Raymond Jean – Die Vorleserin (Lesung)

Nur wenige kennen jenen verschmitzt-erotischen Film von Michel Deville aus dem Jahr 1988: „Die Vorleserin“. (Der Film wurde 1988 bei den Filmfestspielen in Montreal mit dem Großen Preis ausgezeichnet.) Aber er ist nicht nur eine Liebeserklärung an die Literatur und ihre Macht, sondern auch an die Erotik, die vom Akt des Vorlesens ausgehen kann. Denn Liebe und Lesen sind Verwandte: Beide stellen eine Reise dar, sagt Raymond Jean in seinem Werk, gleichgültig, ob es sich um Film, Buch oder – wie hier – um Hörspiel handelt.

Der Autor

Raymond Jean, geboren am 21. November 1925 in Marseille, ist ein französischer Schriftsteller, der zunächst vom Sozialrealismus und dem |Nouveau Roman| beeinflusst wurde. Außer „Die Vorleserin“ (1986), einer satirischen Sozialkomödie, verfasste er drei weitere Romane, darunter „Mademoiselle Bovary“ (1991), „Les Grilles“ (1963) und „La Vive“ (1968). Er arbeitete bis zu seiner Pensionierung als Professor an der Universität der Provence. (Jedenfalls wurde sein Ableben noch nicht im Internet verzeichnet.) Erst durch den Erfolg des schönen Filmes von Michel Deville mit Miou-Miou in der Titelrolle wurde Raymond Jean mit seinem Werk bekannter.

Die Sprecher

Svenja Pages spricht Marie Constance, eine weitere bekannte Stimme ist Anne Moll. Ingesamt sind 14 Sprecher verzeichnet. |Radio Bremen| und |Saarländischer Rundfunk| produzierten das Hörspiel 1999 gemeinsam. Die Hörspielfassung stammt von Andreas Lammers, Regie führte Hans Helge Ott, und Rudolf Schmücker steuerte die Musik bei.

Handlung

Marie Constance, schon 34, hat ihr Studium abgebrochen, die Schauspielschule aufgegeben und lebt neben ihrem arbeitsbesessenen Mann Philippe in den Tag hinein. „Mach wenigstens etwas!“, drängt ihre beste Freundin Francoise. „Warum bietest du deine Dienste nicht einfach als Vorleserin an?“ Und das tut Marie Constance (MC) dann auch. Aber was soll sie vorlesen? Ihr alter „Meister“, das heißt ihr früherer Professor Roland, empfiehlt ihr Maupassant: „Die Hand“. Eine gruselige Erzählung.

Der Mann in der Anzeigenannahme der Zeitung rät ihr gleich, unzweideutig zu formulieren. Für was solle man sie denn halten? Also bietet sie nicht sich selbst, sondern lediglich ihre Vorlesedienste an. Die erste Kundin ist die Mutter des gelähmten Jungen Eric. Sie liest ihm „Die Hand“ vor, während ihr der Kleidsaum immer höher rutscht. Eric kommt mit einem schweren Asthmaanfall ins Krankenhaus, und MC fühlt sich schrecklich schuldig. Zum Glück strahlt Eric bald wieder. Der Kleidsaum darf künftig noch höher rutschen.

Kundin Nummer zwei ist die 82 Jahre alte Generalswitwe Dumesnil, kurz „Die Generalin“ genannt. Obwohl sie aus einer ungarischen Adelsfamilie stammt, ist sie glühende Verehrerin der Revolution und lässt MC prompt nur noch Karl Marx vorlesen. Welch grässliche Prosa, findet MC. Die Generalin schläft dabei regelmäßig ein.

Der dritte Kunde ist ein vielbeschäftigter Generaldirektor, der sich angeblich vorgenommen hat, etwas für seine Bildung zu tun. Nachdem er aber gestanden hat, seit einem halben Jahr von seiner Frau getrennt zu leben und sich nach weiblicher Gesellschaft zu sehnen, ist für MC der Fall klar. „Retten Sie mich!“ ruft Michel Dautrand. Sie bietet ihm hilfreich ihren Mund dar. Der weitere Weg führt ins Schlafzimmer. Denn Lesen ist wie die Liebe: beides ist eine Reise.

Die vierte Kundin ist eine gluckenhafte Geschäftsfrau mit einer total unterdrückten achtjährigen Tochter Clorinde. Dieser liest MC natürlich „Alice im Wunderland“ von Lewis Carroll vor. Während sie mit ihr anschließend in den Park spazieren geht, ruft die Mutter die Polizei und meldet eine Kindesentführung samt Juwelenklau …

Bei der Generalin geht es hingegen lustiger zu. Kur vor dem 1. Mai, sozusagen dem Feiertag der Revolution, spielt sie „Die Internationale“ ab und schwenkt eine rote Fahne. Marie Constance wird aufs Polizeirevier zitiert, wo man sie schon als notorische Unruhestifterin kennt, wie Kommissar Belloit meint. Das Einzige, was ihm an MC gefällt, sind offenbar ihr Beine.

