Val McDermid – Das Moor des Vergessens

Verhängnisvolles Dichtererbe: das Manuskript des Todes?

Nachdem es tagelang geregnet hat, wird im idyllischen Lake District ein uraltes Geheimnis ans Tageslicht gespült: eine Leiche, die auf bizarre Weise tätowiert ist. Ein Mann aus der Südsee – ist er etwa Fletcher Christian, der berühmte Meuterer von der „Bounty“, der seinen Freund, den Dichter William Wordsworth besuchte? Die Wordsworth-Spezialistin Jane Gresham, die aus dem Lake District stammt, kehrt in ihre Heimat zurück, um dem Geheimnis auf den Grund zu gehen. Doch jemand hat etwas dagegen, dass es gelüftet wird. Schon bald säumen Leichen Jane Greshams Weg …

Die Autorin

Die 1955 geborene Val McDermid wuchs in Kirkcaldy, einem schottischen Bergbaugebiet nahe St. Andrews, auf und studierte dann Englisch in Oxford. Nach Jahren als Literaturdozentin und als Journalistin bei namhaften englischen Zeitungen lebt sie heute als freie Schriftstellerin in Manchester und an der Nordseeküste. Sie gilt als eine der interessantesten neuen britischen Autorinnen im Spannungsgenre – und ist außerdem Krimikritikerin. Ihre Bücher erscheinen weltweit in 20 Sprachen. Für „Das Lied der Sirenen“ erhielt sie 1995 den Gold Dagger Award der britischen Crime Writers‘ Association.

„Tony Hill & Carol Jordan“-Reihe (alle auf BUCHWURM.org besprochen):

1) [„Das Lied der Sirenen“
2) „Schlussblende“
3) „Ein kalter Strom“
4) „Tödliche Worte“

Weitere Romane:

5) [„Echo einer Winternacht“
6) [„Die Erfinder des Todes“
7) [„Das Moor des Vergessens“
8) „Ein Ort für die Ewigkeit“
9) [„Nacht unter Tag“
10) [„Schleichendes Gift“

Hintergrund

William Wordsworth und die Dichter des Lake Districts

1) William Wordsworth (1770-1850) löste die Dichtung aus den Fesseln des Klassizismus und führte sie mit romantischem Idealismus ins 19. Jahrhundert. Mit Goethe und Schiller teilte er den Idealis, doch diese Haltung in Bezug auf die Welt und das eigene Leben wandelte sich. Von seiner Beteiligung an der französischen Revolution und der Affäre mit der Französin Annette Villon sollte später niemand erfahren, zumal als er schon Beamter (1813) war. 1805 beeindruckte er die Nation und die literarische Gemeinde mit seinem „Präludium“ („The Prelude, or The Growth of a Poet’s Mind“, revidierte das lange Versepos mehrfach. 1845 wurde er zum Hofdichter ernannt.

2) Samuel Taylor Coleridge (1772-1834) machte sich als Dichter, Kritiker und Philosoph einen Namen. Besonders durch die lange Ballade „The Rhyme of the Ancient Mariner“ (1798/1800) ließ ihn bekannt werden. 797 schloss er Freundschaft mit Wordsworth und veröffentlichte 1798 seine „Lyrical Ballads“, ähnlich sein Freund. Er plante sogar ganz konkret eine protokommunistische Kolonie in den USA.

Doch Philosophie und Drogenabhängigkeit trennten ihn zunehmend von Wordsworth, bis es 1810 zum Bruch kam, unter dem beide sehr litten. Coleridge schrieb mit „Cristabel“ (1816) und „Kubla Khan“ (1816, Stichwort „Xanadu“) Balladen, die sich mit dem Übernatürlichen beschäftigen und Symbolismus sowie Surrealismus vorwegnehmen. Sein geistiges Erbe lebte in Philosophen wie John Stuart Mills fort, doch am bekanntesten ist er ironischerweise für die Erfindung Xanadus, das er in einem Opiumrausch erblickt haben will.

3) Der Dichter Robert Southey (1774-1843) gehört eigentlich nicht zu den romantisch dichtenden und denkenden Lake Poets, sondern wurde nur von der Kritik irrtümlich dazugerechnet.

Diese „Lake Poets“ wohnten ab 1803 im Lake District eng beieinander. Der Kritiker Francis Jeffrey prägte die Bezeichnung und attackierte sie scharf, als er in der liberalen „Edinburgh Review“ über ihre Werke und Ideen schrieb. Alle drei Seendichter hatten sich von den revolutionären Ideen ihrer Jugend abgewandt und waren konservativ geworden. Das war den liberalen Whigs ein Dorn im Auge. Das konservative „Blackwood’s Magazine“ verteidigte sie natürlich. Die Hereinnahme Southeys durch Jeffrey macht aber keinen Sinn, denn dieser Dichter ist noch vorromantischen Stilen verhaftet, die Wordsworth überwand.

