Karl Heinrich Ulrichs – Manor (Gruselkabinett 129)

Schwule Liebe & nordischer Vampirismus

Auf einer der windumtosten Färöer-Inseln fassen Har und Manor zur heidnischen Zeit eine tiefe Zuneigung zueinander, die auch über den Tod hinaus noch fortbestehen wird… (Verlagsinfo)

Der Autor

Karl Heinrich Ulrichs (* 28. August 1825 in Westerfeld, heute Stadtteil Kirchdorf in Aurich (Ostfriesland); † 14. Juli 1895 in L’Aquila, Italien) war ein deutscher Jurist, Journalist, Verleger, Schriftsteller, Pionier der Sexualwissenschaft und einer der ersten bekannten Vorkämpfer für die rechtliche Gleichstellung von Homosexuellen. (Quelle: Wikipedia)

Mehr zum Autor und seiner Philosophie des Uranismus findet sich hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Heinrich_Ulrichs. Der Gesamttext von „Manor“ ist im Projekt Gutenberg zu finden: https://www.gutenberg.org/ebooks/35605.

Die Sprecher/Die Inszenierung

Peter Weis: Erzähler
Tom Raczko: Har
Louis Friedemann Thiele: Manor
Monica Bielenstein: Lära
Thomas Balou Martin: Vater
Helmut Winkelmann: Ein Wagöer
Rolf Berg: Axtmann
Timmo Niesner: Fischer
Dagmar von Kurmin: Weise Frau
Horst Naumann: Dorfältester

Regie führte Marc Gruppe, der auch das Drehbuch verfasste, und das Hörspiel mit Stephan Bosenius realisierte. Die Aufnahmen fand in den Titania Studios und den Planet Earth Studios statt. Die Illustration stammt von Ertugrul Edirne.

Handlung

Die Färöer-Inseln liegt gleich weit von Schottland, Island und Norwegen entfernt. Es sind einsame, sturmumtoste Inseln, 34 Eilande, über denen vor allem Möwen segeln und auf denen zur Zeit des Geschehens der alte nordische Glaube noch nicht vergessen ist. Nahe dem Sund zwischen den Inseln Strömö und Wagö lebt ein Fischer mit seiner Frau Lära und seinem halbwüchsigen Sohn Har. In einem Sturm zerschellt sein Boot auf den Klippen, und nur der Sohn kann von einem Mann gerettet werden. Die Leiche des Fischers wird Tage später an Land gespült.

Freundschaft

Hars Retter heißt Manor, ist drei Jahre älter und stammt von Wagö. Nachdem er Har dessen Mutter zurückgebracht hat, kehrt er ab und zu zurück, um nach har zu sehen, und im Sommer unternehmen sie vieles gemeinsam und werden so enge Freunde. Manor plant, auf einem Walfänger anzuheuern, und Har würde es ihm am liebsten gleichtun. Aber weil sich seine nunmehr alleinstehende Mutter um ihn sorgt, bleibt Har zurück, während Manor mit dem nächsten Walfänger in die Arktis fährt.

Rückkehr

Zwei Monate später kehrt das dänische Segelschiff zurück, doch vor Hars entsetzten Augen zerschellt es auf den scharfen Riffen vor den Inseln. Unter den geborgenen Leichen ist auch die des geliebten Freundes, und Har wirft sich untröstlich auf den verlorenen Gefährten. Männer bitten ihn, Manor zu identifizieren, was er tut, dann begraben sie die Leiche in den Dünen, wie es der Brauch vorsieht. Zum Entsetzen seiner Mutter verflucht Har die Götter.

In der nächsten Nacht kehrt Manor, wie er es zu tun pflegte, an Hars Fenster zurück und klopft an die Glasscheibe. Har lässt ihn bereitwillig ein, obwohl er etwas verwundert ist. Die Wonne des Kusses ist gemischt mit leisem Grauen. In der folgenden Nacht kehrt Manor wieder und beginnt an Hars Brust Blut zu saugen. Als er geht, lässt er Har geschwächt und bleich zurück. So findet ihn seine Mutter Lära.

Gegenmaßnahmen

Besorgt wendet sich Lära an die weise Frau von Strömö und diese wirft die Runenstäbe. „Deinen Jungen besucht ein Toter! Er schwebt in Lebensgefahr!“ Lära, die reichlich schockiert ist, erhält die Aufgabe, den Namen des nächtlichen Besuchers herauszufinden. Am nächsten Morgen ist Hars Nachthemd blutbefleckt, doch bereitwillig verrät er den Namen: „Manor.“ Er sehnt sich nach der ewigen Wiedervereinigung mit dem geliebten Freund. Lära graust es, aber sie wendet sie sich diesmal an den Dorfältesten von Strömö. Dieser redet mit der weisen Frau, und zusammen rudern sie nach Wagö.

