Val McDermid – Das Kuckucksei (Kate Brannigan 4)

Verbotene Schwangerschaften

In Manchesters Klubszene kennt sich die abgebrühte Privatdetektivin Kate Brannigan bestens aus. Aber in der Fertilisationsforschung? Von ihrer besten Freundin Alexis, der Journalistin, lässt sich Kate überreden, den Tod einer Ärztin aufzuklären, der Alexis ihre Schwangerschaft zu verdanken hat – und stößt auf illegale Machenschaften… (Verlagsinfo)

Die Autorin

Die 1955 geborene Val McDermid wuchs in Kirkcaldy, einem schottischen Bergbaugebiet nahe St. Andrews, auf und studierte dann Englisch in Oxford. Nach Jahren als Literaturdozentin und als Journalistin bei namhaften englischen Zeitungen lebt sie heute als freie Schriftstellerin in Manchester und an der Nordseeküste. Sie gilt als eine der interessantesten neuen britischen Autorinnen im Spannungsgenre – und ist außerdem Krimikritikerin. Ihre Bücher erscheinen weltweit in 20 Sprachen. Für „Das Lied der Sirenen“ erhielt sie 1995 den Gold Dagger Award der britischen Crime Writers‘ Association. (Verlagsinfo)

Kate Brannigan-Fälle:

1) Abgeblasen (1992)
2) Luftgärten (1993)
3) Skrupellos (1994)
4) Das Kuckucksei (1996)
5) Clean Break (1997)
6) Das Gesetz der Serie (1998)

Handlung

Privatdetektivin Kate Brannigan hat gerade die Todesanzeige für ihren Dauerliebhaber Richard in die Zeitung gesetzt, da taucht auch schon der erwartete Vertreter für Grabsteine bei ihr auf. Will Allen ist ein geschniegelter Typ, aber seine Visitenkarte hat er im Automaten drucken lassen. Genau wie seine Karte ist auch er ein falscher Fuffziger: Er gehört zu einem Ring von Betrüger, die per Grabstein – der natürlich nie geliefert wird – Geschäfte mit der Trauer ihrer Opfer machen.

Gälische Gorillas

Leider macht die unerwartete „Wiederauferstehung“ der verblichenen Richard Kate einen dicken Strich durch die Rechnung. Will Allen nimmt sofort Reißaus, doch Kate hat nun den empörten Lover und seine zwei schrägen Begleiter am Hals. Diese sollen laut Richard, Musikjournalisten, Mitglieder einer aufstrebenden schottischen Band sein, die den Namen Louis Kamm und die grindigen Bälger“ trägt – dabei ist Grunge bereits ebenso tot wie Kurt Cobain. Kate, so Richards listiger Hintergedanke, soll aufklären, wer der Promo und dem Image der Band von Louis Kamm schadet, ja, sie sogar zu Neonazis stilisiert.

Illegales Leben

Kaum hat Kate Richard beruhigt und hat die „gälischen Gorillas“ in die Wüste geschickt, als auch schon ihre beste Freundin Alexis Lee, die Redakteurin von der Tageszeitung, aufkreuzt. Sie hat schlimme Dinge zu vermelden: Alexis hat mit Chris, ihrer lesbischen Lebenspartner eine künstliche Befruchtung eingeleitet, und einer der drei Embryos hat sogar, in Chris eingenistet, überlebt. Aber die Ärztin Sarah Blackstone alias Dr. Helen Maitland, tja, bei der wurde eingebrochen, sie selbst ist von dem Einbrecher getötet worden. War es Notwehr, wie die Zeitung schreibt? Wie auch immer, nun befürchtet Alexis, dass die höchst illegale Machenschaft mit der künstlichen Befruchtung auffliegt und die beiden glücklichen Mütter doch noch vor Gericht landen.

Das kann Kate absolut nachvollziehen. Denn in Britannien kann nicht sein, was nicht sein darf, und dazu gehört, dass Frauen sich ihre Kinder selber machen, also ohne männlichen Beitrag. Als sie in der Klinik, in der Dr. Maitland gearbeitet haben soll, vorstellig wird, um einen Termin zu bekommen, weiß die zuständige Schwester nichts vom Verschwinden der Ärztin – und gibt Kate, die sich als „Sarah Blackstone“ ausgibt, ungerührt einen Termin. Natürlich sonntags, denn Dr. Maitland hat nur am Sonntag Sprechstunde – und ist auf Wochen hinaus ausgebucht. Die Nachfrage nach ihrem Service scheint hoch zu sein.

