Koff, Clea – Knochenfrau, Die

Clea Koff ist seit jeher eine „Knochenfrau“. Schon als junges Mädchen sammelt die Tochter die Überreste überfahrener oder anderweitig umgekommener Tiere, um sie intensiv zu studieren. 1992 liest sie ein Buch über forensische Pathologie und erkennt ihren Lebenstraum: Sie möchte lernen, aus Menschenknochen die Geschichte verstorbener Menschen zu „lesen“ bzw. zu rekonstruieren.

Für diesen Job gibt es reichlichen Bedarf. Jedes Skelett, das nicht auf einem regulären Friedhof ruht, könnte das Relikt eines Verbrechens sein. Ganz sicher trifft dies auf sorgfältig verborgene Massengräber zu, welche die kriminelle Diktatoren dieser Welt mit Leichen füllen, als habe es den Terror der Nazis und andere Schreckensherrschaften niemals gegeben.

Im afrikanischen Ruanda ermordeten 1994 die Hutu binnen eines Monats in einer Orgie der Gewalt 800.000 Tutsi. Der systematische Massenmord an völlig unschuldigen Menschen, die bisher Nachbarn, nicht selten sogar Verwandte waren, war dem herrschenden Regime außerordentlich unangenehm, denn der Zorn derer, die dieses Verbrechen nicht ungeahndet sehen wollten, konnte sich nachteilig auf zukünftige Auslandsgeschäfte und Entwicklungsgeldzahlungen auswirken. So durften anderthalb Jahre nach dem Gemetzel Ermittler der Vereinten Nationen einreisen. Sie exhumierten und obduzierten halb verweste Leichen, um Beweise gegen die Anstifter des Massenmordes zu sammeln.

Unter ihnen: Clea Koff, gerade 24 Jahre alt, die einen buchstäblich knochenharten Einstieg in ihren Traumjob erfährt. Ihr wissenschaftliches Interesse und der Drang, den Opfern für ihre ratlosen, verzweifelten Angehörigen und die Gerichte wieder ein „Gesicht“ zu geben, lassen sie trotz des enormen Stresses, den der grausige „Job“ mit sich bringt, nicht nur durchhalten, sondern sich bewähren: Koff entwickelt sich zu einer „Spezialistin“ für Massengräber.

Deshalb wird sie nach ihrem Ruanda-Einsatz zu einer Stätte gerufen, die ihr und den Kollegen Arbeit für viele Jahre garantieren wird: Im ehemaligen Jugoslawien hetzten dubiose „Führergestalten“ ihre Landsleute zum systematischen Massenmord auf. In Serbien, in Kroatien, im Kosovo ließen sie Menschen, die sie zu „feindlichen Soldaten“ oder „Partisanen“ erklärten, wegen ihres Glaubens hassten oder weil sie sich schlicht ihren Besitz aneignen wollten, zusammentreiben, abschlachten und in anonymen Großgräbern verschwinden. Aber die Rechnung geht nicht auf: Die in Afrika „geschulten“ UN-Ermittler finden die Toten und fördern sie, die zum Schweigen gebracht werden sollten, wieder ans Tageslicht, wo sie endlich ihr Recht fordern können.

Dieser Drang zur postumen Gerechtigkeit (oder wenigstens ihre Möglichkeit, denn tatsächlich können sich Diktatoren und Massenmörder gute Anwälte leisten …) gibt Clea Koff denn auch die Kraft zum Durchhalten. Die wünscht man ihr wirklich, wenn man zunehmend fassungslos ihre Schilderungen verfolgt. Außerdem ist es wichtig zu verstehen, wieso es Menschen wie Koff gibt, die eine Arbeit leisten, die ganz und gar menschenwürdig und deren Sinn zunächst schwer zu verstehen ist.

Denn wie schafft es ein Mensch, täglich und immer wieder einen Berg fauliger Leichen abzutragen? Die abstrakte, wissenschaftliche Faszination, welche der Forensik innewohnt, ist da verständlicherweise nur bedingt hilfreich. Immer wieder schildert Koff daher Momente, in denen die furchtbare Realität den Schutzpanzer forscherlicher Objektivität durchbricht. Dann müssen andere Argumente die Kraft zum Weitermachen liefern.

Clea Koff und ihre Kolleginnen und Kollegen sehen sich auf einer Mission. Sie tun einen Job, von dem die Massenmörder glaubten, dass niemand ihn leisten würde. Ermorde die Menschen, die dir lästig sind, und lasse sie von der Bildfläche verschwinden, dann hast du deine Ruhe und kannst behaupten, sie seien „untergetaucht“ und an unbekannter Stelle noch am Leben, bis im wahrsten Sinn des Wortes Gras über die Sache gewachsen ist: Es hätte klappen können, wenn es die UN-Forensiker nicht gäbe. Sie entreißen der Erde ihre schmutzigen Geheimnisse und liefern Beweise, die vor Gericht standhalten. Eine Liste derjenigen Verbrecher, die sich sicher wähnten und doch überführt wurden, legt Koff als Anhang vor; prominente „Politiker“ sind darunter, die letztlich doch überführt und bestraft wurden.

