Millar, Peter – Eiserne Mauer

Was wäre, wenn … die Sowjets 1945 ihren Siegeszug nicht in Berlin abgebrochen, sondern ihn gen West- und Südwesteuropa fortgesetzt hätten? Nicht einmal der Kanal hielt sie auf; der Süden Englands wurde besetzt und 1949 als „Englische Demokratische Republik“ in einen Satellitenstaat der UdSSR verwandelt. 1989 ist London weiterhin eine geteilte Stadt. Der „Antikapitalistische Schutzwall“ trennt den sozialistischen Süden vom kapitalistischen Norden, wo die Gesetze der Demokratie und der freien Marktwirtschaft gelten. In der EDR herrscht dagegen das Elend kommunistischer Planwirtschaft. Groß ist deshalb die Zahl der unzufriedenen „Genossen“, die über den Wall in den Norden flüchten, obwohl sie bei befürchten müssen, dabei den allgegenwärtigen Schergen des „Department of State Security“ (DoSS) – dem Amt für Staatssicherheit – in die Hände zu fallen, das mit Gestapo-Methoden nach „Dissidenten“ fahndet, die dabei spurlos zu verschwinden pflegen, ohne dass jemand nachzufragen wagt.

Harry Stark, Detective Inspector bei der Metropolitan People’s Police, ist ein kleines Rädchen im Getriebe. Normalerweise verfolgt er Straßenräuber, Schläger und andere kleine Fische. Nun fand man unter Blackfriars Bridge hängend die Leiche eines durch den Kopf geschossenen Mannes, dem sämtliche Papiere fehlen. Stark, ein kritischer aber linientreuer Bürger seines Landes, übernimmt den Fall. Sorge bereitet ihm dabei das auffällige Interesse, das DoSS-Colonel Charles Marchmain diesem Fall entgegenbringt; die Aufmerksamkeit des „Großen Bruders“ versucht auch er tunlichst zu vermeiden.

Seine kleine Welt bricht zusammen, als ihn heimlich ein Journalist aus den USA kontaktiert und den Toten als „inoffiziellen Botschafter“ identifiziert, der durchaus mit Billigung des Kremls Stimmung gegen die englische Regierung machen sollte. In Moskau ist eine jüngere Generation an die Macht gekommen, die angesichts des maroden Systems zu einer Lockerung der sozialistischen Zwangsherrschaft bereit ist. Die EDR verweigert allerdings die Gefolgschaft. Auch Stark würde seinen „Gast“ normalerweise festnehmen, aber dieser enthüllt ihm, dass der Vater, angeblich als Held für sein Land gestorben, tatsächlich als „Staatsfeind“ hingerichtet wurde. Für Stark bricht eine Welt zusammen. Nun will er mit denen reden, die angeblich die Wahrheit kennen, doch er weiß nicht, dass Marchmain ihn bespitzeln lässt, um über ihn endlich an den „Englischen Widerstand“ heranzukommen …

Manchmal ist die Geschichte hinter einem Roman wesentlich interessanter als die Geschichte selbst. „Eiserne Mauer“ ist ein Werk, dessen englischsprachiges Original bisher nur übersetzt und in Deutschland veröffentlicht wurde. In England selbst scheint bisher niemand interessiert zu sein. Über die Gründe lässt sich nur spekulieren. „Eiserne Mauer“ basiert auf einem Plot, der objektiv betrachtet zwar nicht neu, aber dennoch reizvoll ist. Die Rekonstruktion einer „alternativen“ Geschichte auf der Basis historischer Fakten ist ein bekanntes literarisches Genre, dem sich viele Schriftsteller und natürlich Historiker gewidmet haben. „Was wäre geschehen, wenn …“ ist eine Frage, die sich auch der Laie durchaus stellt. Wie sähe Deutschland im 21. Jahrhundert aus, hätte es keinen Hitler gegeben? Oder wäre er 1945 nicht zur Hölle gefahren? Die Variationsbreite entsprechender Spekulationen ist enorm. Entsprechend einfallsreich fallen viele „alternative“ Geschichten aus.

Diese allerdings nicht. Es liegt weniger an der Grundidee, die von einem Europafeldzug der Sowjets Anno 1945 ausgeht. Entsprechende Planspiele gab es im Westen wie im Osten tatsächlich, aber in der Realität haben sich die Sowjets an die Vereinbarungen mit ihren Alliierten gehalten. Der „Eiserne Vorhang“ ging deshalb später in Mitteleuropa nieder und zerschnitt nicht England, sondern Deutschland.

