Scheck / Hauser (Hg.) – Als ich tot war (Dunkle Phantastik der britischen Dekadenzzeit – Band 2)

_Die Furie des Verschwindens: dekadente Phantastik mit Biss _

„Furcht und Leidenschaft, Verfall und Tod: Das sind die großen Themen der britischen Dekadenzphantastik. In 30 makabren geschichten – die meisten davon deutsche Erstveröffentlichungen – gewinnt das dunkle Erbe der Dekadenz faszinierende Gestalt.“ (Verlagsinfo)

Das vorliegende Buch ist derZzweite von zwei Bänden, in denen sich bekannte Autoren wie Jerome K. Jerome („Drei Mann in einem Boot“), Max Beerbohm, M. P. Shiel („Huguenins Frau“) und Arthur Machen („Der große Gott Pan“) wiederentdecken lassen.

_Die Herausgeber _

Frank Rainer Scheck, geboren 1948, Studium der Germanistik, Philosophie und Theaterwissenschaften. Seit 1976 Lektor in einem deutschen Verlag, seit 1993 freier Schriftsteller. Veröffentlichung mehrerer Sachbücher, langjährige Beschäftigung mit der Literatur des Phantastischen; diverse Publikationen, zuletzt die Anthologie (mit Erik Hauser) „Berührungen der Nacht“ (Leipzig 2002).

Erik Hauser, geboren 1962, Studium der Anglistik, Germanistik sowie der Vergleichenden und Allg. Literaturwissenschaft. Magister und Staatsexamen. 1997 Promotion mit einer Dissertation über den „Traum in der phantastischen Literatur“ (Passau 2005). Gymnasiallehrer in Mannheim und Lehrbeauftragter an der Uni Heidelberg.

_Die Erzählungen (Band 2)_

_1) Robert Hichens: Die Rückkehr der Seele_

Ronald Rainwood stammt aus einer verarmten Familie in Cumberland, die auf ein reiches Erbe hoffte, sobald die Großmutter stirbt. Auf ihren baldigen Tod hoffend besucht er sie über die Sommermonate, als er 16 oder 17 Jahre ist. Inzwischen hat er an der Schule einen Hang zur Grausamkeit gegenüber Schwächeren entwickelt, insbesondere gegenüber Tieren.

Dieser Zug zeigt sich schon nach seinem Einzug im neuen Domizil. Die schneeweiße Katze, Omas Schoßtier, lässt sich anfangs noch schnurrend von ihm streicheln, doch schon bald ändert sich ihr Verhalten, als ahnte sie instinktiv seinen Hass auf sie. Doch er darf sie auf keinen Fall töten, um die Großmutter nicht auf falsche Gedanken zu bringen oder gar zu schockieren. Doch noch am gleichen Tag, an dem er die Katze killt, entschläft auch die Großmutter. Das Erbe ist ansehnlich: ein komplettes Anwesen.

Als er 33 Jahre ist, fühlt er eine zunehmend lähmende Sinnentleertheit in seinem Leben. Deshalb trifft ihn der Anblick der quicklebendigen Debütantin Margot wie ein Hoffnungsstrahl und er lässt sich ihr sofort zum Tanz vorstellen. Selbstverständlich trägt sie wie alle Debütantinnen Weiß, Zeichen ihrer seelischen und körperlichen Unschuld. Ein Jahr lang sind sie verlobt, bevor er sie heiratet und mit ihr sechs Monate in den Flitterwochen verbringt.

Es gehört sich, dass sie auf seinem Stammsitz in Cumberland einzieht und ihnen beiden ein Heim daraus macht. Sie findet es merkwürdig, dass ihr der Anblick dieses Gemäuers eigenartig vertraut ist, obwohl sie noch nie hier war. Sie verbringt zunehmend Zeit allein und liebt besonders das Zimmer, in dem seine Großmutter starb. Allmählich schaut auch sie ihren Gatten mit anderen Augen an, diesen himmelblauen Augen. Und als ihren animalischen, biegsamen Gang bemerkt, beginnt er sie zu fürchten. Noch sonderbarer mutet ihn ihre Fähigkeit an, im Dunkeln zu sehen.

Er führt Tagebuch und vertraut diesem seine wachsende Furcht an. Die Furcht weckt seine uralte Grausamkeit, seine Herrschsucht. Kann er sie zügeln, wie er hofft? Als ob es noch eines Hinweises bedurft hätte, dass seine geliebte Margot besessen ist, verbreitet sich Professor Black anlässlich eines Nachbarbesuchs über die Seelenwanderung und Reinkarnation Verstorbener. Grob gesagt, würden Frauen als Katzen und umgekehrt wiedergeboren, Männer als Hunde und umgekehrt. Da fällt es Ronald wie Schuppen von den Augen und er betrachtet Margot mit anderen Augen.

Doch sie ist nicht mehr die furchtsame Frau, die seine Gegenwart scheut, sondern wirkt vielmehr entschlossen. Nun bekommt er es erst recht mit der Angst zu tun. Ihr kleinster Versöhnungsversuch, ihr liebliches Lächeln versetzt ihn Panik. Denn was führt sie im Schilde und wozu ist sie fähig?

|Mein Eindruck|

Wie Shiels Erzählung „Huguenins Weib“ geht es hier um das antike Konzept der Seelenwanderung oder Metempsychose. Das Besondere dabei ist der Umstand, dass es kein Vorfahr ist, der Wiedergeburt erlebt, sondern eine Katze. Der richtige Dreh zu einer Rachegeschichte wird dadurch erzeugt, dass es die Katze ist, die der Ich-Erzähler ermordet hat (er sagt nie, auf welche Weise), die wiedergeboren wird und nun auf ihn reagiert, als wäre sie seine Gestalt gewordene Nemesis.

Durchweg ist die breit ausgewalzte Geschichte durch Farbkodierung zusammengehalten. Das weiße Haar der Großmutter findet sich im schneeweißen Fell ihrer Katze wieder, sodass man fast von einer Identität sprechen kann. Tatsächlich hätte nicht viel gefehlt, und Ronald hätte seiner Oma auf dem Weg ins Grab ein wenig nachgeholfen. Der Katzenmord ist also nur ein verschlüsselter Verwandtenmord.