Handlung

September 2005. Jane Gresham ist eine Spezialistin für den englischen Dichter William Wordsworth (1770-1850), muss aber in einem Londoner Sozialghetto leben, so wenig verdient sie mit ihren Kenntnissen als Dozentin. Ein Zubrot verdient sie als Bardame in einem Lokal in der Nähe. Dort erzählt ihr ihr Boss, dass in ihrem Heimatort Fellhead eine merkwürdige Leiche gefunden geworden sei, die ein Dauerregen freigespült habe.

Das bringt sie wieder auf ihre Lieblingsphantasie: Dass nämlich der große Dichter Wordsworth ein verschollenes Gedicht geschrieben hat, das die berühmte Meuterei auf der „Bounty“ aus dem 18. Jahrhunderts behandelt. Den Bericht soll er von keinem Geringeren als von Fletcher Christian, dem Anführer der Meuterei, selbst erhalten haben. Christian sei nicht auf Pitcairn Island, der Zuflucht der Meuterer, erschossen worden, sondern geflohen und nach England zurückgekehrt, um dort als Schmuggler seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Hätten ihn die Behörden aufgespürt, so wäre ihm der Galgen sicher gewesen. Was, wenn es sich beim Toten im Moor um jenen berühmten Meuterer handelte?

Zufällig hat Jane im Nachlass von Wordsworths Familie einen Brief entdeckt, in dem auf ein Familiengeheimnis hingewiesen wird. Womöglich befindet sich das verschollene Gedicht sogar noch im Besitz eines Nachfahren der Wordsworths. Von ihrer Arbeitgeberin erhält Jane einen Forschungsurlaub von zwei Wochen, den sie in ihrem Elternhaus in Fellhead verbringen will.

Der Plan ist einfach, doch die Ausführung wird durch unerfreuliche Nebenumstände kompliziert. Jane ist die Mentorin der 13-jährigen Tenille, einer ungewöhnlich gebildeten Ghettoratte mit einem ebenso ungewöhnlichen Vater: Es ist der Gangster John Hampton, und er herrscht unangefochten über die Sozialsiedlung. Als Tenille sich beschwert, dass der derzeitige Lover ihrer Tante, Deno Marley, sie unsittlich angequatscht habe (Deno wollte einen Blowjob), wendet sich Jane an John The Hammer Hampton, nicht ahnend, dass dieser auf solche Provokationen nur mit Gewalt antwortet …

Im Lake District

Als Jane in ihrer Heimat ist und sich weit weg von London wähnt, erfährt sie aus den TV-Nachrichten, dass man Deno Marley erschossen und verbrannt in Tenilles Sozialwohnung gefunden habe. Tenille selbst werde dringend als Zeuge gesucht. Doch das Mädchen hat überhaupt keine Lust, von der Polizei vorverurteilt zu werden. Sie ist ihrem Vater, den sie beobachtet hat, dankbar, dass er sie beschützt hat, und will sich dadurch revanchieren, dass sie seine Täterschaft verschweigt. Also geht sie an den einzigen Zufluchtsort, den sie kennt: Janes Elternhaus. Ihr Auftauchen bringt Jane in eine prekäre Lage, denn kurz zuvor hat der lokale Constabler Rigston nach Tenille gefragt und das Gehöft durchsucht. Tenille weigert sich jedoch strikt, sich der Polizei zu stellen. Ist Jane nun ihre Freundin oder nicht? Nur „The Hammer“ kann hier helfen.

Jake

Zu allem Überfluss hat Janes Exfreund Jake Wind von dem wertvollen Wordsworth-Manuskript erhalten. Seine neue Arbeitgeberin und Geliebte Caroline Kerr, die mit seltenen Dokumenten handelt, setzt ihn sofort auf Jane an: Beschaff das Manuskript – es ist mindestens eine Million wert! Und Jake, der sich noch bewähren muss, hängt sich an Jane dran, um den reumütigen Lover zu markieren.

Merkwürdigerweise treten zu diesem Zeitpunkt rätselhafte Todesfälle in der Umgebung von Fellhead auf, und zwar genau unter jenen Nachkommen der Dienstmagd Wordsworths auf, die nach dessen Tod ein Familiendokument entsorgen sollte. Die alten Damen Edith Clewlaw und Tillie Swain sind beides Nachkommen der Magd Dorcas Mason. Leider werden es nicht die letzten Opfer bleiben.