Am 1. Mai schließlich kommt es zur Krise: Die Generalin zwingt MC, in der ersten Reihe der Arbeiterkundgebung mitzumarschieren. Und o weh! Da kommt auch die kleine Clorinde, um sich der Demonstration anzuschließen. Ihre Mutter wird außer sich sein. Prompt wird MC wieder aufs Revier zitiert. Die Anklage lautet auf Aufrührerei. Belloit warnt sie.

Doch es kommt noch schlimmer, und MC muss einsehen, dass auch ihre Toleranz beim Vorlesen eine Grenze kennt. Bei de Sade, den man sie vorzulesen bittet, hört der Spaß eindeutig auf.

Mein Eindruck

Marie Constance scheint, oberflächlich betrachtet, in mehrere amouröse, skurrile bis aberwitzige Situationen zu geraten. Da ist der querschnittsgelähmte Eric, die vernachlässigte Clorinde, die einsame Klassenkämpferin, der unter Sexentzug leidende Generaldirektor. Ihnen allen bringt die Literatur Linderung ihrer Leiden. Aber ist es wirklich das Vorgelesene und nicht vielmehr die Vorleserin selbst, die ihnen etwas gibt? Was könnte das sein?

Denn es gibt auch die Gegenseite: der Kommissar Belloit, der MC zur Rebellin und Aufrührerin hochstilisiert, um sie zu warnen; der Medizin-Professor D’Arc, der an ihr Verantwortungsbewusstsein appelliert, um MC zu kontrollieren; schließlich die Geschäftsfrau, die sofort die Polizei ruft, wenn ihr Töchterlein an die frische Luft will. Die Krönung dieses Unterdrückungsapparates bildet das „Vorlese-Fest“, das drei ehrenwerte Männer für MC vorbereitet haben: ausgerechnet der Kommissar, der Arzt und ein Magistrat mit distinguierter Stimme (s. u.). Symbolisch für ihr Begehren steht der Marquis de Sade.

Diesen „Kontrollorganen“ steht Marie Constance gegenüber. Einfach indem sie ihre Dienste und ihre erotisierende Präsenz anbietet, setzt sie bei ihren älteren – und jüngeren – Kunden eine Befreiungsbewegung frei: Dem Generaldirektor gewährt sie entspannte Liebe, der Generalin einen Ausbruch von klassenübergreifender Solidarität, der 14-jährige Eric entdeckt die Wonnen der Erotik („Könnten Sie nächstes mal bitte ohne Höschen kommen, Madame?“) und die kleine Clorinde reißt sich von der Mutterhand los, um sich an MCs Seite in die Mai-Kundgebung einzureihen.

Dass so viel Erotik und Befreiung als aufrührerisch und befreiend angesehen wird, kann nicht ausbleiben. Die Kontrollorgane ergreifen die Initiative. Diese junge Dame hat bereits genug gesellschaftlichen Erfolg gehabt, nicht wahr? Belloit & Co. machen nun die Probe auf’s Exempel: Wenn MC sich ihren demütigenden Wünschen beugt, soll sie auch in die höchste Ebene der „ehrenwerten Gesellschaft“ aufgenommen werden dürfen – quasi als Stiefelleckerin. Denn darum geht es bei dem Zitat aus de Sades „120 Tage“ (und um noch viel Intimeres). Im Klartext: Die Aufrührerin wird ihrer Ehre und Selbstachtung beraubt, woraufhin man sie an die Kandare legt, wenn sie alles erfüllt, was man von ihr verlangt. Ob sich MC wohl darauf einlässt?

Wenn man Raymond Jeans Text von der gefälligen Verpackung befreit, enthüllt sich eine handfeste Kritik der bürgerlichen Gesellschaft. Die Hörspielbearbeitung durch Andreas Lammers beschneidet diese Aussage nicht, sondern arbeitet sie vielmehr heraus, ohne dabei die vorgetragene Literatur zu unterdrücken (das wäre ja noch schöner!).

Die Sprecher, die Inszenierung

Als Erstes hören wir Svenja Pages‘ angenehme (erotisierende?) Stimme, die ein Gedicht von Charles Baudelaire rezitiert, und zwar so, dass die Verse und Worte deutlich und einzeln zur Geltung kommen. Im ganzen Hörspiel wird nichts heruntergeleiert, im Gegenteil: Allen Sprechern hört man die Sprechausbildung aus der Schauspielausbildung an. Dies hat mehrere Effekte.

