Georges Bataille – Das obszöne Werk. Erzählungen

Simone setzt sich in den Teller Milch

Erotismus ist nicht das gleiche wie Sexualität, sondern ihre Transzendierung. Die erotische Erfahrung ist für den französischen Schriftsteller Georges Bataille (1897-1962) eine zweifache: die des Tabus und die seiner Überschreitung. Erst die Überschreitung des Tabus ermöglicht den Figuren auch die Transzendierung des Ich. Die Ekstase, das Außer-sich-sein, das die mittelalterliche Mystik in religiöser Versenkung fand, suchen sie im körperlichen Tabubruch und in körperlicher Selbstentäußerung. Dadurch wird Gott überflüssig, und dies wiederum hat zahlreiche philosophische Konsequenzen: Wenn Gott tot ist, dann ist das Universum leer, und die Sterne sind nur kalte Schlackehaufen, die der Entropie unterworfen sind. Letzten Endes ist der Erotismus also eine recht ungemütliche Angelegenheit.

Das Hörbuch umfasst folgende Texte:

1) Die Geschichte des Auges (1928, 1940, 1941, postum 1967; die vorgelesene Textfassung folgt der neuen Version von 1940, nicht dem Original von 1928)
2) Madame Edwarda (1941, 1945, 1956)
3) Meine Mutter (postum, 1966)
4) Der Tote (ca. 1942, erschienen postum 1967)
5) Der Kleine (1943, postum 1963)

Der Autor

Georges Bataille wurde 1897 als Sohn reicher Bauern in der Auvergne geboren. 1917, nachdem er den Eintritt ins Priesterseminar erwogen hatte, entschied er sich für eine Ausbildung zum Archivar oder Historiker. Vor Antritt seines Dienstes an der Nationalbibliotek verbrachte er Zeit in Madrid, wo er am 7. Mai 1922 den Tod des Toreros Granero, den er in „Geschichte des Auges“ (1928) beschreibt, miterlebte. Im Kreis der Surrealisten befreundete er sich mit Michel Leiris und André Masson.

Anfang der 1930er Jahre engagierte sich Bataille auf der Linken und schloss sich 1935/36 der linksintellektuellen Gruppe „Contre Attaque“ an. 1934 lernte er seine „Laura“ Colette Peignot kennen, die als revolutionäre Antistalinistin aus Russland nach Paris gekommen war. Als die Geliebte 1938 an Lungenkrebs starb, hielt Bataille den Priester mit dem Revolver von ihr fern. Nach ihrem Tode hat er Texte von „Laura“ herausgegeben.

1936 gründete Bataille zusammen mit Roger Caillois, Michel Leiris und Jules Monnerot die Société Secrète. 1941 erschien „Madame Edwarda“, 1942 musste Bataille den Bibliotheksdienst verlassen. Während eines längeren Aufenthalts in der Normandie im Dorf Tilly hat er wahrscheinlich den Text „Der Tote“ geschrieben. Seit dieser Zeit hat er kontinuierlich publiziert, und 1946 gründete er die Monatsschrift „Critique“, die noch heute fortgeführt wird. Anfang 1962 zog Bataille wieder nach Paris, wo er am 9. Juli starb.

Die Sprecher

Heikko Deutschmann war nach seinem Schauspielstudium Ensemblemitglied an der Berliner Schaubühne, am Hamburger Thalia-Theater, im Schauspiel Köln und Schauspielhaus Zürich. Mittlerweile ist er in zahlreichen Film- und Fernsehrollen zu sehen gewesen, so etwa „Der Laden“, „Operation Rubikon“, „Der Aufstand“ oder „Die Affäre Kaminski“.

Peter Franke wurde 1941 in Breslau geboren und war in seiner über 40-jährigen Karriere an vielen großen Bühnen engagiert. Seit 1994 arbeitet er als freier Schauspieler und Sänger. Er spielte in zahlreichen Filmen und TV-Produktionen mit, u. a. in Joseph Vilsmaiers „Schlafes Bruder“, in „Zugvögel … einmal nach Inari“ von Peter Lichtefeld und in „Das Wunder von Bern“ von Sönke Wortmann.