Interessanterweise findet Jane heraus, dass auch ihr Bruder Matthew, der Rektor der Grundschule, nach Dorcas Mason geforscht hat. Ist er etwa auch hinter dem Wordsworth-Manuskript her und will es Jane vor der Nase wegschnappen? Das macht sie fuchtsteufelswild! Nur das Auftauchen ihres schwulen Freundes Dan, der an ihrem College unterrichtet, beruhigt sie wieder. Er recherchiert an der Uni, findet aber keine Dorcas Mason. Ist dies das Ende ihrer Suche, fragt sich Jane wiederholt. Aber keineswegs, und als sie die Pathologien River Wilde kennenlernt, die die Moorleiche seziert, ergeben sich einige interessante Aspekte.

Tenille bei Jane

Dass Tenille bei ihr aufkreuzt, um Obdach zu erhalten, erschüttert Jane, doch sie kann ihr geistiges Mündel, diese Lyrik-Liebhaberin, natürlich nicht fortschicken: Die völlig abgebrannte Tenille ist halbverhungert und völlig erschöpft. Jane versteckt sie in einer abgelegenen Hütte, die nicht jeder beachtet. Tatsächlich gelingt es ihr, Detective Chief Inspector Ewan Rigston von der Polizei in Keswick hinters Licht zu führen, sodass Tenille nicht entdeckt wird. Tenille wird wegen Mordes und Brandstiftung gesucht. Nicht gerade leichte Verbrechen, aber Jane hält den 13-jährigen Teenager zu solchen Taten unfähig. Das ist ein Irrtum.

Tenille will sich ihrerseits für Janes Hilfe revanchieren. Nachdem ihr Jane eine Liste mit den Nachfahren von Dorcas Mason gezeigt hat, macht sich das Mädchen auf nächtliche Touren zu den einschlägigen Damen. Ist es ein Zufall, dass Tillie und Letty kurz danach das Zeitliche segnen? Und bei einem der Opfer läuft Tenille dem wahren Mörder fast in die Arme. Hat er sie gesehen, fragt sie sich, als sie auf Janes Fahrrad nach Hause hetzt, wird er sie verfolgen und finden?

Mein Eindruck

Ist dies Val McDermids Version von Dan Browns Bestseller „Sakrileg„, fragte ich mich in der Mitte des Romans. Das gesuchte Manuskript – das Gegenstück zu Dan Browns heiligem Gral – ist immer noch nicht gefunden, doch schon fallen links und rechts die Opfer wie Späne, wenn gehobelt wird. Es gibt eine Todesliste, wiewohl unabsichtlich, und selbstverständlich mehrere Verdächtige. Die Bullen sind – hoffentlich wie selbstverständlich – auf der falschen Fährte, und nur die Hauptverdächtige, Jane Gresham, hält sich für unschuldig wie ein neugeborenes Baby.

Aber ich fürchte, dass Val McDermid etwas ganz anderes im Sinn hatte, als zu demonstrieren, dass es auch in Merry Old England eine solche Hetzjagd nach dem verborgenen Manuskript geben könnte. Sicher, William Wordsworth ist zu einer Art Nationalheiligtum ernannt worden, das kein Wässerchen trüben kann, doch wie in allen Dingen, so demonstriert die Autorin, verhält es sich in der Realität anders als in der – häufig zensierten – Vorstellung und Wahrnehmung.

Nicht nur ist Wordsworth, immer ein Hofdichter Königin Victorias, pikanterweise mal jahrelang in die französische Revolution verwickelt gewesen und hatte eine Affäre mit einer Revoluzzerin. Nein, er hatte offenbar zu allem Überfluss auch noch einen Meuterer zu Gast, dem im 18. und 19. Jahrhundert der Galgen drohte: Fletcher Christian. Christian, Wordsworths alter Schulfreund und entfernter Verwandter, ist wohl der berühmteste aller Meuterer der Welt- und Literaturgeschichte, wegen „that Mel Gibson thing“, ‚Die Meuterei auf der Bounty‚.

Der Mythos

Tatsächlich gehörte der abenteuerliche Bericht über die Meuterer und wie es ihnen danach erging, zu den Lieblingsbüchern meiner frühen Jugend, und ich stellte mir vor, wie es wohl wäre, erst zu meutern und dann selig und zufrieden in der Südsee zu leben, umgeben von schönen, freigebigen Frauen, Freunden und immerwährendem Überfluss. Dieses Bild zeichnen die in McDermids Roman eingeschobenen Auszüge aus Fletcher Christians Bericht auch tatsächlich von der Insel Otaheite, die heute besser als Tahiti bekannt ist.