Es verwundert nicht, dass die wiedergeborene Katze ebenfalls ganz in Weiß auftritt, nämlich als obligatorisch weiß gewandete Debütantin Margot. Ronald begegnet ihr zuerst mit Entsetzen, aus keinem ersichtlichen Grund. Dann nennt er sich einen Narren und tanzt mit ihr. Er bezeichnet sie mehrfach als ein Kind, um ihre Unschuld zu betonen. Von Sex ist daher nie die Rede. Stets trägt sie das unschuldige Weiß, wenn sie ihm als Katze erscheint: Er hat die Unschuld gemordet. Folglich hat er nun Angst vor den Folgen seiner Tat.

Das alles ist recht folgerichtig und als griechische Tragödie inszeniert. Doch die zahlreichen Vorausverweise stören die Wucht der Ereignisse und Erkenntnisse. Stets ist der Leser schon vorbereitet, was an Schrecken als nächstes kommt. Vielleicht war dies seinerzeit ein Trick von Fortsetzungsschreibern – und dies ist jetzt die erstmals zusammengestellte Version aller Folgen. (Sie erschien 1895 im „Pall Mall Magazine“ unter dem Titel „A Reincarnation“.) Wie auch immer: So ist schnell die Luft raus, und ich konnte die 60 Seiten nur in Etappen bewältigen, zumal das folgerichtige Ende schon lange vorher abzusehen ist.

_2) R. Murray Gilchrist: Der Basilisk (The Stone Dragon)_

Der Ich-Erzähler begehrt und verehrt die Lady Marina schon seit Wochen vergeblich, doch wenn sie auch seine Anbetung ihrer schier göttlichen Gestalt und Seele anerkennt, so könne sie sie doch nicht erwidern. Sie habe vor langer Zeit einen Blick ins Auge des Basilisken getan, sagt sie, und seitdem sei ihr Herz von Stein.

Doch eines Morgens versetzt sie ihn in Entzücken, als sie ankündigt, sie habe einen Weg gefunden, sein Verlangen, das nun auch das ihre sei, zu erwidern. Dazu müsse sie jedoch dem Basilisken ein Opfer darbringen. Zusammen reiten sie in jenen Sumpf, der wie eine Wildnis am Rande ihrer weitläufigen Ländereien liegt, steigt ab und führt ihn zu einer verborgenen Insel, auf der ein Tempel emporragt.

Sie verbindet ihrem Begleiter die Augen und warnt ihn, sich zu bewegen, bevor sie ihn rufe. Er hört, wie sie die Stufen zu der verschlossenen Tür zum Tempel emporsteigt und anklopft. Ein Schrei dringt heraus, der ihm durch Mark und Bein fährt. Es vergehen Stunden, bis sie zurückkehrt und ihm die Augenbinde abnimmt. Es sei vollbracht, ihr Opfer dargebracht, sagt sie heiter, bevor sie ihn umarmt und küsst. Glückseligkeit!

Nun steht der Verlobung nichts mehr im Wege, eine Feier samt Festessen und Tanz findet in ihrem Hause statt. Allerdings erscheinen ihm die Gestalten, die seiner Braut gratulieren, eher wie Titania und Oberon sowie etliche Trolle. Die erste gemeinsame Nacht vergeht wie ein Traum aus Sinnlichkeit und Liebe. Doch das Erwachen ist grausam. Denn auch von ihm verlangt der Basilisk ein Opfer …

|Mein Eindruck|

Dies ist eindeutig eine Geschichte über Sexualität. Weil der Autor homosexuell war, ist diese angedeutete Sexualität eine verbotene. Zwischen sehnsüchtiger Liebe und der Erfüllung des Verlangens steht jedoch der Basilisk als Symbol des Schreckens und als Ungeheuer, dem ein Opfer zu bringen ist.

In der Geschichte sieht der Ich-Erzähler im dunklen Spiegel seiner Liebsten tatsächlich eine Chimäre aus Hahnenkopf und Schlangenleib, aber auch einen schönen Mann – den Dämonengott. Hat sie sich diesem Geliebten hingeben müssen, wie einst die Tempeljungfrauen des alten Griechenland?

Wie sich zeigt, ist dieses Opfer ausreichend für eine Nacht, doch der Morgen bringt bereits das Ende – für beide. Die Frage ist jedoch, woher diese Art Erbsünde der Lady Marina rührt. Was hat sie eigentlich verbrochen, dass sie den Basilisk gesehen hat? Wir erfahren nur Andeutungen, die mit Geheimlehren wie der Kabbala und der Astrologie zu tun haben.

Dieser unzulängliche Hinweis ist der einzige Makel an dieser wunderbaren Geschichte. Denn anzudeuten, dass Lady Marina nicht mehr rein = jungfräulich sei, kam bei den Viktorianern einem Schandmal gleich (erst recht, sollte es sich um Kindesmissbrauch handeln!). Und wer sie dennoch begehrt, bekommt es mit dem Basilisken zu tun, der sich unterschiedlich deuten lässt, so etwa als verbotenes Wissen (Kabbala usw.), verbotene Sexualität und Künste – ihr „flammend rotes Haar“ kennzeichnet Marina als eine Art Hexe – genau wie die Frau in der folgenden Erzählung …

_3) R. Murray Gilchrist: Die Hexe (Witch-in-grain)_

Der Ich-Erzähler ist Herr eines Gutes, doch gehört sein verzweifeltes Herz der schönen Michal. Doch die steckt ihre Nase lieber in philosophische und andere Bücher. Eines Tages erblickt er sie im Hain der fünf Eiben und sieht, wie ein bunter Vogel aus ihrem Brusttuch emporflattert, nicht ohne dort eine Wunde zu hinterlassen. Sie erwacht aus ihrem Sinnen und beklagt sich bei ihm, er habe sie von der Vollendung eines Traumes abgehalten.

Während beide ins Herrenhaus gehen, passieren sie eine merkwürdige Szene. Des Ritters Mannen haben eine Hexe namens Mutter Benmusk gepackt. Michael soll sie mit einem Messer schneiden, befiehlt der Ritter. Doch Michal weigert sich unter Tränen. Daraufhin stecken die Männer die alte Hexe in den nahen Tümpel, von wo sie eine Fluchkanonade loslässt, Erst nach Stunden des Beinahe-Ertrinkens gibt sie erschöpft auf. Beim Grab von König Baldus werde der Ritter um Mitternacht die Wahrheit finden.

Der Mond schwebt über einen kupferfarbenen Wolkenhimmel, als sich der Ritter auf den Weg macht. Doch aus Richtung des Grabes entweichen Scharen von Wieseln, Hasen und Kleingetier durchs Gebüsch. Was hat sie verjagt. Als unser Ritter auf den Grabhügel schaut, erblickt er dort Michal, in Flammen gehüllt. „Und seine Gestalt näherte sich und bedeckte sie mit seiner Schwärze.“

|Mein Eindruck|

Dreimal darf man raten, wer mit IHM gemeint ist. Auf jeden Fall kommt es überraschend, dass die so philosophisch veranlagte Michal nicht mit Gott, dessen Kirchenvertreter sie verhöhnt, im Bunde steht, sondern mit der Satanischen Majestät. Und dass es in dieser Geschichte nicht nur eine Hexe geben soll, sondern gleich zwei.