Eva Mattes, Jahrgang 1954, steht seit 1965 vor der Kamera, seit 30 Jahren auf der Bühne. Vor allem die enge Zusammenarbeit mit Rainer Werner Fassbinder prägte ihre Karriere. Für ihre Leistungen wurde sie mit dem Filmband in Gold, dem Bayerischen Filmpreis sowie der Goldenen Palme von Cannes ausgezeichnet. Ihre erste Filmrolle spielte sie als Zehnjährige in „Dr. med. Hiob Prätorius“, 1970 folgte die erste Hauptrolle im Antikriegsfilm „o.k.“ Weitere wichtige Filme sind u. a. „Woyzeck“ (1979, W. Herzog), „Céleste“ (1981), „Das Versprechen“ (1994) und „Schrei der Liebe“ (1997). Seit 2001 spielt sie die Tatort-Kommissarin Klara Blum.

Walter Kreye ist dem Hörer nicht nur durch zahlreiche Film- und TV-Rollen bekannt. Seine Stimme war in den verschiedensten Hörspiel- und Hörbuchproduktionen zu hören. Für |Hörbuch Hamburg| hat er beispielsweise „Der Professor“ von Amélie Nothomb gesprochen.

Handlung von „Die Geschichte des Auges“

Das ländliche Südfrankreich, Anfang der 20er Jahre (genauer: 1922). Der Erzähler ist ein junger Mann, der auf dem Gut seiner Eltern wohnt. Zusammen mit der wagemutigen, „lüsternen“ Simone erlebt er recht merkwürdige Liebesabenteuer – das, was man landläufig „obszön“ nennt. Ähnlich wie bei Pubertierenden ist aber das sexuelle Begehren der beiden noch nicht so sehr auf die körperliche Vereinigung gerichtet, sondern auf das Ausleben der verschiedensten körperlichen Erregbarkeiten. Viele davon verletzen Tabus, und stets ist Simone die treibende Kraft – sie verachtet ihre wehrlose Mutter und ist von hemmungsloser Emotionalität.

Es beginnt ganz harmlos damit, dass sich Simone mit nacktem Unterkörper in einen Teller Milch setzt. Weitere Spiele mit den Flüssigkeiten Urin und Sperma folgen. Auch Tränen fließen reichlich. Diese Dinge konstituieren die erste Kette von Dingsymbolen – Barthes nennt sie Metaphernobjekte oder, kürzer: Metaphern. Diese Metaphern durchlaufen in ihrer Kette Formveränderungen, was noch sehr interessant wird.

Da diese Spiele nicht nur im Haus stattfinden, sondern auch in der freien Natur ringsum, trägt der Kitzel des Entdecktwerdens zu höherer Erregung bei. Interessant wird die Beziehung, als die beiden von der jüngeren Marcelle überrascht werden. Prompt wird auch sie in die Liebesspiele einbezogen, bis es dann eines Abends zu einen Katastrophe kommt. Bei einem Liebesspiel mit anderen Paaren fließt auf einmal auch (jungfräuliches?) Blut, und das bringt Marcelle zum Ausrasten. Sie sperrt sich in einen Schrank ein und entleert dort ihre Blase. Später, als die Erwachsenen auftauchen, finden sie Marcelle in einem verwirrten Geisteszustand wieder. Sie wird in ein 20 Kilometer entferntes Sanatorium eingewiesen.

Das hindert Simone und ihren Lover keineswegs daran, Wochen später mitten in der Nacht dorthin zu radeln und zu sehen, ob sie nicht Marcelle befreien können. Es ist eine stürmische Gewitternacht mit nur wenig Mondschein – ein gespenstische Szene aus frühen romantischen Geistergeschichten, in der das schlossartige Sanatorium – die Fenster sind vergittert – als eine Art „Burg von Otranto“ (von Hugh Walpole, 1757) auftritt. Bei einem zweiten Versuch klappt es dann, die arme Marcelle zu befreien. Doch leider stellt sich heraus, dass sie den Erzähler für einen „cardinal“ hält, einen Pfarrer, der neben der blutigen Guillotine (auch die Guillotine hat ein „Auge“) als Trostspender zu fungieren hatte. Sie fürchtet den „cardinal“, und schließlich erhängt sie sich.

Weitere symbolträchtige Szenen des Schneidens werden geboten, die wichtigste betrifft Augäpfel und gekochte Eier. Zwischen diesen beiden Wörtern – Auge und Ei – besteht im Französischen hohe phonetische Ähnlichkeit, daher die Assoziation. Weiße, runde Objekte konstituieren die zweite Metaphernkette: das Auge läuft vor Tränen über, das Ei läuft aus, ein Auge wird ausgestochen usw. – hier tauscht sich die erste mit der zweiten Metaphernkette aus. Es gibt zahlreiche Kombinationen, von der ersten solchen Konvergenz – dem Teller Milch – bis zur letzten Szene des Werks: dem Auge in Simones Schoß.

