Stephen Woodworth – Das Flüstern der Toten

Ein Serienkiller wütet unter den „Violetten“, die über die Fähigkeit verfügen, Kontakt mit den Seelen der Toten aufzunehmen. Ein psychisch angeschlagener FBI-Agent und eine der bedrohten Violetten nehmen seine Spur auf und geraten in ein mörderisches Intrigenspiel … – Genremix aus Phantastik und Krimi, der seine wenig originelle aber sauber entwickelte Handlung durch die sorgfältige Figurenzeichnung vertiefen und dem obskuren Plot bis auf ein recht plattes Ende Glaubwürdigkeit verleihen kann.

Das geschieht:

Seit vielen Jahren leben sie unter uns: Die „Violetten“, denen die Fähigkeit gegeben ist, mit den Seelen der Toten Kontakt aufzunehmen. Ihren Spitznamen verdanken sie der typischen Augenfarbe, die sie in der Öffentlichkeit meist mit Kontaktlinsen tarnen. Die ‚normalen‘ Menschen meiden sie, denn sie fürchten – manchmal nicht zu Unrecht -, verstorbene Familienmitglieder oder Freunde könnten sich durch die „Violetten“ zu Wort melden und unschöne Geheimnisse offenbaren.

Weniger als 200 „Violette“ sind in Nordamerika gemeldet. Die Regierung der USA kontrolliert sie mit Hilfe der „Nordamerikanischen Gesellschaft für Jenseitskommunikation“, weil sich aus ihren Mündern auch die großen Geister der Vergangenheit zu Wort melden. Unverzichtbar sind die „Violetten“ außerdem im Rahmen der Verbrechensbekämpfung: Kein Mörder bleibt unentdeckt, wenn sein Opfer aus dem Jenseits gegen ihn aussagen kann.

Nun sehen sich die „Violetten“ allerdings selbst mit dem gewaltsamen Tod konfrontiert. Der „Schwarze Mann“, ein maskierter Mörder, attackiert sie gezielt. Offenbar will er die „Violetten“ ausrotten, was die „Gesellschaft“ zwar vertuscht aber keineswegs dulden will. Mit dem Fall wird eine Sondereinheit des FBI betraut. In Los Angeles bekommt Spezialagent Dan Atwater den Auftrag, dem Medium Nathalie Lindstrom zur Seite zu stehen. Die wenig begeisterte Frau stimmt wohl oder übel zu, nachdem der Mörder ebenso erfolgreich wie dreist viele ihrer Freunde getötet hat.

Atwater arbeitet aktiv mit seiner exotischen ‚Partnerin‘ zusammen. Während Lindstrom die Seelen ihrer ermordeten Freunde befragt, sichtet Atwater diesseitige Spuren. Leider führen beide Fährten lange ins Leere. Die einzige Chance des Duos liegt offenbar im Warten auf einen Fehler des Killers, der freilich auf die Idee kommen könnte, Lindstrom als nächstes Opfer ins Visier zu nehmen …

Info-Stimme aus dem Jenseits

Der Glaube daran, dass ein Mordopfer auch nach dem Tod Auskunft über sein gewaltsames Ende geben könne, ist ein fester Bestandteil der menschlichen Historie. Auch hierzulande wurden potenzielle Täter im Mittelalter an die Bahre ihres möglichen Opfers geführt; begannen dessen Wunden dabei zu bluten, galt der Mörder als überführt.

Die moderne Kriminalistik musste von dieser Form der Ermittlung Abstand nehmen. Der Lügendetektor gilt zumindest in den USA als Ersatz. Aber selbst er kann natürlich nicht mit der Aussage des Ermordeten konkurrieren. Leider ist diese trotz moderner Hightech weiterhin nicht aufzunehmen; diejenigen Medien, die Kontakt mit dem Totenreich versprachen, wurden noch immer als Betrüger und/oder Spinner entlarvt.

Glücklicherweise bleibt die Literatur nicht auf die Realität beschränkt. Hier klappt die Verbindung mit dem Jenseits zuverlässig; Geisterseher & Totenhorcher zeigen den faszinierten Lesern, wie so etwas laufen könnte. Stephen Woodworth ist keineswegs der erste Autor, der sich dieses Plots bedient. In „Das Flüstern der Toten“ präsentiert er folglich eine nicht gerade innovative Geschichte. Genrezwitter aus Phantastik und Krimi liegen aber im Trend. Sie bringen zwar keinen frischen aber immerhin einen spürbaren Wind in die Unterhaltungsliteratur.

Glanzarmer Alltag eines Mediums

Einmal mehr ist es die Variation des Bekannten, auf die der Leser gespannt sein darf. Woodworth wartet mit einer Version des Totenreiches auf, das wenig Hoffnung auf ein paradiesisches Nachleben gewährt. Schwarz ist das Jenseits, still und einsam. Die Seelen der Toten zieht es deshalb verständlicherweise ins Leben zurück. Die einzige Möglichkeit bieten die „Violetten“, denen eine genetische Mutation nicht nur die verräterische Augenfarbe, sondern auch die Gabe beschert, mit den ‚Seelen‘ der Verstorbenen zu kommunizieren. Das ist unter der skizzierten Prämisse kein Vergnügen, denn der Andrang aus dem Jenseits ist groß, und weil es dort weder Himmel noch Hölle zu geben scheint, reihen sich auch unerfreuliche Zeitgenossen in die Reihen derer ein, die im Hirn der „Violetten“ anklopfen.

