Harlan Coben – Kein böser Traum

Ein altes Foto zieht die Familie einer Künstlerin in einen Strudel aus Rache, Lebensgefahr und Mord, der stetig wächst und weitere Menschen ins Verderben stürzt … – Komplex geplotteter, spannender Thriller, dessen Verfasser meisterlich die Kunst beherrscht, seine Leser Stück für Stück in das große Geheimnis einzuweihen und trotzdem immer noch einen Trumpf in der Hinterhand zu behalten. Die Figuren ‚leben‘, Emotion versumpft nie in Gefühlsduselei; kurz: Für diesem Coben-Krimi kann eine uneingeschränkte Empfehlung ausgesprochen werden.

Das geschieht:

Vor 15 Jahren fand Grace Lawsons Leben beinahe ein brutales Ende, als während eines Rockkonzerts plötzlich Schüsse fielen. Der ausbrechenden Panik fielen zahlreiche junge Menschen zum Opfer; Grace erlitt schwere Kopf- und Beinverletzungen, unter denen sie noch heute leidet. Immerhin traf sie auf einer ausgedehnten Genesungsreise, die sie nach Europa führte, ihren späteren Ehemann Jack, mit dem sie inzwischen zwei Kinder hat.

Jack spricht ungern über seine Vergangenheit, was Grace stets tolerierte. Doch nun findet sie in einem Stapel aktueller Urlaubsfotos eine alte Aufnahme, die einen sehr jungen Jack mit vier Männern und Frauen zeigt. Als Grace ihrem Gatten das Foto präsentiert, reagiert dieser erschreckt, begibt sich auf eine unverhoffte Dienstfahrt – und verschwindet spurlos. Die Polizei nimmt an, dass er die Familie verlassen hat, was Grace weder glauben kann noch will. Einmal nur meldet sich Jack kurz telefonisch bei ihr, wobei sie merkt, dass er unter Druck mit ihr spricht. In der Tat befindet sich Jack in der Gewalt des Berufskillers Eric Wu, der ihn im Auftrag eines Unbekannten gekidnappt hat und gefangen hält.

Grace macht sich selbst auf die Suche nach ihrem Mann. Sie wird von Carl Vespa unterstützt, einem gefürchteten Mafiosi, der seinen einzigen Sohn bei besagtem Rockkonzert verlor. Vespa sorgt außerdem für Personenschutz, denn inzwischen ist Wu auf die hartnäckige Verfolgerin aufmerksam geworden und plant sie sich vom Hals zu schaffen. Weiterhin mischt sich ein undurchsichtiger Ex-Anwalt ins Geschehen ein, und Jacks zwielichtige Schwester taucht auf. Ein Komplott beginnt sich abzuzeichnen, in dem der verschwundene Jack und das verhängnisvolle Rockkonzert zentrale Rollen spielen. Jemand will nach vielen Jahren Rache und unterscheidet dabei nicht zwischen Tätern, Verdächtigen oder Unschuldigen …

Schnell, spannend, überraschend

Ein einziger Fehler kann nicht nur dein Leben zerstören, sondern auch das deiner Familie und deiner Freunde. Die Folgen werden noch gravierender, wenn du diesen Fehler zu vertuschen versuchst. Es wird nicht klappen, denn stets gibt es Zufallsfaktoren, die den perfektesten Plan zum Scheitern bringen. Dann muss ‚nachgebessert‘ werden: Neues Unrecht fügt sich zum alten, immer radiusweiter werden die Kreise, die das Verderben zieht. Es entsteht ein Sog, der Schuldige wie Unschuldige an sich reißt.

Mit ebenso perfekter wie perfider Präzision führt uns Harlan Coben die Mechanismen eines solchen Dramas vor. Nur ein Blick – auf das verhängnisvolle Foto nämlich – reicht aus, das perfekte Vorstadtleben einer US-amerikanischen Bilderbuchfamilie in einen Albtraum zu verwandeln. Natürlich ist dieses Foto nur der Auslöser; es bringt Bewegung in ein Geschehen, das tief in der Vergangenheit wurzelt und seither unbemerkt, aber ungehindert weiterwuchert, bis es über denen, die es gepflanzt haben, zusammenbricht.

Was geschehen ist bzw. geschieht, bleibt uns Lesern erfreulich lange unklar. Verfasser Coben erzählt chronologisch stringent, doch er zerlegt seine Geschichte in einzelne Handlungsstränge, die er getrennt entwickelt. Irgendwann führt er sie zusammen, doch nie lüftet er dabei mehr als einen Zipfel des Geheimnisses, wobei er sogleich neue Falschfährten legt. Nichts ist so wie es scheint, niemand ist unverdächtig – wirklich niemand, denn mit einer wirklich gelungenen und unerwarteten Wendung überrascht uns Coben noch nach dem eigentlichen Finale, das die vielen Fragen nicht nur zufriedenstellend, sondern auch noch actionreich und überzeugend beantwortet.

Dem Schrecken irgendwie gewachsen

Coben ist sicher kein Neuerer des Kriminalromans. Jede Szene, jede Figur ist selbst dem nicht so eifrigen Genrefreund bekannt. Entscheidend ist, was der Verfasser aus seinem Stoff macht. Coben jongliert virtuos mit vielen Bällen. Bewundernswert ist das sichere Gespür, mit der er aus einer Szene die größte Wirkung holt und präzise den Absprung zum nächsten Höhepunkt schafft. Nicht einmal den uralten Trick, eine Szene im spannendsten Moment erst einmal enden zu lassen, mag man ihm ankreiden, obwohl beinahe jedes Kapitel als „Cliffhanger“ endet.