Die biografische Notiz

Sie ist nicht von der Erzählung zu trennen. Und das macht es den Interpretatoren so schwer, eine Bedeutung des Werkes zu konstruieren, die über es hinausweist. Denn Bataille findet zu seiner eigenen Verblüffung zahlreiche Parallelen zwischen den phantasierten Szenen und seinem eigenen Leben. In seiner Kindheit (bis ca. 1914/16) hatten er und seine Mutter den blinden und syphilitischen Vater zu pflegen, der dann später – ebenso wie die Mutter – dem Wahnsinn verfiel. Bataille erinnert sich an die weiß hervorquellenden Augäpfel des Blinden, der sich quälte, in ein Gefäß neben dem Bett zu urinieren. Diese zwei Dingsymbole sind also schon früh angelegt worden. Marcelle hat ihre Vorlage in Batailles Mutter, die sich später wie Marcelle erhängte (aber reanimiert werden konnte).

Mein Eindruck

Georges Bataille veröffentlichte seinen Roman „Histoire de l’Oeil“ unter dem Pseudonym „Lord Auch“ 1928. Es erlebte drei weitere Auflagen bis 1967, doch diese Ausgaben weichen von der Urform erheblich ab.

Eine erotische Odyssee führt den Erzähler und Simone mit einem reichen Engländer im Schlepp in die Stierkampfarena von Madrid (mehr Augen, mehr Blut, Urin und „Eier“) sowie in die Kirche von Don Juan in Sevilla: Augen, Urin, Blut – das volle Programm. Dies ist der konsequente Höhepunkt des poetischen Verfahrens und seines Ergebnisses, des Buches.

Das Manuskript bricht bei der Überfahrt des Trios von Gibraltar nach Afrika ab. Notizen für die Fortsetzung finden sich in der 4. Auflage von 1967 und werden im Hörbuch vorgelesen. Simone krepiert mit 35 Jahren in einem marokkanischen Lager.

Doch was will uns der Dichter sagen? Simone ist eine würdige Nachfolgerin von de Sades Heldenfigur Juliette. Die verachtungsvolle Herausforderung aller sittlichen Tabus zeichnet ihre Handlungen aus. Allerdings ist ihr ihre Haltung im Gegensatz zu Juliettes nicht selbst bewusst. Während Juliette Freiheit und Macht/Herrschaft erstrebt und dafür Tabus en masse übertritt, agiert Simone lediglich, wie es ihrer Natur entspricht. Sie hat kein Programm, sie ist allenfalls das Programm des Autors, der mit ihr alle Möglichkeiten durchdekliniert, die sich aus der Kombination der Begriffe Auge – Ei – Hoden – Samen – Urin ergeben.

Zerbrochene Eier, zerbrochene Augen – die symbolische Überhöhung durch Batailles poetische Methode nimmt kontinuierlich zu, bis sich der Leser an Bunuels surrealistischen Film „Le chien andalou“ (Der andalusische Hund, 1929) erinnert fühlt, in dem offenbar das Auge einer schönen Frau zerschnitten wird und ein Zebra im Wohnzimmer auftaucht. Und in der Tat bestehen enge Verbindungen zwischen Bataille und dem Surrealismus – siehe die Autorennotiz. Sie treten offen hervor, als die zwei Metaphernketten nicht nur Begriffe miteinander austauschen, sondern zudem auch noch die Konnotationen der Elemente verändern: Simones Zunge trinkt beim Lecken das Auge des Erzählers und dergleichen. Diese Stilfigur bzw. Technik nennt Roland Barthes „Metonymie“.

Aber obwohl Simone eine dominante und für den Erzähler beeindruckende Figur ist, so hat sie doch wenig Persönlichkeit, genau wie Marcelle oder der Erzähler. Sie ist eine Theaterfigur – wie fast alle Figuren in der pornografischen Literatur, also Rollenträger. Ihre Rolle ist der Katalysator des Tabubrechens. Ihre Aktion ist die obszöne Tat. Ihre Attribute sind die Metaphernketten.