Nicht nur die Gerichte warten auf Beweise. Die Ermordeten standen selten allein auf der Welt. Sie sind verschwunden und ließen verzweifelte Hinterbliebene zurück, die nur ahnen konnten, was mit ihnen geschah. Clea Koff begegnet immer wieder Eltern, Kindern, Ehegatten, die um den Leichnam oder wenigstens einen Knochen ihres Angehörigen bitten, um etwas beisetzen und betrauern zu können. Aus einer Forensikerin musste zwangsläufig eine Therapeutin werden – eine schwierige Aufgabe, für die sie nicht geschult war und die den so dringend notwendigen Abstand zur Arbeit zu zerstören drohte.

Die schwierige, weil abschreckende Geschichte, die Koff erzählen will, gibt sich betont sachlich – eine gute Entscheidung, weil die Fakten für sich selbst sprechen. Aufgesetzter Grusel wäre fehl am Platze und würde die Leser wohl auch verschrecken: Zwar ist es wichtig, um die traurige Realität von modernen Massenmorden zu wissen, doch ist niemand verpflichtet, wie Koff dem unverhüllten Grauen entgegen zu treten. Deshalb wurden auch die Fotos sehr sorgfältig ausgesucht. Sie verhüllen nichts, aber sie schwelgen nie in Details; ohnehin sind sie kaum erträglich.

Koff macht keinen Hehl daraus, dass die Welt der UN-Forensiker keine heile ist. Das liegt zum einen an der enormen seelischen Belastung, die eine solche Arbeit – zudem in der Regel unter primitiven Bedingungen und nur mit viel Improvisation durchzuführen – mit sich bringt. Andererseits sind auch Wissenschaftler nicht über Konkurrenzdenken, akademischen Futterneid und andere allzu menschliche Schwächen erhaben. Geöffnete Massengräber werden von den Medien gern zur Kenntnis genommen, Politikprominenz schätzt sie ebenfalls, weil an der Grabkante getätigten Äußerungen mehr Aufmerksamkeit als üblich gezollt wird. Auch für die an den Grabungen beteiligten Wissenschaftler fällt ein wenig Ruhm ab, den so mancher eifersüchtig für sich beansprucht, um sich als „Fachmann“ zu profilieren. Ein solcher Ruf lässt sich durchaus kommerziell nutzen.

In gewisser Weise stellt Clea Koff keine Ausnahme dar. Sie hat ein Tagebuch über ihre Einsätze geführt, das die Grundlage für „Die Knochenfrau“ darstellt. Dieses Buch erscheint zeitgleich in sieben Ländern. Dass Koff jung und ausgesprochen ansehnlich ist, schadet auch nicht. Sie taucht nun vermehrt in der Presse und im Fernsehen auf, ist selbst in den kleinen Kreis prominenter Forensiker aufgestiegen, die sie einst aus der Ferne bewunderte.

Freilich ist dies eine eher moralphilosophische Deutung. Ruhm führt zu Aufmerksamkeit, aus Aufmerksamkeit kann Unterstützung erwachsen. Clea Koff steht zudem weiterhin ihre Frau in übel riechenden Massengräbern. Für allen Ruhm der Welt möchte man nicht mit ihr tauschen. Ohnehin gibt es kein „Happy-End“, wie die Verfasserin keineswegs verschweigt: Zwar konnte dank Clea Koff und anderer UN-Ermittler so manche Massenmörder überführt und verurteilt werden. Doch auch Diktatoren sind lernfähig: Sie morden wie eh’ und je, nur dass sie heute dazu übergehen, ihre Opfer nicht mehr einfach zu begraben. Die Leichen werden verbrannt oder aufwendig anderweitig vernichtet, um den lästigen Clea Koffs dieser Welt einen Strich durch die Rechnung zu machen. Aber diese stellen sich auch darauf ein und werden nicht nachlassen, ihrem schwierigen, furchtbaren, wichtigen Job nachzugehen.

Clea Koff wurde 1972 als Tochter eines englischen Vaters und einer ostafrikanischen Mutter geboren. Ihre Eltern sind bekannte Dokumentarfilmer, so dass sie schon als Kind ständig auf Reisen war. Sie lebte in Ostafrika, Europa und in den USA, wo sie ihr Studium (Anthropologie/forensische Anthropologie) absolvierte. Ab 1996 arbeitete sie für das UN-Kriegsverbrechertribunal in Bosnien, Kroatien und im Kosovo. Bis heute war Clea Koff – die abwechselnd in Los Angeles und Melbourne, Australien, lebt – an sieben Einsätzen beteiligt.