Utopia

Christians gelang es sogar, auf Pitcairn Island ein funktionierendes Gemeinwesen aufzubauen, allerdings mit eingebautem Konstruktionsfehler: die brutale Unterdrückung und Ausbeutung der mitgebrachten Tahitianer. Über kurz oder lang musste dieses Experiment einer idealen Gesellschaft, wie sie beispielsweise Wordsworths Freund Coleridge (s. o.) konkret in den USA plante, schiefgehen: „Die Schlange war schon im Paradies“, wie es Christian formuliert.

Parallelen

Durch diese eingeschobenen Kapitel werden die Parallelen zwischen dem 18. Jahrhundert und dem 21. Jahrhundert sehr deutlich. Denn Tenille Hampton befindet sich in exakt der gleichen Lage wie einst Fletcher Christian, nachdem er in seine Heimat zurückgekehrt war und sich für ein paar Stunden bei Wordsworth im hinteren, abgeschlossenen Garten von Dove Cottage versteckte. Tenille ist ebenfalls schon vorverurteilt worden für etwas, das sie nicht getan hat, befindet sich auf der Flucht und versteckt sich vor dem langen Arm des Gesetzes, unterstützt nur von Jane Gresham. Tenille weiß wie der Meuterer, dass sie von Old Bill, der Polizei, kein Verständnis zu erwarten hat. Und das bereits mit 13 Jahren.

Gegensätze

Der eigentliche Reiz des Buches und Anlass zu vielfältiger Ironie ist der Gegensatz zwischen der „streetwise“ Tenille und der ahnungslosen, aber wissensreichen Jane Gresham. Das Wissen der erst 25 Jahre alten Jane über die Welt erstreckt sich vor allem auf ihre Jugend und Ausbildung, aber das umfangreiche, angelesene Wissen hat sie in keinster Weise auf die Ereignisse vorbereitet, die sich so blutig in ihrer Heimat ereignen.

Und dabei ist sie es ja, die die Initialzündung dafür geliefert hat: die Suche nach dem Manuskript bei Dorcas Masons Nachfahren. Ihre Suchliste erweist sich als Todesliste, als wäre sie eine Terroristin, die jeden Feind einen nach dem anderen „ausknipsen“ würde. Da kann einem Mädchen wie Jane schon mulmig werden. Jane steht für das alte, weiße England. Die Autorin porträtiert dieses ländliche England in wundervoller Ironie, so etwa in der Beschreibung von „Bossy Barbara“, der Ahnenforscherin von Keswick, die im Internet recherchiert (und dabei entlarvende Fehler macht). Die Art und Weise, wie Barbaras Heim in den ironischsten Tönen geschildert wird, brachte mich zum Totlachen. Ich habe solche Häuser, die nach Vorbildern aus „Schöner wohnen auf dem Lande“ gestaltet sind, selbst kennengelernt.

Auf der anderen Seite steht Tenille für die Unterseite dieser Gesellschaft, die unterprivilegierten, verachteten, meist kriminellen und in Sozialghettos abgeschobenen Farbigen (auch aus Westindien usw.), die nur eine winzige Chance bekommen, jemals einen lukrativen, anerkannten Job zu bekommen. Tenille will nicht mit vierzehn schon zwei Babys haben wie ihre Geschlechtsgenossinnen. Sie will den Idealen der Romantiker und ihrer Verse – sie zitiert liebevoll aus John Keats „Ode an eine Nachtigall“ – folgen und freie Natur erleben. Als sie in der Hütte auf Janes Elternhof liegt, entdeckt sie den Sternenhimmel, den sie nie zuvor gesehen hat. Sie sieht Seen und Berge und Heide, eine Landschaft, die sie sich nicht einmal vorstellen konnte. Von den vielen Schafen ganz zu schweigen.

Zum 21. Jahrhundert, mit dem Jane, ihre Eltern und die ältere Generation konfrontiert werden, gehören auch Homosexuelle wie Jimmy Clewlow (Dorcas Mason heiratete einen Clewlow), Janes Schulfreund, und Dan, Janes Kollegen und Freund aus London. Kimmy und Dan verlieben sich auf der Stelle ineinander, was Jane aber nicht weiter aufregt. Vielmehr fühlt sie sich bei Dan sicher und getröstet, was sich aber als Irrtum herausstellt. Auch ihr Ex, Jake Hartnell, erweist sich als falscher Fuffziger, und als sie ihn auf die Probe stellt, erkennt sie, dass ihm, wie ihrem Bruder, mehr am Geld und Ruhm liegt, die ihm das Manuskript einbringen soll, als an ihr, Jane, als einem Menschen, den er lieben könnte.