Die spezielle/n Geschichte/n der Bundesrepublik und der DDR dürfte/n der Grund für die deutsche Originalausgabe von „Eiserne Mauer“ sein. In England haben angesprochene Verlage womöglich deshalb abgelehnt, weil Millar gar zu dreist von der Historie abkupferte: Der Verfasser geht von der Prämisse aus, dass die Geschichte des geteilten England bis ins Detail der Geschichte der beiden Deutschland entspricht. Reduziert man „Eiserne Mauer“ auf seine „historischen Fakten“, gewinnt man den Eindruck, Millar habe einfach das Wort „Deutschland“ gegen „England“ ausgetauscht.

Millar findet für die alternative Welt von 1989 keine eigenen Einfälle. EDR („Englische Demokratische Republik“) = DDR (gegründet beide 1949), London/Westminster = Berlin-Ost/Berlin-West, Admirality Arch = Brandenburger Tor, Hardness = Honnecker, DoSS = Stasi/KGB (und Gestapo – für die in England stets publikumswirksame und meist platte Beschwörung der Nazis ist sich auch Millar keineswegs zu fein) – solche „Parallelen“ wirken nicht gerade überzeugend. Von einer echten „Alternativwelt“ mag man kaum reden. „Löwenherz“ Winston Churchill durfte freilich nicht kläglich wie Hitler in seinem vom Feind eingekreisten Bunker enden, sondern durfte jenem schmählichen Komplott zum Opfer fallen, mit dem Millar das weder spektakuläre noch spannende Finale einläutet, dem zu allem Überfluss eine schauerlich missglückte, ironisch und aufmunternd gemeinte Schlusspointe angeklebt wird.

Schade, denn die eigentliche Story vom wackeren Polizisten, der mit einem Fall konfrontiert wird, der nicht nur spannend ist, sondern ihn auch mit der verdrängten Realität eines Unrechtsstaates konfrontiert, lässt sich zunächst gut an. Die sozialistische Tristesse wird vor allem in Klischee dargestellt, doch ihre Inszenierung vor den Kulissen einer Metropole wie London, die ganz und gar nicht in ein sowjetsozialistisches System einpassbar erscheint, ist gelungen. Leider gerät besagter Polizist bald in die Mühlen der SoSS, dann munkeln diverse Geheimbünde in Londons tunnelreicher Unterwelt, und die Geschichte mündet in eine Verfolgungsjagd mit den üblichen vordergründigen Spannungselementen.

Angesichts der bisher (leise) beklagten Flatline des Plots wundert es kaum, dass die Figuren arg geduckt daherkommen. Das liegt nach Millar zum einen an der Diktatur der EDR, in der die Bürger anscheinend stets mit gesenkten Köpfen herumlaufen. Die Hauruck-Dramaturgie von „Eiserne Mauer“ lässt Harry Stark – der Name ist Programm, einprägsam und außerdem filmtauglich – zunächst als linientreuen aber ehrsamen Kommunisten auftreten. Das ist eine wichtige Dopplung, denn es unterscheidet Stark von den nur Linientreuen – unterwürfige Spitzel, grobe Apparatschiks oder teuflisch schlaue, skrupellose Machtmenschen – und den nur Ehrsamen, die stets die Freiheit im Munde führen, dem betonköpfigen Gegner mutig die Stirn bieten und einen schlimmen, aber zur Erschütterung (oder zum Wecken) der Leser notwendigen Tod sterben müssen.

Stark ist dagegen klug, Teil des Systems und dort so gut angesehen, wie das in einem krankhaft misstrauischen Kommunistenstaat möglich ist, wo jede/r jede/n bespitzelt und dem (So)SS Bericht erstattet. Gleichzeitig weiß er nur zu gut, dass viel faul ist in der EDR und dafür nicht die bösen Kapitalistenteufel des Auslands verantwortlich zu machen sind, sondern die eigene Regierung bzw. das besagte System, das einfach nicht funktioniert. 36 Jahre war Stark ein vorbildlicher Bürger. Dann kam Peter Millar ins Spiel, und eine geheimnisvolle Leiche und ein dem Inspector völlig unbekannter Amerikaner reichen aus, um Stark in einen (ziemlich tölpelhaften) Dissidenten zu verwandeln, der seine Odyssee durch eine operettenhafte Unterwelt standhafter Systemkritiker antritt.