Entdeckt und überrascht

Unterdessen macht Kate mithilfe eines Computergenies (lies: Hacker) den verdächtigen „Will Allen“ ausfindig, der sich nach Feierabend mit einer aufgetakelten Geschäftsfrau namens „Sally“ Sargent“ – ganz klar ein Deckname – absetzt. Leider verliert sie die beiden im Manchester-Dauerstau aus den Augen.

Gleich darauf überrascht ihr Geschäftspartner Bill Mortensen a) mit seiner Rückkehr aus Australien und b) mit seiner Verlobten von dortselbst und c) mit seiner Absicht, seinen Senioranteil an der gemeinsamen Detektei zu veräußern. Ist das Leben nicht etwas Wunderbares?

Nächtliche Action

Eingedenk der Befürchtungen von Alexis sucht Kate an die Informationen heranzukommen, die Blackstone alias Maitland gespeichert haben muss. Sie bricht nächtens über die Hintertreppe und Brandschutztür in die Frauenklinik ein – sofort geht die Alarmsirene los. Nach 20 Minuten verstummt das plärrende Mistvieh, was ihr genügend Zeit gibt, sich in Maitlands Büro umzusehen. Der Computer ist weg, aber sie entdeckt drei Disketten in einem Umschlag und versteckt diesen Datenschatz an ihrem Körper.

Doch der Rückweg ist versperrt: Erst kommt der Hausmeister, dann der Sicherheitstechniker, schließlich blockiert ein Bulle die Treppe. Jeder strategische Rückzug würde jetzt entdeckt werden. Die beste Gelegenheit, sich strategisch günstig mal aufs Ohr zu hauen und auf bessere Zeiten zu warten – an Helen Maitland kann sie sich immer noch heranmachen…

Mein Eindruck

Ein klarer Fall von falscher Identität: Die getötete Sarah Blackstone hatte sich den Namen „Helen Maitland“ ausgeliehen, um ihren illegalen Hinterzimmermachenschaften nachgehen zu können. Doch zu welchem finsteren Zweck, fragt sich Kate. Schließlich geht es doch bloß um künstliche Befruchtung. Die wirkliche Helen Maitland ahnt von alldem nichts, doch war Sarah bis vor wenigen Monaten mal ihre engste Freundin – lies: Geliebte – gewesen. Dann kam es zum Bruch. Vermutlich ging es darum, dass Sarah ein Kind wollte, Helen aber nicht.

Sarah hatte nicht nur für sich, sondern auch für viele lesbische Paare im Großraum Manchester eine echte Lücke in der Versorgung gefunden: Nachkommenschaft. Weil aber nun mal die britischen Gesetze – zumindest 1996 – künstliche Befruchtung für Lesben verbieten, musste Sarah quasi in den Untergrund gehen. Denn Fertilisation zwischen Frauen ist durchaus realisierbar, wenn auch nur in einem entsprechend teuer ausgestatteten Labor. Es ist keineswegs Cloning oder Parthenogenese, um das es geht, solange es sich um zwei verschiedene Frauen handelt. Die genetischen Defizite halten sich daher in Grenzen.

Soweit die Theorie. Die Praxis ist natürlich weitaus vielschichtiger. Denn Sarah sah eine einzigartige Chance, ihren eigenen, mit Helen nicht realisierbaren Kinderwunsch Wirklichkeit werden zu lassen: Sie entnahm sich ihre eigenen Eier und kombinierte sie mit dem Erbgut fremder Mütter. Diese fremden Mütter wurden dabei allerdings betrogen. Kate hütet sich, ihre Klientinnen mit der Möglichkeit zu konfrontieren, dass ihnen möglicherweise ein Kuckucksei ins Nest gelegt worden ist. Alexis und Christie, jüngst ins selbstgebaute Häusle eingezogen, sind begeistert von ihrer – ebenfalls selbstgebauten (wirklich?) – Tochter. Wer könnte es wagen, ihnen diese Freude zu verderben? Oder irgendeinem anderen Paar Mütter?