Dort ist man allgemein bestürzt über die Nachricht von Manors Treiben. Der Dorfälteste von Wagö befiehlt, Manors Leiche auszugraben und zu pfählen. Zu Hars Entsetzen geschieht genau dies, doch die Ausgräber staunen nicht schlecht, als sie Manors Gesicht erblicken: eine frischer aussehende Leiche haben sie noch nie gesehen.

Um Mitternacht klopft es erneut an Hars Fenster…

Mein Eindruck

Das Standardmotiv eines heterosexuellen Liebespaars, dessen romantische Sehnsucht über den Tod hinausreicht, ist offenbar bis zum Gehtnichtmehr ausgelutscht worden. Die ersten 20 bis 30 Titel des Gruselkabinetts sind voll mit solchen Geschichten, etwa „Die Totenbraut“ oder „Das Amulett der Mumie“. Alle diese Geschichten stammen vor allem aus dem 18. Und 19. Jahrhundert, als die Liebe stärker sein musste als moralische, gesellschaftliche oder wirtschaftliche Zwänge, um beim Publikum eine Reaktion des Widerspruchs oder der Zustimmung auszulösen.

Im 20. Jahrhundert sind solche Geschichten selten geworden, aber nicht etwa, weil es weniger moralische oder soziale Tabus gäbe – nein, es die Macht der Liebe, der man deren Überwindung nicht mehr zutraut. Auch der deutsche Autor Ulrichs, der im Januar 1914 diese Erzählung drucken und in 200 Exemplaren verbreiten ließ, verlegt die Beziehung der beiden jungen Männer wohlweislich in eine entfernte Vergangenheit, als noch Segelschiffe auf Walfang ausfuhren, und als auf den fernen Färöer-Inseln (angeblich) heidnische Bräuche zu finden waren. Dieser Abstand in zeitlicher wie räumlicher Dimension wiegt den Hörer/Leser anfangs in Sicherheit.

Doch der junge und sympathische Har bleibt im Mittelpunkt der Geschichte, so dass ihm die Sympathie des Hörers gehört. Ihn zum Opfer eines liebevollen Vampirs werden zu sehen, weckt zunehmendes Mitgefühl. Das ist wiederum die Vorbedingung für wachsendes Grauen, wenn der Vampir trotz nochmaliger Beerdigung und nochmaliger Pfählung nicht von seinem jungen Opfer ablässt. Die Mutter, die weise Frau und die Ältesten, also die Vertreter der etablierten Gesellschaft, werden mit wachsender Bestürzung Zeugen dieser verhängnisvollen Entwicklung – ganz im Gegensatz zu Har, der die Wiedervereinigung mit dem Geliebten herbeisehnt. Der Tabubruch durch Liebe erfolgt nun auf einer anderen Ebene.

Ein Rätsel gibt hingegen der heidnische Hintergrund auf. Da es an zeitlicher Verortung mangelt, ist es nicht sicher, ob die Handlung vor der Christianisierung der Inseln spielt. Vermutlich haben die Fischer auch schon vor der Missionierung um das Jahr 1000 herum Wale gejagt, und dänische Walfänger gab es sicher auch.

Dennoch wird kein einziges Mal eine der sattsam bekannten nordischen Gottheiten angerufen, etwa Thor, der Sturmgott, oder Odin, der Allwissende. Zwar verflucht Har die Götter im allgemeinen, doch keinen im Besonderen. Einen Priester oder wenigstens Mönch gibt es auch nicht, aber immerhin wird ein Runen-Orakel geworfen.

Dieser Mangel an religiöser Verortung, die wahrscheinlich auf den Autor zurückgeht, der hier seine eigene Quasi-Religion des Uranismus (s.o.) propagiert, wirkt im Zeitalter von TV-Serien wie „Vikings“ und „Das letzte Königreich“ wie ein Schwachpunkt. Andererseits entzieht sich die Handlung und ihre Aussage der Festlegung und dadurch in den Bereich der Verallgemeinerung, der Überzeitlichkeit.