Aber was soll das, fragt man sich mit Recht. Es ist die Aufgabe dieser Katalysatorfigur, so meine These, die ganze Welt mit Bedeutung aufzuladen, sie durch die obszöne Tat zu erotisieren. Simone tut dies schon in der ersten Szene: Sie setzt sich nackt in einen Teller Milch. (Das ist ein sehr blasser Abklatsch dessen, was noch folgen soll, etwa in der Arena oder der Madrider Kirche.) Durch die Berührung mit ihrem Genital erhält die Milch eine andere Konnotation. Und diese Tat zeigt, dass es Millionen Möglichkeiten gibt, etwas Erotisches mit der eigenen körperlichen Ausstattung anzufangen.

Zu Simones späteren „Heldentaten“ gehören das Pissen auf eine Leiche und das Liebemachen neben dieser. Das ist schon recht obszön, nicht wahr? Aber es wird verständlich im Lichte des Gesagten. Simones Tat überschreitet den Tod, indem sie ihn anders konnotiert, mit anderer Bedeutung auflädt. Das ist kein Leugnen des Todes, sondern eine Bekräftigung des Lebens. Simone ist ein sehr vitales Wesen, fast schon eine Urkraft wie Wedekinds Lulu. Sie ist das, was O in Réages Buch gerne sein möchte: ein entpersönlichtes, völlig einem anderen (höheren?) Willen hingegebenes Wesen. Doch Simone veräußert sich nicht wie O, sondern bleibt ganz bei sich, indem sie orgiastisch das Leben in obszönen Akten auslebt. Sie verschwendet sich.

Das Tun solcher Frauen ist – um mit Bataille zu sprechen – tragisch, denn sie sondern sich von den gesellschaftlichen Werten ab, und diese Existenz hat keinen Endzweck wie etwa ein Haus zu kaufen und eine Familie zu gründen, sondern muss sich immer weiter perpetuieren, damit das Wesen dieses Täters bekräftigt bleibt. Solch ein Leben ist ohne endgültige Befriedigung und in der westlichen Gesellschaft zum Scheitern verurteilt. (Simone krepiert in einem marokkanischen Lager.) Aber es ist grandios, solange seine Verschwendung andauert.

Tabu und Überschreitung

Den Begriff der Verschwendung hat Bataille dem französischen Soziologen Marcel Mauss (1872-1950) entliehen, der 1923/24 zeigte, wie eine Ökonomie nicht nur auf Sparsamkeit und Berechnung, sondern auch auf Verschwendung beruhen kann. Was, wenn man diese Gedankengänge auf das Leben selbst, auf die Erotik und die Sexualität übertragen würde? Bataille wagt zu sagen, der Mensch erlange erst im Verschwenden des eigenen Lebens die Unabhängigkeit oder die „Souveränität“: die umfassendste Möglichkeit des Menschen. Diese ehemals sakrale Verschwendungswelt stellt Bataille dem Utilitarismus der Wirtschaft gegenüber: Eros versus Mammon. Notwendigerweise kommt es zu Mammon-Tabus und Tabu-Überschreitungen durch den Eros: „Das Verbot wurde erdacht, um es zu überschreiten.“ (Marcel Mauss) Die Spannung, die die Begriffe Tabu und Tabuverletzung trennt, wird bei Bataille, so die Übersetzerin Marion Luckow, zur Voraussetzung der erotischen Ekstase, der Transgression, der Entgrenzung des Ich. (zitiert nach dem Booklet)

Handlung von „Madame Edwarda“

Als er der Erzähler sich unglücklich und verlassen fühlt, will er niederträchtig sein und begibt sich in ein Pariser Bordell, wo er Madame Edwarda kennen lernt. Die junge Prostituierte ist ganz schön durchgeknallt und kennt keinerlei Schamgefühl. Als es einem Mann zu viel wird, sollen sie „nach oben“ gehen. Nach erledigtem Vergnügen zieht Edwarda ein schwarzes Kleid mit Maske an und begibt sich mit ihrem Freier auf die Straße. Dort rennt sie plötzlich davon Richtung Porte St. Denis, um dahinter zu verschwinden.

Als er sie wiederfindet, steht sie in den Schatten einer Caféterrasse, geistig umnachtet, gewissermaßen schlafwandelnd. Sie krümmt sich plötzlich, schreit ihn als „widerlichen Priester“ an, bevor sie zusammenbricht und sich zuckend entblößt. Den Erzähler ekelt es vor so viel Heil-losig-keit und er spürt einen innerlichen Fall in ein schwarzes Jenseits, an dessen Ende er seine Hinrichtung erwartet.