Die Epoche der Handlung wird nie direkt genannt, aber wenn philosophische Bücher aus Frankreich in Latein abgefasst sind (wie schon im ersten Satz erwähnt), dann handelt es sich wohl um das Mittelalter. Bischöfe sieht man in der Zeit nach Heinrich VIII in England ebenfalls nicht allzu oft (die Klöster wurden zerstört). Und Hexenfolter fand sicherlich nicht zu Zeiten der Aufklärung statt.

In der Charakterisierung der begehrten Frau ähnelt „Die Hexe“ stark „Der Basilisk“: Beide verfügen über geheimes, esoterisches, verbotenes Wissen und locken den liebenden Mann in unbekannte Gefahren. In „Die Hexe“ ist es die Gefahr ewiger Verdammnis.

_4) Ronald Firbank: Eine Tragödie in Grün_

Lady Blueharnis ist angeödet von ihrem Leben, denn ihr Mann, ein hoher Beamter im Außenministerium zu London, ist selten daheim. Müßig streift sie durch die edel ausstaffierten Gemächer, bis sie in die Bibliothek gelangt. Dort fällt ihr suchender Blick auf einen schmalen Band, der in Pergament gebunden ist – wie ungewöhnlich. Sie kann ihrer Neugier nicht widerstehen und nimmt das Büchlein heraus. Es trägt den Titel „Zaubersprüche und Beschwörungen“. Sie beginnt zu lesen und zu träumen …

In London schaut Lord Blueharnis, ihr Mann, verwundert aus dem hohen Fenster seines Amtszimmers auf den St. James Park. Ein Windstoß beugt die Bäume, den grünen Regenschirm einer seit Stunden dasitzenden Parkbesucherin und verwirbelt die sonderbar geformten Wolken.

Wieder einmal beginnt er, an seinen Memoiren zu schreiben. Als er Zweiter Gesandter in Spanien war, fuhr er neben einer geheimnisvollen, schönen Frau auf dem Zug von Sevilla nach Madrid. Als er seinem Schlummer erwachte, hörte sie auf dem gang singen und Gitarre spielen, von der Sonne angestrahlt wie die Jungfrau Maria. Eindeutig eine Kaiserin … Hier bricht sein Eintrag ab, denn das Gebäude stürzt ein.

Zu Ostern sind es sechs Monate, die Lady Blueharnis bereits um ihren verblichenen Gatten trauert. Trauern muss, denn sie hat das Trauern so satt. Es ist anstrengend und man darf nie schöne grüne Kleider tragen. Sie träumt von Negligees, während die Kutsche sie am eingestürzten Haus von Lady Grimaldi vorüberfährt. Noch einer ihrer Opfer, ha! Von ihrem Gatten hat sie lediglich die Memoiren und eine Krawattennadel geerbt. Sie freut sich bereits auf die Einweihung des neuen Außenministeriums, zu der sie ausdrücklich eingeladen worden ist …

|Mein Eindruck|

Der maliziöse Ton der Erzählung liegt auf einer Ebene mit dem von Oscar Wilde in seinen Theaterstücken: pointiert, schadenfroh, bissig – und vor allem entlarvend. Der als Bohémien und Exzentriker bekannt gewordene Autor schildert die englische Upper Class, die sich selbst überflüssig geworden ist.

Nun erhält die gelangweilte, unerfüllte Lady unverhofft große Macht. Sie setzt sie sogleich dazu ein, ihren Gatten zu töten und acht Frauen, darunter zwei weitere Angehörige ihrer Familie. Die Neigung, sich selbst und Ihresgleichen in den Abgrund zu treiben, wird offensichtlich. Der Mann schwelgt unterdessen in Nichtigkeiten und Nostalgie, während sich die Welt draußen unter einem harschen Wind verändert. Es ist eine Welt im Endstadium.

_5) Lady Dilke: Der Schrein des Todes_

Ein fünfzehnjähriges Mädchen wünscht sich, die Geheimnisse des Lebens zu kennen, denn sie will es klüger anfangen als ihre Freundinnen. Als sie eine Hexe, die in der Stadt zu Besuch ist, danach fragt, rät ihr diese boshaft: „Nimm den Tod zum Gemahl, der wird dir diese Geheimnisse enthüllen.“

Doch wo den Tod finden? Lange sucht sie nach der gewünschten Gestalt, nur um schließlich in der Kathedrale eine bemerkenswerte Gestalt zu entdecken: den Tod als Gentleman. Fortan gilt ihr Ansinnen, mit ihm vermählt zu werden, als Zeichen von Irrsinn, doch der Priester rät zum Gegenteil: Auf diese Weise könnte sie sogar davon geheilt werden.

So kommt es, dass sie, gehüllt in einen Brautschleier, zu einem festgesetzten Zeitpunkt von ihren Anverwandten und Freunden zur Krypta mit den Grabmälern der Vorfahren geleitet wird. Dort begegnet sie in der Tat ihrem neuen Gemahl, doch das Buch, das er ihr zeigt, vermag sie nicht zu lesen – die Zeichen hüpfen ständig hin und her. Verzweifelt will sie umkehren, doch dafür ist es zu spät: Die Toten steigen aus ihren Gräbern …

|Mein Eindruck|

Lady Dilke, benannt nach ihrem zweiten Gatten, war eine ausgezeichnete, angesehene Kunstkritikerin und Schriftstellerin. Sie heiratete zuerst den viel älteren Prof. Pattison und begab sich in die gleiche Lage wie ihre Heldin in der Erzählung. Bei Pattison fand sie tatsächlich Wissen, aber auch emotionale Kälte, die schließlich zur Scheidung führte. Bei Lord Dilke geriet sie jedoch vom Regen in die Traufe: Er betrog sie, wurde deshalb angeklagt, doch sie stand zu ihm, was ihr Ansehen noch vergrößerte.

Die Erzählung kommt ohne jeden Namen aus und erhält so den Tonfall einer Legende, wie sie sich fast überall in einem katholischen Land hätte zutragen können, etwa in Spanien, Italien oder Frankreich – beliebte Urlaubsziele der Upper Class. So gewinnt die Story einen exotischen, wenn auch schaurigen Beigeschmack, der die Übermittlung der moralischen Lehre unterhaltsam machte.

