Harvey, John – Schrei nicht so laut

Manchmal kann einen die Vergangenheit einfach nicht loslassen.

So geht es auch Frank Elder, einem pensionierten Kriminalkommissar, der sich nach der Scheidung von seiner Frau und der Arbeit in ein kleines Cottage in Cornwall verkrochen hat. Ohne Fernseher und Telefon lebt er dort vor sich hin, immer wieder von Alpträumen gequält, die mit einem vierzehn Jahre alten Fall zusammenhängen.

Damals zogen zwei Jugendliche durchs Land und vergewaltigten und ermordeten mehrere junge Mädchen brutal. Alle Leichen der in dieser Zeit verschwundenen Mädchen wurden gefunden – bis auf eine. Susan Blacklock ist nach wie vor verschwunden, und das, obwohl Elder ihren Eltern damals versichert hatte, er würde sie finden.

Sein nicht eingelöstes Versprechen verfolgt ihn noch heute und erhält neue Brisanz, als Shane Donald, der damalige Mittäter von Alan McKernain, auf Bewährung freikommt. Nach Repressalien durch die Mitbewohner seines Bewährungsheims flüchtet Donald, und wenig später wird erneut ein junges Mädchen vermisst. Elder wird in die Ermittlungen eingebunden, weil er Donald schon einmal überführt hat, doch bald bekommt er Zweifel daran, ob er den Richtigen jagt. Und dann verschwindet auch noch seine Tochter …

„Schrei nicht so laut“ ist einer dieser Thrillern, die sich sehr stark auf die Persönlichkeit des im Mittelpunkt stehenden Ermittlers konzentrieren. Shane Donald und einige andere haben zwar auch eine Perspektive, aber die von Elder geht am tiefsten. Neben seinem Versagen in dem Jahre zurückliegenden Fall wird sehr ausführlich sein Verhältnis zu der sechzehnjährigen Tochter Katherine und seiner Exfrau besprochen. Besonders die misslungene Ehe durchzieht das Buch durchgehend, wird aber so dezent angesprochen, dass sie nicht stört.

Elder ist ein sympathischer Charakter von nebenan. Er hat keine hervorzuhebenden Charakterzüge, sondern ist ein ganz normaler Mensch. Harvey geht also auf Nummer Sicher, aber da er es schafft, Elder schön auszuloten und sehr lebendig darzustellen, stört das nicht besonders. Auch die anderen Charakter sind gut gestaltet. Jedem von ihnen haftet eine Spur Alltag an, aber gerade deshalb sind sie so authentisch.

Dass die Personen so gut gefallen, hängt sicherlich mit Harveys glücklichem Händchen für Beschreibungen zusammen. Mit wenigen, unauffälligen Worten und einem verschwindenden Einsatz von Metaphern schafft er es, reale Bilder im Kopf des Lesers entstehen zu lassen. Das fällt besonders am Anfang des Buches auf. Nach einem etwas langen, unspektakulären Vorspann, in dem Elders momentane Lebensumstände geschildert werden, blickt Harvey auf die Geschehnisse in der Vergangenheit zurück, die mit den Fällen der vermissten Mädchen zusammenhängen. Sehr knapp, aber intensiv und beeindruckend fasst er auf wenigen Seiten zusammen, was damals nicht nur passiert ist, sondern auch in den Köpfen der Beteiligten vorging.

Die eigentliche Thrillerhandlung dagegen ist ein wenig ernüchternd, manchmal sogar spannungsarm. Es bleibt zwar bis zum Ende offen, wer der Täter ist und was mit Susan Blacklock passierte, aber an einigen Stellen wird die Erzählung so zäh, dass selbst diese Tatsache nicht mehr viel für die Spannung tun kann. An anderen Stellen schreitet die Handlung dafür zu schnell voran und wird ein wenig unglaubwürdig. Allerdings geschieht das so leise, dass man es beinahe nicht bemerkt.

Ob der Titel des Buchs vielleicht auch darauf anspricht? In diesem Roman wird nicht laut geschrien, sondern leise erzählt, und das macht es so unglaublich angenehm. Die Personen sind sehr authentisch, der Schreibstil ein Fest und die Handlung, trotz einiger Kritikpunkte, von fließender, strukturierter Form. Allerdings ist das Buch manchmal vielleicht ein wenig zu sehr die graue Maus, denn etwas wirklich Neues lernen wir mit „Schrei nicht so laut“ nicht kennen.

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