Edwardas Krämpfe ebben ab, sie kommt wieder zu sich, so dass er sie wegbringen kann. Im Taxi sagt sie, sie wolle zu den Markthallen, weiß der Himmel, warum. Es ist doch schon Nacht. Doch vor dem Ziel lässt sie anhalten und präsentiert sich dem Fahrer an seiner Tür wie ein geiles Tier. Das eindeutige Angebot wird dankend angenommen, und der Erzähler muss zusehen, wie es die beiden auf dem Rücksitz des Taxis neben ihm treiben. Der Blick aus Edwardas entrückt blickenden Augen ist schrecklich, und er steigt aus.

Mein Eindruck

Die Stärke dieses kurzen Textes liegt weniger in der sparsamen Handlung und den obszönen Akten Edwardas, als vielmehr in der Beschreibung dessen, was im Erzähler damit ausgelöst wird. Er erfährt eine Umwertung seiner vormals bürgerlichen Werte hin zu einer Art neuem Existentialismus. Dieser wird vom Bataille’schen Erotismus dominiert, wie ihn Edwarda vorexerziert. Sie verschwendet sich, auch wenn sie sich dabei selbst verliert. Genau das ist der Sinn der Sache: sich zu entgrenzen – siehe oben den Absatz über „Tabu und Überschreitung“.

Handlung von „Meine Mutter“

Dies ist ein Kurzroman und entsprechend lang – er erstreckt sich über mindestens 250 Minuten. Um das komplexe Geflecht der Erzählung mit ihren vielen Rückblicken zu entwirren, ist es notwendig, die Handlung auf das Wesentlichste zu reduzieren: die Geschichte einer obszönen, also tabubrechenden Verführung.

Pierre ist ein schwächliches, aber schönes Kind. Er wird von seiner Mutter Madeleine, die erst 34 Jahre alt und ebenfalls sehr schön ist, innig geliebt. Zwischen den beiden herrscht Vertrautheit – die zwischen Mutter und Sohn. Doch nach dem Tod des trunksüchtigen Vaters entsteht etwas Neues daraus: die Vertrautheit zwischen Liebenden.

Leider muss Pierre, der Sohn, feststellen, dass auch seine Mutter dem Alkohol verfallen ist. Schlimmer noch: Sie geht gerne fremd und treibt es offenbar mit jedem und jeder, der oder die sie und den oder die sie haben will. Sie ist bisexuell. Das Fremdgehen und die Tatsache, dass sie sich dem Vater verweigerte, hat wohl dessen Tod durch Trunksucht beschleunigt. Als Madeleine 13 war und im Wald von einem wilden Ritt ausruhte, wurde sie vom Vater vergewaltigt, der ihre Lage ausnutzte. Sie wurde schwanger und musste ihn auf Geheiß ihrer Verwandten heiraten, um die Schande einer unehelichen Geburt zu vermeiden.

Diese Hintergründe offenbart sie Pierre schrittweise, damit er sie verstehen lernt. Denn sie gibt unverhohlen zu, dass sie eine Schlampe ist und gedenkt, ihn ebenfalls zu verderben. Zu diesem Zweck führt sie ihn in die Liebe ein, indem sie ihn erst mit Rhea und dann mit Hansi verkuppelt. Während der exzessiven Zeit mit Hansi weilt Madeleine mit Rhea in Ägypten, wo sie, wie ihren Briefen zu entnehmen ist, in Kairo Anstoß erregt, indem sie Männer auf der Straße anmacht und ihnen sexuelle Dienste leistet. Sie muss Kairo verlassen.

Und wenn sie zurückkehrt, so kündigt sie schriftlich an, habe sie etwas Entscheidendes mit Pierre vor. Denn dieser sei nun hoffentlich für den endgültigen, irreversiblen Schritt in der Beziehung zu seiner Mutter bereit.

Mein Eindruck

Nur ganz allmählich erkennt der Leser bzw. Hörer, welche Ungeheuerlichkeit sich in dem fein verästelt und im psychologischen Realismus dargestellten Text entfaltet. Die Mutter will ihren Sohn zu ihrem Liebhaber machen, um ihn vollends der Verderbnis zu überantworten. Dass dies nicht gutgehen kann, war zu erwarten. Die Hinweise, dass Pierre, der Ich-Erzähler, seine Mutter erhängt aufgefunden haben, sind vielfältig und verleihen der Erzählung der Ereignisse, wie es dazu kam, eine zusätzliche verhängnisvolle Dimension.