_6) Barry Pain: Sklavin des Mondes (The Moon Slave)_

Die junge Lady Viola tanzt für ihr Leben gerne und bedauert die Männer, die zwar technisch einwandfrei tanzen können, doch denen die Leidenschaft abgeht, die sie selbst erfüllt. Um der Konvention zu genügen, verlobt sie sich mit Lord Hugo, einem mittelprächtigen Mann, doch in dessen Schloss entdeckt sie etwas Aufregendes: ein Labyrinth.

Wie angezogen gelangt sie in die Mitte des Irrgartens, wo eine freie sandige Fläche geradezu dazu einlädt, im Mondlicht dem Tanz zu frönen. Gesagt getan. Sie fleht den Mond an, sein Licht als Musik herabströmen zu lassen, sie wolle dafür seine Sklavin sein. Tatsächlich erklingen alsbald Sarabanden und Capriccios, um sie zu begleiten.

Fortan verspürt sie Monat für Monat den Drang, in der Vollmondnacht im Znetrum des Labyrinths zu tanzen. Schon bald wird ihr das anfängliche Vergnügen zur Last, die sie erschöpft zurücklässt, doch dem Drang ist zu gehorchen. In der Nacht vor ihrer Hochzeit mit Hugo soll eine Mondfinsternis stattfinden. Doch statt einer leeren Fläche findet Viola einen Besucher vor, der ihr seine höllenheiße Hand reicht …

|Mein Eindruck|

Die moralische Botschaft ist eindeutig: Zügellosigkeit wird mit dem Tod bestraft; wenn schon nicht mit dem leiblichen, so doch zumindest mit dem gesellschaftlichen. Ausschweifung ist sündig und folglich holt den Sünder der Teufel. Dem Autor gelingt es jedoch, diese moralinsauren Botschaften in einer stimmungsvollen Schilderung zu verbergen. Die Pointe folgt erst im letzten Wort des Textes.

_7) Vernon Lee: Der Gekreuzigte (Marsyas of Flanders, 1890)_

Die Geschichte liest sich wie ein kunsthistorischer Krimi. Es geht um die Figur des Gekreuzigten am Kreuz der Kirche von Dunes, einem Dorf in der nordfranzösischen Grafschaft Artois. Das aktuell zu sehende Kreuz sei „une substitution“, wie der Kaplan sagt. Wo aber ist dann das echte Kreuz, um das es seinerzeit so viel Aufhebens gab?

„Seinerzeit“, das war die fromme Zeit nach den ersten Kreuzzügen, also zwischen 1195 und 1299. Im Jahr 1185 wurde die Figur des Gekreuzigten nach einem Sturm an der Küste von Dunes angeschwemmt. Sie war so schön, dass man sie schon bald mit einem Fest der Kreuzerhöhung der Gemeinde zeigte. Doch schon bald zerbrach das Kreuz, an dem sie hing, in drei Teile. War es nicht richtig geweiht worden?

Doch auch das zweite, sorgfältig geweihte und überdies noch genau bewachte Kreuz zerbrach. Noch dazu berichtet der Wächter, die Figur habe sich auf dem Kreuz gekrümmt und bewegt, als litte sie Schmerzen. Dies erzeugte einen Wunderglauben, der wiederum Pilgerscharen anlockte, die Geld in die leeren Kassen der Kirche spülten.

Doch dieser Pilgerstrom versiegte. Die Kunsthistorikerin sucht in den Papieren, die 1790 beim Sturm auf den Bischofssitz von den Revolutionsgarden erbeutet wurden. Sie muss tief graben, um auf einen Prozess im Jahr 1299 zu stoßen, bei dem der Wachmann einige erstaunliche Aussagen machte. Er war der Hexerei und des Teufelsbundes angeklagt. Er berichtet von Lichtphänomenen, Geheul, Flöten und Pfeifen – allesamt in und um die Kirche herum, jeweils vor einem aufziehenden Sturm.

Endlich bekommt die Kunstbeflissene die echte Figur zu sehen, irgendwo ganz hinten im Gerümpel einer Kirche. Da erkennt sie, ebenso wie ihr geistlicher Führer, dass es sich gar nicht um eine Jesusfigur handelt, sondern vielmehr um eine von Marsyas, jenem von Apoll gequälten und schließlich gehäuteten Satyr, der behauptet hatte, er spiele besser Flöte als der Gott …

|Mein Eindruck|

Das Jahrhundert zwischen 1195 und 1299 lag bekanntlich vor der Renaissance, als die Antike in Westeuropa wiederentdeckt wurde. Deshalb konnten die Zeitgenossen den Satyr gar nicht als solchen erkennen, sondern hielten ihn, weil gekreuzigt, für Jesus. Der Aberglaube verklärte die Krümmungen der Figur zu Wundern, wohingegen es nach heutiger – mystischer – Ansicht um Abwehrbewegungen des heidnischen Satyrs gegen das christliche Kreuz handelte: Marsyas wurde sozusagen erneut gefoltert.

Aber warum ist dann die Figur nochmals durchbohrt worden? Die Antwort ist einfach: Marsyas verkörpert als Satyr das zügellose, schamlose und somit unchristliche Begehren nach Fleischeslust. Darum die Pfählung à la Dracula.

Als wäre das nicht schon ironisch genug, erfindet die Autorin auch noch einen Kirchenprozess wegen Hexerei und Teufelsglaube. Einer Verbrennung auf dem Scheiterhaufen kann der verhörte, zehn Jahre lang im Kerker gehaltene Wachmann gerade noch entgegen, ebenso sein Abt. Die erwähnten Flöten und Schalmeien sind natürlich die Musikinstrumente eines Satyrs; sie waren ja der Zankapfel zwischen Marsyas und Apoll.

Auch dies ist wieder höchst ironisch, wirft es doch ein vielsagendes Licht auf die Gläubigen jener Zeit. Doch ist der Umgang der Gegenwart des Jahres 1890 so viel besser als die des Jahres 1299, scheint die kunstsinnige Autorin zu fragen. Vernon Lee alias Viola Paget war Expertin für italienische Kunst des 18. Jahrhunderts und wurde von G.B. Shaw, H. G. Wells und Henry James als intelligenter und verteufelt kritischer Geist (fast) gelobt.