Jane und ihre falschen Freunde – auch dies ist ein Echo von Fletcher Christians Schicksal. Er zieht ein Fazit von der Natur des Menschen: „vanity und fallibility“, Eitelkeit und Täusch- bzw. Fehlbarkeit, sind die Nenner, die er zieht. Und in der Tat erweisen sich diese beiden Eigenschaften als die Hauptmerkmale der Merkmale, die sich in Jane (täuschbar, fehlbar) und ihrer Umgebung (eitel, gierig, täuschbar, bis auf wenige Ausnahmen) immer wieder finden.

Sogar Ewan Rigston, der den pompösen Titel „Detective Chief Inpector“ vor sich herträgt wie eine Kriegsstandarte auf einem Feldzug gegen das Böse, ist durch seine Voreingenommenheit schwer auf dem Holzweg. Der einzige Faktor, der für mildernde Umstände sorgt, ist seine Affäre mit der quirligen Pathologin River Wilde. River ist es denn auch, die Jane Gresham vorbehaltlos und ehrlich zuhört und beisteht.

Pirate Peat

Mir war River von Anfang an sympathisch und zwar vor allem durch ihre Art, sich selbst nicht zu ernst zu nehmen. Sie tauft die Moorleiche nicht etwa „Den Mann aus dem Moor“, als wäre er aus der Steinzeit, sondern vielmehr „Pirate Peat“ (peat = Torf aus dem Moor; Peat ist homophon zu „Pete“), als handle es sich um den Helden eines Hollywood-Piraten-Films. Kein Wunder, dass Pirate Peat in der TV-Sendung, die River ergattert, eine wunderbare Figur macht, selbst wenn er nur still daliegt. Seine Tätowierung aus der Südsee verleiht dem Buch den vieldeutigen Titel „The grave tattoo“.

Finale

Wie in jedem anständigen Krimi, den Val McDermid je geschrieben hat, gibt es auch hier einen ordentlichen Showdown, ein feurig-blutiges Finale. Der Kampf auf Leben und Tod, in den sich Jane unvermittelt verwickelt sieht, setzt in ihr ungeahnte, primitive Kräfte frei. Sie wird zur wilden Furie, überwindet sämtliche Kultiviertheit und alles angelernte Wissen, geht auf Angreifer und Verräter los, als gelte es, sie mit Zähnen und Klauen zu bekämpfen. Kein Wunder, hat sie doch bereits einen Mordanschlag überlebt. Und die halbwegs unberührte Natur ringsum passt sogar bestens zu diesem Ausbruch an ursprünglichen Gefühlen. Man kann sich Jane sogar als eine Kriegerprinzessin der keltischen Ureinwohner vorstellen, die hier in Nordengland einst gelebt haben.

Unterm Strich

Von den Kelten über einen Meuterer und einen Dichterfürsten bis zu den Viktorianern, Landbewohnern und Dschungelpflanzen wie Tenille, die Tochter eines Gangsters. Es ist auf den ersten Blick nicht allzu viel, was die Menschen, auf lange Sicht gesehen, voneinander unterscheidet. Aber wenn man sie in einem Querschnitt durch eine bestimmte Zeit – hier im September 2005 – zusammentreffen lässt, ergibt sich dennoch eine explosive Mischung. Das ist die wahre Kunst, die die Autorin demonstriert, um eine Aussage über die Natur Menschen zu machen: „vanity and fallibility“, genau wie Fletcher Christian schrieb: Eitelkeit und Fehlbarkeit.

Die Story an sich mag einen nicht gerade vom Hocker hauen – Dan Browns „Sakrileg“ lässt grüßen. Aber es kommt auf die Variationen an, die durch Tenilles Auftauchen und die Parallelität ihres Schicksals zu dem des Meuterers Fletcher Christian in die Geschichte einbezogen werden. Es ist auch eine Aussage über die Gegenwärtigkeit des Vergangenen: Moorleichen und Manuskripte, wo ist da der Unterschied? Aber wenn man liest, dass es um eine Million Pfund für ein paar lumpige, alte Zeilen eines Dichterfürsten geht, dann ist das ein ätzender Kommentar auf die Gier eines ganzen Zeitalters. Und dabei fällt kein einziges Mal das Wort „Finanzinstitut“.

Taschenbuch: 544 Seiten
Originaltitel: The Grave Tattoo (2006)
Aus dem Englischen von Doris Styron
ISBN-13: 978-3426635155

https://www.droemer-knaur.de/

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