„Die Mutter“ ist nicht so auf Tabubruch bedacht wie „Die Geschichte des Auges“, geht darum aber weit mehr unter die Haut als jenes Panoptikums. Wir nehmen Anteil an Pierres Schicksal, einem Zwanzigjährigen aus dem Priesterseminar, der sich der Sünde ergibt und der seine Tabubrüche zunehmend steigert, verführt von seiner Mutter.

Diese Mutter weiß sehr wohl, wie zerrissen er innerlich sein muss: Die moralischen Diktate der bürgerlichen Gesellschaft sehen ein ganz anderes Verhalten zwischen Mutter und Sohn vor, als die Mutter es nun in Gang setzt. Doch der verliebte Sohn gehorcht auch nicht mehr den Diktaten Gottes, sondern entsagt diesem vielmehr, um seiner Mutter folgen zu können und sie nicht zu verlieren. Sie wird keineswegs mit einer Dienerin des Teufels gleichgesetzt, sondern bleibt trotz all ihrer Unvollkommenheit stets eine Verkörperung der Madonna. Das hat sehr interessante Konsequenzen.

Handlung von „Der Tote“

Edouard ist im Liebesbett gestorben, und Marie ist untröstlich. Mit zerrissenem Kleid stolpert die Verzweifelte in den Regen der normannischen Dorflanschaft hinaus. Im Wald erleichtert sie sich, bevor sie ins Dorf Tilly und die dortige Dorfkneipe wankt. Drinnen ertönt ein melancholisches Straßenlied, das mit Beifall und Johlen bedacht wird. Marie tritt ein, und die Knechte, Mägde und die Wirtin starren die Frau an, die unter ihrem Mantel nackt ist. Sie bittet um Alkohol, und die Wirtin schenkt ihr Calvados ein. Marie will mit den Menschen lachen. Sie steckt die Hand eines Knechtes in ihres Spalte und dieser öffnet ihren Mantel, so dass ihre Nacktheit öffentlich bekannt wird. Betrunken zieht sie den Mantel aus. Ein zweiter Mann mit dem Namen Pierrot fordert sie zu einem Tanz auf und sie legen einen obszönen „Java“ hin.

Als sie nicht mehr aufrecht stehen kann, lässt sie sich lecken und vögeln. Da schlägt der Sturm durch die Tür, und herein tritt der Graf Lecomte. Er ist ein buckliger Zwerg, der aber freundlich grüßt, insbesondere Pierrot, der sich um Marie kümmert. Marie ist sicher, dass sie im Morgengrauen sterben werde. Sie veranlasst Pierrot und den Zwerg zu sexuellen Handlungen und erleichtert sich auf den Zwerg. Es folgt eine Massenvergewaltigung.

Daraus erwacht Marie erst im Morgengrauen und kotzt dem Grafen vor die Füße. Er bleibt trotzdem freundlich und geleitet sie nach Hause, obwohl sie ihn warnt, was ihn dort erwarten könnte. Während er sich auszieht, wartet sie im Nebenzimmer, wo der tote Edouard liegt. Bei dessen Anblick verliert der Graf sein Begehren, und Marie „lächelt grauenvoll“. Sie nimmt Gift.

Mein Eindruck

Diese Erzählung liest sich szenisch-anschaulich wie ein Theaterstück, ja, es gibt sogar Regieanweisungen. Wieder ist dies ein Stück, in dem sich ein Mensch verschwendet, denn der unverhoffte Tod ihres Geliebten hat sie völlig aus der gewohnten Bahn geworfen. Den Exzess, dem sie sich in der Dorfkneipe hingibt, kann sie natürlich im bürgerlichen Leben nicht mehr verkraften und bringt sich um. Dabei brüskiert sie absichtlich den zwergenhaften Grafen, der durchaus freundlich zu der Nackten ist. Aber es ist gut möglich, dass sie ihn für die Verkörperung des Teufels hält, der sich nur ihre Notlage zunutze machen will. Und daher schlägt sie ihm mit ihrem Freitod ein Schnippchen. Die Figur der Marie ist sowohl im Sex wie auch im Tod selbstbestimmt.

Die Regieanweisungen, gelesen von Franke, verfremden den ganzen traumartigen Text und verleihen ihm eine zusätzliche Bedeutungsebene. Ich sage „Regieanweisungen“, obwohl diese kurzen Sätze eigentlich eher das vorangegangene Geschehen resümieren statt kommendes anzukündigen. Sie dienen als verbale Unterstreichungen der obszönsten Vorgänge. Und der Eindruck eines ablaufenden Programms entsteht, in dessen Verlauf Marie die wichtigsten – von der Erwartung vorgeschriebenen? – Handlungen vollführt. Es sind allesamt Tabuverstöße und somit Schritte zu ihrer totalen Befreiung im Sinne der Bataille’schen Philosophie (s. o.).