_8) Vernon Lee: Die gnadenreiche Madonna (The Virgin of the Seven Daggers, 1889_

In Granada betet Don Juan zur Madonna der sieben Dolche um Vergebung seiner zahlreichen Sünden und Liebesdingen wie auch Morddingen. Die prächtig geschmückte Madonna in ihrer prächtig geschmückten Kirche nickt huldvoll. Frischen Mutes begibt sich Don Juan mit einem neuen verwegenen Plan zu Baruch, dem Juden. Nichts anderes als einen sagenhaften Goldschatz gilt es zu heben – und eine tote Prinzessin zu küssen.

Die beiden Nekromanten begeben sich nächtens zum Turm der Zypressen unweit der Alhambra und vollziehen ihr unheiliges Ritual. Als Dämonen und anderes Gelichter auftauchen, fleht der verängstigte Baruch den Grafen von Miramor an, von seinem unchristlichen Tun abzulassen, doch der Don denkt gar nicht daran.

Sobald der Hahn, der noch nie gekräht hat, in die brodelnde Kräter- und Knochensuppe geworfen ist, öffnet sich das magisch verschlossene Portal zur Grabkammer von König Yahya von Cordoba. Flugs ersticht Don Juan den Juden, um aller Schulden ledig zu werden, wirft ihn in den Abgrund und durchschreitet kühn das Portal.

Die Passage ist tief und unheimlich, von Fledermäusen durchflogen und von mahnenden Stimmen der verflossenen Geliebten erfüllt. Doch Don Juan drängt vorwärts, den Degen in der Hand, denn es gilt, eine tote Infantin zu wecken. Er tritt in eine schlafende Welt ein, die jedes irdische Paradies in den Schatten stellt, doch der Wächter nicht achtend schreitet er voran, bis er zum Diwan gelangt, darauf die Prinzessin ruht. Eine Duenna und ein Eunuch wachen über sie, doch auch sie weist der Graf in die Schranken.

Die namenlose Prinzessin ist selbstredend nicht nur unsagbar schön, sondern auch kostbar gekleidet und geschmückt. Sie lässt die Duenna übersetzen, die wiederum dem Eunuchen Bescheid gibt. Dieser hebt sein Szepter und fragt den Don, ob die Infantin schöner sei als Juans Ex-Geliebte Catalina. Er stutzt, dass sie von Catalina weiß, sagt aber ja. Und sei sie schöner als Viola? Aber ja. Und schöner als die fünf anderen Geliebten, um deretwillen Juan unaussprechliche Sünden begangen hat? Aber ja doch! Und sogar schöner als die Madonna der sieben Dolche?

Da bleibt Juan erst die Spucke weg, dann sagt er bestimmt: „Nein!“ Die Strafe für diese Beleidigung Ihrer Hoheit folgt auf dem Fuße: Juan wird enthauptet. Doch er erwacht irgendwo auf halbem Weg in die Stadt. Seltsamerweise bemerkt ihn keiner, und so folgt er einer seltsamen Blutspur, die zum Hospital führt. Eine Menschenmenge hat sich vor dessen Portal versammelt. Juan schlängelt sich hindurch, um den Patienten zu sehen, der so blutet. Bestürzt erblickt er seinen eigenen Körper, mit dem Kopf daneben..

Doch Don Juan, dem Gespenst, steht noch ein weiteres wunderliches Abenteuer bevor …

|Mein Eindruck|

Der größte Liebhaber seiner Zeit (um 1600) wird also vor eine Art Gericht gestellt, vor dem er Farbe bekennen muss. Er muss à la Paris ein Urteil über Schönheit abgeben, das ihn allerdings seinen Kopf und seine Seele kosten kann. Den Kopf verliert er zwar, doch nicht seine Seele, denn die ist ihm lieb und teuer. Dies gelingt ihm, weil er der titelgebenden Madonna die Treue hält. Dies ist also auch ein religiöses Urteil, dem er sich unterwirft. Als Belohnung von der ewig Huldvollen wird der große Sünder in den Himmel erhoben …

Der Text ist lang und voller schwülstig wirkender Beschreibungen von preziösen Dingen, so etwa des Kleides und des Schmucks der Prinzessin. Halb so viel Beschreibung, und aus dieser Erzählung wäre eine knackige Nekromantenstory geworden. So aber muss sich der Leser durch aufeinandergestapelte Adjektive wühlen, unter denen die Sätze schier zusammenbrechen – die berüchtigte „purple prose“, die schon James Joyce in „Ulysses“ (1922) parodierte. Keine leichte Lektüre, aber eine ziemlich ungewöhnliche.

_9) Vernon Lee: Die Puppe (The Doll, 1900)_

Die Ich-Erzählerin ist eine verheiratete Engländerin, die sich mit alter italienischer Kunst auskennt (genau wie die Autorin) und die umbrische Landschaft ring um Foligno liebt. Während sie auf die Ankunft einer Freundin wartet, lernt sie in dieser Marktstadt den Antiquar Oreste kennt, der viele Geschichten über die alte Zeit weiß. Er empfiehlt ihr, das Angebot eines alten chinesischen Teeservices zu begutachten. In einem Palazzo.

Dieser Stadtpalast beherbergt jedoch nur noch eine uralte Haushälterin. Am nächsten Tag führt sie die Besucherin durch die Räume. Dabei fällt deren Blick auf eine dasitzende wunderschöne Frau. Doch nein, es ist eine lebensgroße Puppe. Das Haar ist zwar gemalt und im Hinterkopf ist ein Loch im Pappmaché, doch die gefalteten Hände sind in Seidenhandschuhe gehüllt. Jemand hat sie geliebt. Es ist das Abbild der ersten, geliebten Frau des Großvaters des jetzigen Grafen.

Sie starb schon nach zwei Jahren, die sie verheiratet waren, doch er vergaß sie nicht, sondern ließ diese Puppe anfertigen, die er jahrelang besuchte, um mit ihr zu sprechen. Nach seinem Tod wurde sie sehr vernachlässigt. Unsere Engländerin fühlt sich sehr angerührt, denn auch mit ihrer eigenen Ehe steht es nicht zum Besten. Am Tag vor ihrer Abreise bittet sie den Antiquar, die Puppe zu besorgen. So ungewöhnlich die Bitte auch ist, so würde der jetzige Graf doch seine eigene Großmutter verkaufen, bekäme er dafür nur ein wenig Geld.