Der Intimität, die zwischen den beiden Freundinnen MC und Francoise durch raschen Wechsel und sogar Überlagerung hörbar wird, stehen die Szenen gegenüber, in denen MC quasi im „Außendienst“ ist. Der Kontrast zwischen den Gedanken, die MC äußert, und dem, was sie sagt und sich anhören muss, führt oft zu Ironie. Diese Ironie ist häufig sympathisch gegenüber den Profiteuren von MCs Vorlesediensten, allen voran Eric und der Generaldirektor, manchmal aber auch recht kritisch, so etwa gegenüber dem geilen Kommissar.

Manchmal tritt MC auf wie eine Agentin im Auftrag ihrer Majestät, der Literatur und Erotik. Sie verkleidet sich mit einem strengen Kostüm und einer Brille mit nicht-optischen Gläsern. Sie wappnet sich mit Rüstung und Lüge, doch sie passt nie ihre Stimme an. Darum können wir andererseits nachvollziehen, wie aus der Agentin eine verehrende Jüngerin der Venus wird, wenn sie mit dem Generaldirektor ins Bett geht. Schöner gehauchte Zitate hat man selten gehört. (Man stelle sie sich dann auch noch in Französisch vor!)

Die schönste Stimme aber hat meiner Meinung nach die „Generalin“, die einmal „die schönste Frau auf den Bällen der Militärattachées“ gewesen sein will. Ihre Stimme klingt rauchig, gereift wie alter Wein, und doch kraftvoll. In bizarr-ironischem Kontrast dazu steht ihre närrische Vorliebe für die knöchernen Sätze des deutschen Frühkommunisten Marx. Wenn er über Edelmetalle doziert, bekommt sie beinahe einen Anfall der Ekstase – davon wird sie zum Glück von der Demo draußen auf der Straße abgehalten. Man kann sich die Ungarin in ihrer Jugend gut als feuriges Frauenzimmer vorstellen.

Die einzige Stimme, die meiner Ansicht nach nicht passt, ist ausgerechnet die des jungen Eric, den MC so aufreizend mit Baudelaire und hochgerutschtem Rocksaum beglückt. Eigentlich sollte er mit 14 Jahren ja seinen Stimmbruch bereits hinter sich haben, doch sein Sprecher klingt leider, als hätte er diesen vokalen Einschnitt noch weit vor sich.

Der verschlagenste Profi-Sprecher ist gegen Schluss zu hören: Mit der distinguiertesten, gepflegtesten und offensichtlich ehrbarsten Stimme bittet Jürgen Thormanns Figur des Magistrats um das schlimmste Stück Literatur, das MC bis dato untergekommen ist. Natürlich kann dessen Inhalt dem Hörer nicht vorenthalten werden, da es ja als Beleg für die finsteren Absichten des Kunden dient. Jürgen Thormann ist der Beweis dafür, wie sehr eine ausgebildete Stimme den Eindruck von den wahren Absichten seiner Figur zu verschleiern vermag. Thormann ist ein echter Künstler. Leider enthüllt das mager ausgestattete Booklet nichts über seinen Namen; aber man kennt Thormann aus Fernseh- und Kinofilmen, in denen er britischen Adligen seine Stimme leiht.

Musik

Alle Episoden sind durch Pausenmusik abgetrennt. Dabei handelt es sich um sehr gefällige Caféhausmusik, Piano-Jazz mit brasilianischen Rhythmen und Hintergrundgesang. Da diese Rhythmen aber auch die angenehmen Szenen dezent begleiten, entsteht dabei eine heiter-beschwingte Stimmung, wie sie den Spätsommer-Episoden sehr angemessen ist. Bei ernsten Szenen hingegen fehlt die Musik, aus hoffentlich verständlichen Gründen.

Unterm Strich

Das Hörspiel bietet eine sehr gefällige und heiter-beschwingte, leicht ironisierende Darbietung des Textes. Doch eine genauere Strukturanalyse ergibt, dass es sich bei „Die Vorleserin“ durchaus um ein handfestes Stück Kritik der bürgerlichen Gesellschaft handelt. Aber sowohl Leute, die sich unterhalten lassen wollen, als auch Hörer, die auf die tiefere inhaltliche Seite achten, kommen auf ihre Kosten. Die Episoden sind kurzweilig, überschaubar, skurril und aussagekräftig genug, um die Aufmerksamkeit des Hörers zu fesseln. Und manche Stellen sind wirklich o lalá.

Das Hörbuch

Das Hörspiel ist sehr professionell inszeniert, alle Sprecher bis auf eine Ausnahme klingen passend und professionell. Die Musik trägt die entspannt-verspielte Grundstimmung voran: Es ist Sommer … Möge die ‚Vorleserin‘ auch den Weg in eure Stuben finden.

Umfang: 58 Minuten auf 1 CD
ISBN-13: 978-3934120563

www.hoerbuch-hamburg.de

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