Auftritt Colonel Marchmain, der stets tadellos gekleidet Spione jagt. Das Bemerkenswerte an dieser Figur soll offensichtlich aus dem Widerspruch erwachsen, dass dieser Marchmain, den der Verfasser als typischen Fuchs des englischen Geheimdienstes zeichnet, ein Musterkommunist ist, der völlig von sich und seinem Tun überzeugt ist. Anders als Stark kennt Marchmain kein Hinterfragen des Systems. Er gibt nicht einmal vor sich selbst zu, dass dies vor allem deshalb so ist, weil er in seiner Position den planwirtschaftlichen Engpässen enthoben ist und zu denen gehört, die Anweisungen geben, statt sie zu befolgen. Millar lässt für Marchmain nicht den Hauch von Selbstzweifeln zu, was diese Figur in eine Bösewicht-Knallcharge verwandelt, die auch Himmlers SS angehören könnte.

Chargen gibt es viele hinter der „Eisernen Mauer“. Da ist zum Beispiel Kathy, Starks rebellische Schwester, die den unzufriedenen Teenager mimen muss und einfach nicht die Klappe halten will, wie es der besorgte große Bruder rät. Selbstverständlich gerät sie deshalb in Gefahr, was eine völlig überflüssige, weil furchtbar platt aufgelöste Nebenhandlung in Gang setzt. Der „Englische Widerstand“ beschäftigt sich primär mit sich selbst und scheint sich in der Rolle im antiken Rom verfolgten Christen zu sehen; sie verbergen sich im englischen Gegenstück zu den Katakomben, schwärmen durch aufgelassen U-Bahn-Schächte und tagen in uralten Unterwelt-Bunkern. Ihr „Plan“, der die Betonköpfe in der Regierung zum Einschwenken auf Moskaus Tauwetter-Kurs bringen soll, ist von bemerkenswerter Blödheit, was sogar der böse Marchmain merkt, der sie deshalb einfach gewähren lässt.

Viel Aufwand (den Verfasser Millar in einem Nachwort schildert) also, der im Ergebnis nur bedingt zum Tragen kommt. Die banale Alltäglichkeit eines Überwachungsstaates, die viel furchterregender ist als die hier entworfene Scharade, kann und will Millar nicht in Worte fassen. Dazu passt das „offene“ Ende, dem sich eine Fortsetzung problemlos anhängen ließe; wollen wir hoffen, dass uns diese erspart bleibt.

Peter Millar gehört zur Gruppe jener Journalisten, die eines Tages beschließen, die Früchte ihres aufregenden Berufsalltags zu ernten bzw. in blanke Münze zu verwandeln. Wer zu den Brennpunkten der Weltgeschichte reist, ist doch wohl prädestiniert, ein spannendes und glaubhaftes Garn zu spinnen! Millar ist im Auftrag der |Sunday Times| oder des |Evening Standard| durchaus herumgekommen: Berlin, Moskau, Paris, Brüssel listet die Kurzvita des |Bastei|-Verlags als Wirkungsstätten auf. Auch in Osteuropa ist er journalistisch aktiv gewesen. 1992 fasste er seine Erlebnisse während des Mauerfalls in einem Buch mit dem verheißungsvollen Titel „Tomorrow belongs to me: Life in Germany revealed as Soap Opera“ zusammen.

Im Spionagemilieu ließ Millar 2000 auch seinen ersten Thriller spielen. „Stealing Thunder“ (dt. „Gottes Feuer“, |Bastei-Lübbe|-Taschenbuch Nr. 15175) erzählt die übliche Holterdipolter-Hetzjagd zu Wasser, zu Lande und in der Luft, während ein historisch brisantes Rätsel – hier im Umfeld der ersten Atombombe – gelöst werden muss. 2001 folgte der vom Plot ähnlich strukturierte „Bleak Midwinter“ (dt. [„Schwarzer Winter“, 722 |Bastei-Lübbe|-Taschenbuch Nr. 14972); das Buch gehört zweifellos zu den schlechtesten Thrillern, die in diesem Jahrhundert erschienen sind – ein Spitzenplatz, den es noch lange halten dürfte.

Mit seiner Familie lebt Millar in London sowie Oxfordshire. Dort ist er – übrigens ein geborener Nordire – auch aufgewachsen. Sein schriftstellerischer Erfolg scheint sich in Grenzen zu halten – in deutschen Grenzen, wo seine (freundlich ausgedrückt) ökonomisch geplotteten Romane besser anzukommen scheinen als daheim.

http://www.bastei-luebbe.de

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