Hinterm Haus des Antiquars erstreckt sich ein Garten, der in einen Weinberg übergeht. Hier errichten Oreste und seine Freundin einen kleinen Scheiterhaufen und bereiten der Gräfin eine würdige Feuerbestattung – um sie von ihrer Pein zu erlösen, wie er lobend sagt.

|Mein Eindruck|

Diese kleine, aber feine Geschichte schildert, wie das richtige Stück Kunst den Betrachter selbst nach langer Zeit noch anrühren kann. Besonders in dem Fall, dass eine Art Seelenverwandtschaft besteht, wie bei der Engländerin. Diese ist offenbar unglücklich in ihrer konventionellen Ehe, fern von ihrem Mann, und fühlt sich verlassen und einsam. Erst recht, wenn ihre Freundin ausbleibt.

Sehr schön hat die Autorin die gebirgige Umgebung in ihrer Schönheit zu beschreiben gewusst und legt einen intensiven Sinn für die alte Kultur von Foligno an den Tag. Es waren diese beiden Fähigkeiten, die Vernon Lee einen bleibenden Ruf einbrachten.

_10) Arthur Machen: Ein Idealist (1897)_

Mr Symonds geht von seinem Büro, wo er den ganzen Tag mit Kollegen gearbeitet, nach Hause. Von der Fleet Street begibt er sich jedoch nicht schnurstracks hinaus in seinen schäbigen Vorort, sondern er schlendert durch die engen Gassen weitab der Hauptstraßen. Er ärgert sich über die banalen, dummen Späße und Witze seiner Kollegen, betrachtet lieber die Wolken und Dämonen. Und er schaut anderen Leuten ins Zimmer. Daheim angekommen, setzt er sich nach dem Essen an seine Lieblingsbeschäftigung: das Ausstaffieren einer Puppe. Die stellt er dann ans Fenster. Passanten können nicht umhin, deren seltsamen Schatten zu sehen …

|Mein Eindruck|

Eine Geschichte ohne Handlung, eine Skizze im Grunde, und doch von eigenem Reiz. Der „Idealist“ lebt in seiner eigenen Welt und er nimmt die Welt um ihn nicht wie die gewöhnlichen Spießer in seinem Büro wahr, ganz im Gegenteil: Die Welt birgt ein Geheimnis. Er sucht und findet es überall. Doch er selbst hat auch ein Geheimnis, und das macht ihn so rätselhaft. Worin mag es bestehen?

_11) Arthur Machen: Der Club, den es nicht gibt (1890)_

Austin und Phillips sind zwei elegant gekleidete Stutzer, die einander fast wie ein Ei dem anderen gleichen. Klar, dass sie erst einmal einen heben gehen, einen Chianti am Piccadilly Circus. Als sie aufbrechen wollen, geht ein Platzregen nieder, vor dem sie Schutz suchen, zufällig unter einem großen Torbogen.

Als sie sich umsehen, merken sie, dass das Tor zu einem imposanten Haus führt, in dem ein Klub untergebracht ist, in dem Phillips‘ Freund Wylliams Mitglied ist. Und da kommt er auch schon heraus. Sie bitten ihn, ihnen Einlass zu gewähren. Er ist unter der Bedingung einverstanden, dass sie keiner Menschenseele von diesem Klub erzählen. Gebongt, na klar!

Drinnen treffen sie jede Menge Bekannte im Klub, den es nicht gibt, doch sie haben ihr Wort gegeben, so zu tun, als würden niemanden wiedererkennen. Alle scheinen auf etwas zu warten. Endlich erscheint eine führende Persönlichkeit, die alle begrüßt und ein großes Buch aufschlägt. Das Ritual sei allen bekannt: Wer die schwarze Seite aufschlage, sei diesmal fällig.

Alle folgen dem Ritual, und wen es trifft, ist der untröstliche John d’Aubyn, ein Spross aus altem Adel. Er werde verschwinden, gibt Wylliams Auskunft. Aber doch nicht wirklich und für immer, oder, vergewissert sich Phillips besorgt. Natürlich nicht. Aber es vergehen nur drei Monate, bis die Zeitung ebendieses Verschwinden d’Aubyns melden. Er wurde zuletzt an jenem 16. August gesehen, als sie im Klub waren.

Sie stellen Wylliams zur Rede. Der weiß von nichts, hat ein Alibi, war woanders und überhaupt: Was soll diese Frage? Der Klub ist unauffindbar. Da war also nie was. Aber warum sind die beiden Freunde dann so niedergeschlagen?

|Mein Eindruck|

Die Furie des Verschwindens macht sich, wie in der nachfolgenden Erzählung, zunehmend in der modernen Gesellschaft breit. Vornehmlich unter jungen Männern, denn sie sind erstens tonangebend, zweitens haben sie (noch) keine Kinder, für die sie sorgen müssen. Das Ritual der schwarzen Seite, das dem Zufall tödliche Folgen einräumt, erinnert an Rituale aus Internaten (Hogwarts beispielsweise).

Doch ihm eignet schon ein Hauch des Absurden, wie es im Surrealismus und bei Lewis Carroll gepflegt wird. Das Absurde ist eine Folge der Anonymisierung und des Gottesverlusts: Da ist, wie Yeats sagte, kein Zentrum mehr, das den Einzelnen oder die Gemeinschaft hält („the center cannot hold“). Die Endzeit hat begonnen.

_12) Arthur Machen: Die Tür öffnet sich … (1931)_

Der Journalist, der uns berichtet, hat ja schon einige merkwürdige Geschichten erlebt, Sachen, die leider nicht für jede Zeitung geeignet sind. Dazu gehören etwa seltsamen Schatzfunde oder die Geschichte des Secretan Jones, dem „Seelsorger von Canonbury“. Der Geistliche Jones, der mit Leserbriefen und Diskussionsrunden über das künftige Verkehrswesen Londons, schon im Jahr 1905 von sich Reden gemacht hat, ist eines Tages spurlos verschwunden. Und kehrte sechs Wochen später wieder zurück, als wäre nichts gewesen.

Klar, dass unser Chronist der Sache auf den Grund gehen will. Mühselig erarbeitet er sich das Vertrauen des alten Herrn, was ihm besonders nach seiner Offenbarung, er stamme ebenfalls aus dem walisischen Grenzgebiet, gelingt. (Was auch auf den Autor zutraf.) Nun geht Secretan Jones mehr aus sich heraus. Er habe ja schon einige Dinge verlegt, sich aber nicht mehr an den Ablageplatz der Dinge erinnert. Aber sein eigenes Verschwinden ist ihm völlig unerklärlich.