Die Sprecher/Die Inszenierung

Im Mittelpunkt stehen die Sprecher der beiden Hauptfiguren Manor und Har, also Thiele und Raczko. Sie zeigen sich besonders einfühlsam, wenn es darum geht, ein sensibles Thema wie Homosexualität darzustellen. Ihre Darstellung reicht von freundschaftlichem Geplänkel – „Min Jung!“ – bis hin zu lustvollem Seufzen und Keuchen. Die Liebesszenen werden also nicht aus falsch verstandener Scham ausgeblendet. Das wäre ja auch nicht nachzuvollziehen, denn die sexuelle Natur ihrer Beziehung muss deutlich werden, um die ständige Wiederkehr von Manor zu begründen. Die Dialoge enden mit einem leisen Lachen.

Alle anderen Rollen gehören Nebenfiguren, die dazu dienen, dass Har und Manor zunächst zusammenfinden (Vater und Mutter), um dann nach Manors Tod wieder getrennt gehalten zu werden. Ironischerweise klappt dies nicht so recht, was für Har verhängnisvoll endet. Die Sprecher der alten Generation – die mittlere Generation ist ja auf Fisch- oder Walfang – ist mit charaktervollen Stimmen gesegnet, von denen sie reichlich Gebrauch machen. Typisch ist, dass außer Lära kein Angehöriger dieser Generation einen Namen trägt: Sie erfüllen lediglich ihre jeweilige Funktion.

Geräusche

Das Rauschen von Brandung und Wellen wird begleitet vom permanenten Kreischen der Möwen. Draußen wie auch im Haus heult und pfeift der Wind, als wäre er ein lebendiges Wesen. Er formt alles, was sich ihm in den Weg stellen will: Wellen, Schiffe, Häuser, Dünengräber… Nur im Sommer gibt es eine Unterbrechung dieses stürmischen Einerleis. Har und Manor plantschen nacktbadend im beruhigten Wasser des Sunds, die Robben bellen, und abends knistert das Feuer heimelig im Kamin.

Aber es gibt auch eine ganz andere Kategorie von Geräuschen als die der Natur. Da ist ein nächtliches Klopfen an der Fensterscheibe, und wenn es Mitternacht ist, schlägt nur eine kleine Glocke, doch kein Käuzchen ruft. Vielmehr fallen Runenstäbe mit unheilvollem Klacken, kalte Türriegel klappern, und der Pfahl fährt knirschend in eine Leichenbrust.

Musik

Das Hörspiel überrascht den Hörer mit einem jazzig angehauchten Piano-Intro, das eine heitere Stimmung erzeugt. Doch diese Stimmung kontrastiert sofort mit der packenden Sturmszene, in der das Fischerboot von Hars Vater scheitert. Gleich danach kehrt die Stimmung sofort wieder zurück zum vorherigen Zustand, als Har von Manor und seiner Mutter betreut wird.

Immer wieder oszilliert die Hintergrundmusik zwischen heiterem Idyll, wenn die Freundschaft der Jungs wächst, und dramatischen Akkorden, wenn genau diese Freundschaft über den Tod hinaus nicht Trost und Liebe bringt, sondern Schwäche und schließlich Tod. Immer wieder erklingt ein mystisches Flöten-Solo, das eine unheimliche Stimmung erzeugt, die vom Zitat eines klassischen Film-Musikmotivs (dessen Herkunft mir unbekannt ist) verstärkt wird. Diese mystische Stimmung wird zunehmend düster, je drängender der Ruf des Totenreichs nach Har wird.

Musik, Geräusche und Stimmen wurde so fein aufeinander abgestimmt, dass sie zu einer Einheit verschmelzen. Dabei stehen die Dialoge natürlich immer im Vordergrund, damit der Hörer jede Silbe genau hören kann. An keiner Stelle wird der Dialog irgendwie verdeckt.

Das Booklet

…enthält im Innenteil lediglich Werbung für das Programm von Titania Medien: für das Gruselkabinett und die Sherlock-Holmes-Reihe. Auf der letzten Seite finden sich die Informationen, die ich oben aufgeführt habe, also über die Sprecher und die Macher. Die Titelillustration von Ertugrul Edirne fand ich etwas verwirrend, denn es entstand bei mir der Eindruck, als handle es sich um eine Spiegelung. Man muss schon genau hinsehen, um zu bemerken, dass die beiden Männer Haar von unterschiedlicher Farbe aufweisen. Ein blonder Schopf wäre nicht nur ein stärkerer Kontrast gewesen, sondern hätte auch viel besser zur Bevölkerung der Färöer gepasst – die meisten Skandinavier tragen ein sehr helles Blond.