Woodworth setzt eine alternative Historie voraus, in der die „Violetten“ seit vielen Jahrzehnten präsent sind. Die ‚Normalen‘ fürchten sie, aber sie nutzen die Mutanten gleichzeitig aus, indem sie diese mehr oder weniger freiwillig separieren und „zum Wohle der Gesellschaft“ einsetzen. Was dies im Detail bedeutet, definiert die „Gesellschaft für Jenseitskommunikation“, die den „Violetten“ keineswegs grundlos als verhasste Kontrollinstanz gilt und als stiller Bösewicht im Hintergrund agiert.

Dieser Handlungsstrang kann mit seinem Hauch von „1984“-Dystopie überzeugen. Dagegen fällt die Jagd auf den „Violetten“-Killer sehr konventionell aus. Woodworth beherrscht sein Handwerk, doch vor allem das Finale wirkt übertrieben und künstlich in die Länge gezogen. Auch ohne übernatürlich begabt zu sein weiß der thrillerkundige Leser, wer hinter dem Ganzen stecken muss. Immerhin überrascht Woodworth mit einer – hier nicht verratenen – Volte, die ein gar zu kitschiges Happy-End verhindert und die Weichen für eine Fortsetzung stellt, die neugierig machen kann.

Routiniert aber funktionstauglich

Grundsätzlich regiert in der Figurenzeichnung nüchtern betrachtet das Klischee: Atwater ist ein unglücklicher Mann mit einem tragischen Geheimnis, der mit genau derjenigen Person in ein Boot gezwungen wird, die dieses lüften könnte. Lindstrom ist die von den Seelen der Toten gehetzte Unschuld, die zusätzlich die Staatsgewalt verabscheut, der ausgerechnet Atwater angehört.

Die Konflikte zwischen den ‚Normalen‘, der ‚Gesellschaft‘ und den „Violetten“ bilden wie gesagt die zweite und gelungenere Ebene dieses Romans. Dan Atwater und Nathalie Lindstrom treffen im Stile eines „buddy movies“ voller Misstrauen und Vorurteile aufeinander. Die Handlung zwingt sie, das zu überwinden und sich zusammenzuraufen. Am Ende stehen zwei Menschen, die dazugelernt haben und sich als das akzeptieren, was sie sind. Dieser Story-Verlauf mag banal und ausgelutscht wirken, weil er uns so häufig aufgetischt wird, doch hier funktioniert er.

Die allmähliche Annäherung wirkt authentisch, weil Woodworth sie ohne allzu aufdringliche Sentimentalitäten inszeniert. (Die aufgesetzte Lovestory mit US-typisch krampfigen ‚Sexszenen‘ wollen wir ihm verzeihen.) Darüber hinaus treffen Atwater und Lindstrom im Verlauf des Geschehens viele Personen, über die man ebenfalls mehr erfahren möchte. Das ist möglich, denn aufgrund des Erfolgs seines Romanerstlings ließ der Verfasser drei Fortsetzungen folgen. Sie stellen die „Gesellschaft für Jenseitskommunikation“ ins Zentrum und beleuchten ihr zwielichtiges Treiben, das schon in „Das Flüstern der Toten“ mehrfach angedeutet wird. Auch weitere Fragen bleiben offen, die entsprechend angefixte Leser neugierig zum nächsten Band greifen lassen dürften.

Autor

Über Stephen Woodworth (geb. 1967) ist wenig bekannt. Zumindest über sein Privatleben äußerte er sich in Interviews kaum, so dass hier über seinen persönlichen Werdegang keine Informationen gegeben werden können.

Als Schriftsteller hat sich Woodworth nach eigener Auskunft schon früh aber vergeblich versucht. In den 1990er Jahren gelang es ihm immerhin, Kurzgeschichten in Publikationen wie „The Magazine of Fantasy & Science Fiction“, „Weird Tales“ oder „Aboriginal Science Fiction“ zu veröffentlichen. Um zu lernen, wie man einen Roman schreibt, nahm er 1999 am bekannten „Clarion West Writers Workshop“ teil, für den sich bekannte und erfolgreiche Genreschriftsteller als Dozenten zur Verfügung stellen; im genannten Jahr waren dies u. a. Nancy Kress und Octavia Butler. Noch während dieses Workshops schrieb Woodworth das erste Kapitel seines Debütromans „Through Violet Eyes“, dem er drei Fortsetzungen folgen ließ.

Stephen Woodworth lebt mit seiner Frau in Fullerton, Orange County/Südkalifornien. Bücher hat er seit 2006 nicht mehr veröffentlicht. Nur wenige Kurzgeschichten sind seither erschienen.

„Violet-Eyes“-Serie

(2004) Das Flüstern der Toten (Through Violett Eyes) – H 40375
(2004) Die Stimmen der Nacht (With Red Hands) – H 40372
(2005) Die Sprache des Blutes (In Golden Blood) – H 81144
(2006) From Black Rooms (kein dt. Titel)

H = Heyne Taschenbuch

Taschenbuch: 384 Seiten
Originaltitel: Through Violett Eyes (New York : Bantam Dell/Random House, Inc. 2004)
Übersetzung: Helmut Gerstberger
http://www.randomhouse.de/heyne

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