bewohnern des 20. Jahrhunderts. Schon in Howards Jugend hat er Kontakt mit dem gemiedenen Haus gehabt und nun, anno 1919, kehrt er dorthin zurück, um das Übel, das hier haust, zu beseitigen. Nur der aufmerksame Hörer wird bemerken, dass das Jahr 1919 seinerseits bereits zwei Jahre in der Vergangenheit des Erzählzeitpunkts liegt.

Die Ursache des Übels ist ein Rätsel. Daher müssen zahlreiche Zeugen aufgeboten werden, um den Kern des Rätsels, wie bei einer Ermittlung, einzukreisen. Es handelt sich um Männern und Frauen, die in dem verfluchten Haus lebten. Unterlegt mit Hall, klagen ihre Stimmen das Leid – oder sie verfluchen das haus und sein grundlegendes Übel. Das Haus wird zur Metapher für die Neue Welt, insbesondere Neu-England. Es wird klar, dass sie keine Zukunft haben wird, wenn nicht die Wurzel des Bösen, die weit in die (europäische) Vergangenheit reicht, ausgerissen und der Boden gereinigt wird. Der Kampf der Geisterjäger ist also auch Kampf um Unabhängigkeit, Gesundheit und die Zukunft der Kinder. Der Epilog zeichnet genau ein solches heiteres Bild. Doch der Preis dafür ist hoch…

Das Hörspiel

Die Inszenierung lässt sich klar in zwei Teile sowie einen prolog und einen Epilog einteilen. Das macht sie recht übersichtlich. Im ersten Teil berichtet Dr. Whipple von der Geschichte des gemiedenen hauses und seinem mysteriösen Problembewohner. Im zweiten teil gegen die Ghostbuster ans Werk, geraten aber selbst in Lebensgefahr. Bis zuletzt bleibt die Spannung erhalten, ob sie diese Konfrontation überleben können.

Die professionelle Inszenierung, die filmreife Musik und bekannte Stimmen von Synchronsprechern und Theaterschauspielern einsetzt, bietet dem Hörer ein akustisches Kinoerlebnis, das man sich mehrmals anhören sollte, um auch die Feinheiten mitzubekommen. Dazu gehört beispielsweise das Sprechen durch eine Gasmaske. Immerhin spielt die Handlung vor allem ein Jahr nach dem Ersten Weltkrieg, in dem Giftgas erstmals weitverbreitet eingesetzt wurde.

Die Sprecherriege für diese neue Reihe ist höchst kompetent und renommiert zu nennen, handelt es sich doch um die deutschen Stimmen von Hollywoodstars. Auch jungen Menschen, die sich einfach nur für spannende Audiokost interessieren, die gut gemacht ist, lässt sich das Hörspiel empfehlen. Es ist leicht verständlich, wirkungsvoll inszeniert, und die Stimmen der Hollywoodstars Clooney und Malkovich vermitteln das richtige Kino-Feeling.

Hinweis

Der Italiener Ivan Zuccon verarbeitete die Geschichte zusammen mit „Die Musik des Erich Zann“ (1922) und „The Dreams in the Witch House“ (1932) zu einem Horrorfilm im Jahr 2003. Die DVD wurde von mir besprochen, aber die Rezension ist seit der Schließung von Ciao.de leider nicht mehr zugänglich.

CD: über 70 Minuten
Originaltitel: The Shunned House, 1928;
Aus dem Englischen von unbekannt.
ISBN-13: 9783785781876

www.titania-medien.de

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