Ab Herbst 2017

Nr. 126: Lovecraft: Kalte Luft
Nr. 127: Poe: Der Fall Valdemar
Nr. 128: Charles Dickens: Der Streckenwärter
Nr. 129: Ulrichs: Manor
Nr. 130: Carolyn Wells: Der Wiedergänger
Nr. 131: Flagg: Die Köpfe von Apex

Ab Frühjahr 2018

Nr. 132/133: Sweeney Todd 1+2
Nr. 134: Willy Seidel: Das älteste Ding der Welt
Nr. 135: Amyas Northcote: Brickett Bottom
Nr. 136: H.G. Wells: Das Königreich der Ameisen
Nr. 137: Robert E. Howard: Aus finsterer Tiefe

Unterm Strich

Das ausgelutschte Thema der über den Tod hinausreichenden Liebe zweier heterosexueller Liebender wird hier um die Variante gleichgeschlechtlicher Liebe variiert und um das Motiv des Vampirismus bereichert. Homosexualität taucht hier meines Wissens das erste Mal im Gruselkabinett auf, deshalb verdient das Hörspiel besondere Beachtung. Vampirismus ist natürlich von Anfang ein Thema gewesen, als metaphorischer Akt der Hingabe und der Machtausübung („Dracula“ und Konsorten). Die Regie hat die Szenen der gleichgeschlechtlichen Liebe mitfühlend und emotional gestaltet.

Der Schauplatz ist von besonderem Reiz. Die Färöer sind ein einsamer Ort, wo jeder jeden kennt und jeder auf die Hilfe des anderen angewiesen ist. Hier schlagen die Naturgewalten erbarmungslos zu, und das Leben jederzeit vom Tod umgeben. Für Har ist es daher ein seltenes Glück, einen Liebenden wie Manor gefunden zu haben. Als er diesen verliert, sehnt er sich nach Wiedervereinigung. Die Wiederkehr des Geliebten in Vampirgestalt bietet nicht Har, sondern nur jenen Schrecken, die die Endgültigkeit des Todes durchsetzen wollen.

An dieser Stelle kommt der sogenannte „heidnische Glaube“ ins Spiel. Die vorchristlichen Skandinavier kannten sehr wohl ein umfangreiches Pantheon, in dem jeder Gott seinen eigenen Zuständigkeitsbereich hatte – in der TV-Serie „Vikings“ lässt sich dies genau verfolgen. Leider verraten deren Autoren nicht, wie es die alten Nordmänner mit Vampiren und Wiedergängern hielten. Dazu muss man den US-amerikanischen Fantasy-Autor Poul Anderson lesen. In mehreren Erzählungen wie etwa „Hauks Saga“ (enthalten im Sammelband „Das Tor der fliegenden Messer“, 1981 bei Heyne) treten untote Wiedergänger und sogenannte Draugar auf. Sich mit ihnen anzulegen, erfordert Mut und äußerste Entschlossenheit, denn nicht selten sind sie ehemalige Verwandte…

Durch Weglassen aller Inhalte der Mythologie kann sich die Geschichte völlig auf den Vampir, seinen Geliebten und seine Bekämpfung konzentrieren. Dass eine Pfählung mal schiefgehen kann, erfuhr ich hier zum ersten Mal. Dieses Detail verleiht dem „Ghostbusting“ auf Wagö eine ironisch-hurmorvolle Note.

Das Hörspiel

Die professionelle Inszenierung, die filmreife Musik und bekannte Stimmen von Synchronsprechern und Theaterschauspielern einsetzt, bietet dem Hörer ein akustisches Kinoerlebnis, das man sich mehrmals anhören sollte, um auch die Feinheiten mitzubekommen. Stimmen wie Tom Raczko, Rolf Berg und Monica Bielenstein (die deutsche Stimme u.a. von Grace Kelly) sind deutschen Filmfreunden von zahlreichen amerikanischen und britischen Darstellern bekannt. Auch jungen Menschen, die sich einfach nur für gruselige Audiokost interessieren, die gut gemacht ist, lässt sich das Hörspiel empfehlen. Es ist leicht verständlich, wirkungsvoll inszeniert, und die Stimmen der Hollywoodstars vermitteln das richtige Kino-Feeling. Für Sammler ist die Reihe inzwischen ein Leckerbissen.

Audio-CD, ca. 47 Min.
Info: Manor, 1914
www.titania-medien.de

Der Autor vergibt: (4.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (6 Stimmen, Durchschnitt: 3,17 von 5)