Unterdessen

Die findige Kate lässt sich von Bill Mortensens Ausstieg aus der gemeinsamen Firma nicht unterkriegen – zu viel vom Munde abgespartes Geld hat sie hineingesteckt. In Ruth Hunter, ihrer bevorzugten Anwältin und Freundin, findet sie eine Teilhaberin und in Donovan, dem erwachsenen Sohn ihrer Bürochefin Shelley, findet sie einen Zusteller von lukrativen Vorladungen. Mit Gizmo stellt sie einen Hacker ein, der ihr allerlei digitale Beweisstücke liefert.

Doch um den „gälischen Gorillas“ des Lois Kamm beizuspringen, bedarf es mehr als Vorladungen und Hacking. Kate muss sich tief in die Klubszene wagen – und stößt auf einen veritablen Krieg unter den Banden, die sich ums Publicity- und Eventgeschäft zanken. Nur dass sie in letzter Zeit nicht mehr untereinander kämpfen, sondern mit einem neuen Feind – und der hat das Recht automatisch auf seiner Seite…

Die Übersetzung

Die Übersetzung von Sabine Messner und Else Laudan erschien 1996 im einschlägig vorbelasteten Argument-Verlag, wo bekanntlich alles, was spannend und phantastisch ist, verlegt wurde, solange in den Texten lesbische Liebe vorkam. Und die kommt bei einer Tabubrecherin wie McDermid allenthalben vor: Kate Brannigans beste Freundin Alexis ist in einer lesbischen Beziehung.

Sprachlich gefällt mir sehr die schnoddrige Ausdrucksweise Kate Brannigans (= Val McDermids), stilistisch die vielen deutschen Redewendungen, die den Text wie ein einheimisches Produkt wirken lassen. Saubere Arbeit. Leider haben sich ein paar Druckfehler eingeschlichen.

S. 72: „übersehen, dass ich [in] neuerdings viel mehr Zeit mit ihr verbrachte.“ Das Wörtchen ist bei der Korrektur übriggeblieben und gehört gestrichen.

S. 164: „Gebäude, das trotz der größeren Gebäude rings um den St. Peter’s Square beherrschte.“ Mal von der unschönen Wiederholung der „Gebäude“ abgesehen, wird der Leser zunächst von der restlichen Satzkonstruktion verwirrt. Das lässt sich aber leicht beheben: man muss nur „rings um“ zusammenschreiben: „ringsum“. Dann entsteht endlich ein gewisser Sinn, wenn auch nicht gerade guter Stil.

Unterm Strich

Mit dem O-Titel „Blue Genes“ ist der Autorin ein wunderbares Wortspiel auf „Blue Jeans“ gelungen. Die beiden Titel decken die beiden Hauptthemen des Romans ab: Gentechnik und die Musikszene, für die Manchester seit jeher berühmt ist (sehr zum Neid von Liverpool und London). Beide Themen mögen den damaligen Zeitgenossen gewagt und marginal erschienen sein, aber die Autorin war ihrer Zeit lediglich ein klein wenig voraus.

Welcher männliche Leser könnte sich auch mit den Problemen und Wünschen von lesbischen Paaren identifizieren? Ganz besonders , wenn es um Fortpflanzung auf nicht ganz natürlichem Wege geht, fangen männliche Leser, die sich als obsolet gebrandmarkt sehen, an, in den Lesestreik zu treten. Wenn es um Fertilisation geht, mögen sich Lesben zwar über die vielen Möglichkeiten freuen, doch die Autorin klärt sie auch über das Risiko auf, übers Ohr gehauen zu werden: Die Ärztin jubelt ihren Klientinnen eigene Eier unter. Der deutsche Romantitel ist also vollauf gerechtfertigt.

Doch wo bleibt die Action, mag sich auch manche Leserin verwundert fragen. Die Autorin hat ihre Protagonistin bislang immer zuverlässig in die Bredouille geschickt, bis hin zur Lebensgefahr. Doch diesmal muss man sich bis zum Finale gedulden, bis es einen veritablen Showdown gibt. Dass dieser nicht ohne Komplikationen abläuft, darf man von der kompetenten Autorin erwarten. Aber sie hatte ihre Heldin auch noch nie direkt in eine Konfrontation mit den Hütern des Gesetzes geschickt…

Ich war mit der spannenden Lektüre vollauf zufrieden. Nur für die kleinen Druckfehler gibt es Punktabzug.

Taschenbuch: 367 Seiten
Aus dem Englischen von Sabine Messner & Else Laudan
www.droemer-knaur.de

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