Er erinnert sich noch, dass er einmal, als ihn ein Gedankengang besonders beschäftigte und aufwühlte, zur hinteren Gartentür gegangen sei. Doch die lässt sich so schwer öffnen, dass er sie normalerweise nie aufmacht. Dahinter liegt ein Weg, der alle Häuser in dieser Reihe miteinander verbindet. Bei jener Gelegenheit habe er spielende Kinder gesehen. Als er in sein Zimmer zurückkehrte, waren sechs Wochen unmerklich vergangen …

|Mein Eindruck|

Die Furie des Verschwindens hat wieder einmal zugeschlagen, wie schon in der vorhergehenden Erzählung über den „Klub, den es nie gab“. Entweder gilt dieser intersubjektive Erklärungsansatz – oder die ganze Sache ist rein subjektiv und auf einen geistigen Zusammenbruch von Secretan Jones zurückzuführen. Dies vermutet zunächst auch unser Chronist, und Jones kann nicht umhin, diese Möglichkeit einzuräumen. Denn einmal sah er sich irgendwo im Londoner Stadtteil Islington und wusste nicht, wie er dorthin geraten war.

Von Alzheimer hatte man selbst anno 1931 noch nichts gehört, aber Zivilisationskrankheiten wie Krebs, Depressionen und dergleichen gab es bereits zur Genüge. Doch dies alles scheint wenig hinreichend, um das große Rätsel zu erklären, das Mysterium und Inkommensurable an sich, welches in Arthur Machens Denken und Werk eine zentrale Rolle spielt. Und so verwundert es nicht, dass auch Jones, wie schon die Klubmitglieder, eines Tages spurlos verschwindet.

Der Autor gibt auf diese Weise seiner eingangs geäußerten Sorge Ausdruck, dass es heutzutage niemanden mehr kümmert, wenn ein Mensch ums Leben kommt oder auf Nimmerwiedersehen untertaucht. Er führt dies aber nicht auf die Anonymität der Existenz des Einzelnen zurück, sondern greift auf das Mysterium zurück – eine Art Leerstelle, in der wir alle unsere Existenzberechtigung aufgeben.

_13) Matthew Phipps Shiel: Huguenins Weib_

Ein Freund, der seit Jahren auf der griechischen Insel Delos, lebt, ruft unseren Chronisten im Juni 1899 um Hilfe. Dieser bricht sofort von London aus in die Ägäis auf. Huguenin lebt seit dem Tod seiner Frau Andromeda alleine in seinem Anwesen auf dem Gipfel eines Hügels. Er sieht abgemagert und verwirrt aus, findet der Besucher. Andromeda war eine begnadete Malerin und verehrte die altgriechischen Götter, allen voran Apollon, dem Delos heilig war, weil er hier geboren wurde. Doch es gibt eine Prophezeiung, wonach Samos und Delos dereinst dem Erdboden gleichgemacht würden.

Ein roter Faden, den Andromeda wie weiland Ariadne einst verlegte, verbindet die wichtigsten Kämmern des Anwesens. Dies ist auch der Weg zu einem der schrecklichsten Anblicke, die der Chronist je gesehen hat: ein Gemälde der Verstorbenen von einem Monster. Indem er dem roten Faden bis ans Ende folgt, gelangt der Besucher zum Gefängnis dieser Bestie. Sofort kehrt er um.

Als sich am 13. August 1899 das historische Erdbeben ereignet, das Delos und Samos minutenlang erschüttert, kommt das Monster frei …

|Mein Eindruck|

Das pikante Detail, das beide Phänomene vereint, ist der Umstand, dass das Grab von Andromeda, das Huguenin anlegen ließ, leer ist! Dies lässt den (nicht ganz logischen) Schluss zu, dass sich die Seele der Maler in der Bestie niedergelassen hat. Die altgriechische Idee der Seelenwanderung (Metempsyche) ist eines der vorherrschenden Themen in der Erzählung. Und so muss es während des Bebens ein Ende mit Schrecken für Huguenin und die Bestie / seine Frau geben …

Wie schon in „Vaila“ nimmt es mit einem weltmüden und abgeschieden lebenden Mann ein schlimmes Ende. Auch das ist ein Motiv, das Shiel von Poes „Der Fall des Hauses Usher“ übernommen hat. Diesmal findet der „Fall“ jedoch nicht im kalten Norden, sondern im sonnendurchglühten Süden statt, noch dazu durchwoben vom Glauben an die alten Götter.

Ich fasse dies als Abrechnung mit der neuheidnischen Begeisterung des esoterischen Fin-de-siècle auf, ganz besonders aber an „Madame“ Helena Petrovna Blavatsky (1831-91) und ihrem Kreis von theosophischen Scharlatanen, der ab ca. 1875 viele okkultistische Ideen in die höheren Gesellschaftsschichten der USA, Europas und Vorderasiens trug. (Mehr dazu in der Wikipedia.) Sie wurde mehrfach des Betrugs bezichtigt und überführt. Sie kam beispielsweise auf die Idee von Wurzelrassen, die dann im weiteren zur Ideologie einer arischen Herrenrasse und „minderwertigen“ Sklavenrassen ausgebaut wurde.

Das Monster ist selbstverständlich lediglich eine Metapher. Die Chimäre mit dem Medusenhaupt kann alles Mögliche verkörpern, manifestiert aber vor allem die Seelenwanderung. Unterschwellig wirkt hier der Lamia-Mythos von der Liebhaberin, die sich mit ihrem Geliebten (oder einem geraubten Kind) nicht paart, sondern ihn tötet und verschlingt. (Mehrfach zitiert der Autor den Dichter John Keats und dessen Lamia-Gedicht.) Die Zeustochter Lamia (siehe Wikipedia) wird auch Mutter der Sibyllen betrachtet, die wiederum Apolls Seherinnen waren, die auf Delos ihr zentrales Heiligtum hatten – es passt also alles zusammen.

Übersetzt in poetische Bedeutung sagt der Autor also, dass die Chimäre des alten Götterglaubens die Moderne zu verschlingen droht. Die Moderne ist in Huguenin, dem weltmüden Eremiten, sowie im Chronisten verkörpert. Letzterer entkommt dem Inferno des Erdbebens mit viel Glück, um von Huguenins Ende zu berichten.

_14) Matthew Phipps Shiel: Vaila (1896)_

Der Ich-Erzähler folgt nach zwölf Jahren der Trennung seinem Studienfreund Haco Harfager, der ihn auf seinen Familiensitz eingeladen hat. Diesen Familiensitz liegt auf Vaila, einer der Shetland-Inseln nordöstlich von Schottland. In einem Fischerboot nähert sich der Erzähler der sturmumtosten und meerumschäumten Insel und erinnert sich, dass Haco schon immer ein gespaltenes Verhältnis zu seiner Familie hatte: Sie wurde im 14. Jahrhundert durch einen Brudermord gegründet. Entgegen der Anweisung des Mörders und Brauträubers, dessen Baumeister umkam, wurde der Familiensitz nicht am vorgesehenen Ort errichtet, sondern dort, wo ihn angeblich der Ermordete haben wollte: in einer Felsenbucht auf Vaila.