Handlung von „Der Kleine“

Mit dem titelgebenden Kleinen ist in diesem essayistischen Text vermutlich der Penis gemeint, vor allem der des Erzählers. Dieser logiert in einem Gasthof auf dem Lande in einer einfachen Kammer, wo er über Gott, Welt und Sex räsonniert. Es ist November, und der Himmel sieht aus wie ein Deckel über der Welt. Nebenan tanzt, singt und johlt eine Hochzeitsgesellschaft – Possen!

Weil man in der Nähe eine Leiche fand, wurde er für eine Weile von der Polizei festgenommen und verhört, doch er stellte sich als der falsche Mann heraus. Ansonsten passiert nichts.

Mein Eindruck

Der genannte reale Hintergrund dient nur als allerdünnste Wirklichkeitsfolie für das Räsonnieren, das 99 Prozent dieses unglaublich langweiligen Textes ausmacht. Langweilig in den Sinne, dass sich nichts ereignet, sondern nur Gedanken gewälzt werden. Da geht es um die Conditio humana versus die Conditio divina. Doch was ist dies für ein schäbiger Gott, der lediglich die Ohnmacht der Menschen verkörpert? Es gebe nichts Gutes, es gebe daher nichts. Die Erde ist ein Totenstern und das Leben strahlende Agonie (= qualvoller Todeskampf). Sterben bedeute daher, frei zu sein und die Fesseln des Leibes abwerfen zu können. Dann werden Gut und Böse eins miteinander, und wenn man sowohl glücklich als auch verflucht sei, empfinde man endlich einen Zipfel des Glücks hienieden. Vielleicht ist dieses Buch, das der Erzähler schreibt, eine Brücke dorthin.

Man hat es also mit einer literarischen Selbstrechtfertigung zu tun. Der Autor drückt wieder einmal seine Philosophie aus, nur eben diesmal viel pabstrakter. Man kann diesen Text als Nachwort des Autors lesen.

Das Booklet

… umfasst einen Auszug aus dem Vorwort zu „Madame Edwarda“ und einen Auszug aus dem Nachwort des Buches, beide verfasst von der Übersetzerin Marion Luckow. Diese Texte sind höchst theoretisch und versuchen, Batailles Absichten zu erläutern. Einer darauf folgenden „biographischen Notiz“ (siehe „Der Autor“) folgen „bibliographische Hinweise“. Diese sind notwendig, weil die Quellenlage aufgrund der Revisionen der Urfassungen nicht ganz einfach ist. Für „Die Geschichte des Auges“ wurde beispielsweise nicht die Urfassung von 1928 herangezogen, sondern die Überarbeitung von 1940/41. Die „Oeuvres complètes“ enthalten zum Glück beide Versionen. Die letzte Seite listet die Titels der Tracks auf. Daraus wird ersichtlich, dass der Text „Meine Mutter“ über drei CDs in Anspruch nimmt: 3 bis 5 und einen Teil von CD 6. Das ist in Ordnung, denn „Meine Mutter“ ist der am besten erzählte Text, der es durchaus mit Maupassant aufnehmen kann.

Die Sprecher

Heikko Deutschmanns Markenzeichen ist die unaufgeregte Beiläufigkeit, mit der er selbst die ungeheuerlichsten Vorgänge vorzutragen in der Lage ist. Diese Lässigkeit darf jedoch den Hörer nicht täuschen: Es sind massenhaft Tabubrüche zu verdauen, denn „Die Geschichte des Auges“ ist programmatisch für Bataille. Aber Deutschmann charakterisiert auch die Figuren, er flüstert und ruft. Da es sowieso nur drei bis vier zentrale Figuren gibt, behält der Hörer stets den Überblick.

Peter Franke hat eine tiefe, fein modulierte und sehr sympathische Stimme. Ihrer Einfühlsamkeit vertrauen wir uns gerne an, wenn es um die erotischen Abenteuer des jungen Pierre geht. Auch Rhea und Hansi, die beiden Verführerinnen mit der lockeren Moral, erscheinen durch seinen Vortrag nicht schlüpfrig und verderbt, sondern als charmant. Das kann irreführend sein, denn sie haben natürlich handfeste Absichten.