Ein männlicher Schriftsteller wählt als Hauptfigur eine Frau – das ist keine Entscheidung ohne Risiko. Vor allem in unseren politisch so korrekten Zeiten darf eine Frau wie Grace Lawson zwar Ehefrau und Mutter sein, muss aber gleichzeitig emanzipiert und selbstständig bleiben. Coben beugt sich dieser Forderung insofern, als er aus Grace eine erfolgreiche Kunstmalerin macht, ohne freilich auf dieser Tatsache unnötig herumzureiten. Das muss er auch gar nicht, denn es gelingt ihm mit Grace eine gelungene Frauenfigur, die den Anforderungen für einen Thriller wie „Kein böser Traum“ entspricht.

Grace ist eine ‚gebrochene‘ Heldin, dies sogar im buchstäblichen Sinn, denn sie leidet unter den Spätfolgen schwerer Verletzungen. Anderseits hat sie diese Vergangenheit hart im Nehmen gemacht: Grace ist kein Opfer, sondern wird aktiv, als sie und vor allem ihre Familie in Gefahr geraten. Coben hat diesen Wesenszug so gut vorbereitet, dass es nie wie das Klischee vom schnaubenden Muttertier heraufbeschwört, das den Gangstern an die Gurgel geht. Ohne die etwas herbeigezwungene Bekanntschaft zum Mafiamann Vespa würde Grace natürlich nicht weit kommen. Der Schurke als trauernder Vater: Auch hier wandelt Coben auf dünnem Eis, doch er bricht wiederum nicht ein. Vespa wirkt in dem einen Moment traurig, im nächsten blitzgefährlich. Nicht einmal Carla ist vor seinem Misstrauen sicher.

Verzicht auf langweilende Perfektion

Ohnehin ist in dieser Geschichte niemand die Person, die er oder sie zu sein vorgibt. Gut und Böse sind für Coben – ganz wie im richtigen Leben – dehnbare Begriffe. Mit bewundernswerter Eleganz verschiebt er seine Figuren im Spektrum zwischen Weiß und Schwarz. Kann Grace Vespa trauen? Kann sie natürlich nicht, aber das gilt auch umgekehrt.

Sogar den definitiven Bösewicht seiner Geschichte zeichnet Coben mit ungewöhnlichen Farben. Eric Wu präsentiert er als unbarmherzige Mordmaschine, um genau dies sogleich wieder zu relativieren. Wu ist das Produkt einer brutalen und brutalisierenden Erziehung. Trotzdem sind ihm Gefühle nicht fremd. Noch realistischer wirkt Wu durch Cobens Kunstgriff, ihn in seinem Job Fehler machen zu lassen. Wu gerät unter Druck, arbeitet deshalb schlampig, weiß darum und kann es doch nicht ändern. Das wirkt logisch und bereitet vor, dass der übermenschlich starke Killer im genretypischen Schlussgefecht mit der Heldin den Kürzeren ziehen wird.

Alles richtig gemacht, Mr. Coben; dies ist das knappe Resümee eines zufriedenen Lesers. Der Verfasser versaut nicht einmal das Finale mit dem heute so beliebten ‚Überraschungsgag‘, der womöglich die gesamte bisherige Handlung ad absurdum führt; Jeffery Deaver ist geradezu berüchtigt für solche Hakenschläge. Cobens unverhoffte Enthüllungen werden geschickt in den Erzählfluss eingearbeitet. Sie runden die Story ab unf verstärken den Eindruck eines beachtlichen Endes, das ganz & gar nicht „happy“ ist.

„Kein böser Traum“ im Fernsehen

Das französische Fernsehen realisierte diesen Roman 2017 als sechsteilige Mini-Serie („Juste un regard“). Unter der Regie von Ludovic Colbeau-Justin spielt Virginie Ledoyen Eva Beaufils, Thierry Neuvic mimt den allzu verschwiegenen Gatten Bastien.

Autor

Der US-amerikanische Schriftsteller Harlan Coben wurde am 6. Februar 1962 in Newark, New Jersey, geboren. Er studierte Politikwissenschaften, arbeitete jedoch anschließend in der Tourismusbranche. Seit 1995 schreibt Coben Thriller, die von der Kritik wie vom Publikum außerordentlich geschätzt werden. Sie wurden in über zwanzig Sprachen übersetzt, ihr Verfasser mit Preisen förmlich überschüttet. Nie fehlt in seiner Biografie der Hinweis darauf, dass er als erster Autor mit den drei wichtigsten amerikanischen Krimipreisen – dem „Edgar Award“, dem „Shamus Award“ und dem „Anthony Award“ – ausgezeichnet hat. Coben lebt mit Frau und vier Kindern in New Jersey.

Taschenbuch: 415 Seiten
Originaltitel: Just One Look (New York : Dutton/Penguin Group USA 2004)
Übersetzung: Christine Frauendorf-Mössel
https://www.harlancoben.com
https://www.randomhouse.de/Verlag/Goldmann

eBook: 1956 KB
ISBN-13: 978-3-641-08438-7
https://www.randomhouse.de/Verlag/Goldmann

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