Eva Mattes liest den Text „Der Tote“, in dem Marie sich erst dem Kneipenvolk hingibt und sich dann umbringt. Sie muss dies mit großer Sachlichkeit tun, der es dennoch nicht an Einfühlsamkeit mangelt – eine Gratwanderung. Franke liefert durch die von ihm vorgelesenen „Regieanweisungen“ eine weitere sachliche Ebene, die das sexuelle Geschehen aus dem bloß Anregenden weit heraushebt und symbolisch macht. Der literarische Voyeur bekommt hier keine Chance.

Walter Kreye liest „Madame Edwarda“ und „Der Kleine“. Er verfügt über eine sehr angenehme, tiefe Stimme, die er facettenreich zu modulieren versteht. Er verändert das Tempo seines Vortrags, macht Kunstpausen, wo er Erstaunen oder Zögern ausdrücken möchte. Da seine Stimme immer etwa gleich tief ist, verändert er die Lautstärke, um anzudeuten, dass eine Frau (wie etwa Edwarda) weitaus sanfter spricht als etwa ein Mann.

Alle Sprecher sind um deutliche Aussprache und richtige Betonung der Sätze bemüht, außerdem waren bei keinem Fehler hinsichtlich der Aussprache des Französischen festzustellen.

Unterm Strich

Bataille ist immer eine Herausforderung. Und das ist ganz in seinem Sinne. Ich werde mich daher nicht mehr über seine Herausforderungen, die in seinen oben skizzierten Texten stecken, auslassen, sondern will mich auf die Präsentation seines Buches „Das obszöne Werk“ beschränken.

„Die Geschichte des Auges“ ist der für mich interessanteste Text, denn darin stecken unglaublich viele bizarre Ideen, die man später in diversen Filmen wiederfand, wie etwa in dem surreralistischen Streifen „Der andalusische Hund“. Ebenso abgefahren ist die Geschichte „Der Tote“, die allerdings ebenfalls mit dem Tod der weiblichen Hauptfigur endet.

Den Kurzroman „Die Mutter“ konnte ich dagegen nur in drei Etappen bewältigen, jeweils eine CD lang, dann war eine Pause fällig. Das lag vor allem daran, dass hier sehr wenig passiert und der Ich-Erzähler ständig über sein Innenleben reflektiert. Das wiederum erfüllt hohe literarische Ansprüche, und so ist diese Geschichte für Literaturgourmets wohl die beste. Auch hier muss die weibliche Hauptfigur dran glauben, was wiederum nicht so lustig ist.

Etwas aus dem Rahmen fallen die beiden restlichen Geschichten. Die Bezeichnung „Geschichte“ haben sie allerdings kaum verdient, denn der Erzähler ergeht sich in endlosem Räsonnieren über Gott, Welt und die Tabus, die es zu brechen gelte. Ist dieses Nachdenken schon in „Madame Edwarda“ ziemlich penetrant, so wird es in „Der Kleine“ derart dominant, dass keine Geschichte mehr übrig bleibt. Dieser letzte Text eignet sich am ehesten als Nachwort.

Das Booklet versorgt den Hörer mit wertvollen Infos, aber auch mit der subjektiven Interpretation seitens der Übersetzerin. Diese Interpretation könnte ebenso überholt sein, wie es die Übersetzung jetzt bereits ist. Die schwülstigen Ausdrück wie „Delirium“, „Wollust“ und dergleichen sind alle derart überholt, dass man einen Lachreiz unterdrücken muss. Höchste Zeit für eine Neuübersetzung!

Also mussten sich wohl auch die Sprecher und die Sprecherin gewaltig am Riemen reißen, um die jeweiligen Texte mit dem gebotenen Ernst zu präsentieren. Nun, sie tun ihr Bestes, und das mit achtbarem Erfolg. Mein Tipp ist jedoch, sich die Originalfassung oder eine moderne englische Übersetzung zu besorgen. Bei Penguin gibt es eine herausragende Übersetzung von „Die Geschichte des Auges“ mit zwei Essays, die Susan Sontag und Roland Barthes (den ich oben erwähne) beitrugen. Und im Englischen liest sich die ganze Geschichte etwas eindeutiger, sprich: deftiger – schließlich ist hier die Urfassung aus dem Jahr 1928 zu lesen.

471 Minuten auf 6 CDs
Auf Deutsch zuerst erschienen bei Reinbeck/Rowohlt 1972
Aus dem Französischen übersetzt von Marion Luckow.
ISBN-13: 978-3899032956

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