Bei der Annäherung bemerkt der Besucher die außerordentliche Lage des kreisrunden Gebäudes: Es liegt auf einer kahlen Felsplatte zwischen einem brausenden Wasserfall und dem anbrandenden Meer. Der Lärm ist ohrenbetäubend. Nachdem er eine Steinbrücke überquert hat, erhält er Einlass von einem skelettartigen Diener namens Aith. Dann erst trifft er Haco. Dieser hat sich verändert und ist noch schwerhöriger geworden als zuvor. Er verständigt sich mit seinem Freund, indem er auf eine Schiefertafel schreibt. Das Gebäude vibriert unter dem äußeren Lärm. Fast ganz aus Metall, schwingt es an den schweren Ketten, die es auf der Felsplatte vor dem Abrutschen ins Meer bewahren.

Sie bestatten Hacos Mutter in der Familiengruft, in der es vor Wasserratten wimmelt. Tatsächlich ist der Sarg an den Füßen offen, so dass die Ratten sich an den Toten gütlich tun können. Wenn sie sich zum Kopf vorarbeiten, berühren sie drei Schnüre, an denen Klingeln hängen. Sie lässt sich die Zeit messen. Aber es gibt noch einen größeren Zeitmesser: Eine Kugel, aus der seit dem Jahr 1389 Bleikügelchen in ein Becken mit Regenwasser fallen – jede Minute eines. Und exakt 500 Jahre später, also 1889, werden die letzten drei fallen, prophezeit die Familienlegende. Von den Harfagers sind nur noch Haco und seine Schwester Swertha am Leben.

Worauf Haco wirklich wartet, ist jedoch der einmal in 20 Jahre auftauchende große Sturm, der Hurrikan, der alle Strukturen und Befestigungen des runden Metallgebäudes auf den Prüfstand stellt. Und als dieser Sturm eintrifft, nähern sich nicht nur der äußere Ort dem Chaos, sondern auch der Verstand der vier Menschen, die darin gefangen sind, der Zerreißprobe …

|Mein Eindruck|

Die meisterlich aufgebaute und stilistisch exzellente Erzählung steigert sich in einem Crescendo der Gefühle und Gewalten zu ihrem furiosen Höhepunkt. Ähnlich wie in Poes „House of Usher“ begibt sich der Besucher in eine bizarre Welt, in der eine seltsame Familie lebt. Wie bei Roderick Usher und seiner (toten?) Schwester Madeleine ist auch hier eine Überempfindlichkeit der Sinne festzustellen, wie sie laut Poe bei überalterten, dekadenten Sippen zu finden sei: das Gehör. So ist Haco Harfager in der Lage, trotz des irren äußeren Lärms aus Wasserfall und Brandung das feine Klingeln am Sarg seiner Mutter zu vernehmen, das die nagenden Ratten verursachen. Dennoch muss er sich schreibend mit seinem Freund verständigen.

Noch bizarrer als die Außenwelt und die Bewohner des Hauses ist das Gebäude selbst, das geradezu einen Preis für den teuflischsten Entwurf verdient (man denke an seine Erbauungsgeschichte). Aufgehängt an den Ketten, ist es wie ein Kreis in der Mitte von einer massiven Metallsäule gestützt. Als die Ketten unter der Wucht des Sturms brechen und das Dach weggerissen wird, beginnt sich der Kreisel zu drehen, schneller und immer schneller. Dieses Bild steht für die Vergänglichkeit des auf einen Brudermord aufgebauten Familiengebäudes. Wie im „Haus Ascher“ muss auch dieses Haus fallen – und im Wasser, aus dem wir alle kommen, versinken, genau wie bei Poe.

Der Autor hat seine Meistererzählung, die schon Lovecraft lobte, mit zahlreichen Zitaten aus der Geschichte der Physiologie gespicht, wenn es um die Verfeinerung der Sinne geht, und aus der Bibel, wenn apokalyptische Analogien gefragt sind, so etwa aus der „Offenbarung“, aus den Propheten und den Büchern Mose. Daran lässt sich die beeindruckende Bildungsfülle und Gelehrtheit des Autors ablesen, der Mathematik lehrte und Medizin studierte, bevor er sich der Literatur zuwandte.

_15) Matthew Phipps Shiel: Tulsa_

Der namenlose Ich-Erzähler erwacht in einem Sarkophag in der Gruft von Maharajas. Er ist ein kleiner Junge, doch der für die Gruft zuständige Priester erklärt ihn zur Reinkarnation des vorhergehenden Maharajas von Lavona. Er wird eindringlich vor roten Schlangen und Feuer gewarnt, denn diese wären seinen Vorfahren zum Verhängnis geworden.

Der Junge studiert die alten Schriften und stößt dabei auf seinen ersten Vorfahren, einem Mann namens Oban. Der habe einen schrecklichen Frevel begangen, indem er eine heilige Jungfrau aus dem Tempel geraubt und geheiratet habe. Auch er wurde ein Opfer von Feuer und Schlangen. Der lesende Maharaja schwört drei heilige Gelübde. Doch wie vorauszusehen, bricht er alle drei nacheinander.

Noch mit sechzig Jahren mischt sich der sehr zurückgezogen lebende Herrscher in das Leben seiner Untertanen ein, als er eine junge Witwe, die ihrem verstorbenen Gatten auf den Scheiterhaufen folgen, in letzter Sekunde vor dem Feuer rettet. Liegt es am Opium und Haschisch, das er regelmäßig konsumiert, oder verwandelt sich die gerettete Tulsa selbst zusehends in eine jener roten Schlangen, die seine Vorfahren getötet haben?

|Mein Eindruck|

Für den Fluch, der auf dem Geschlecht der Maharajas von Lavona liegt, gibt es keinerlei Grund. Dies entspricht dem Vorbild des Hiob, der ebenfalls völlig unverschuldet in größtes Unglück gestürzt wird, weil es Jahwe so gefällt. Andererseits könnte man argumentieren, dass Oban mit der Heirat einer heiligen Tempeljungfrau eine Art Ursünde begangen hat, die fortan an seine Nachfahren vererbt wird, ohne dass eine Art Erlösung von diesem Fluch auch nur im entferntesten möglich wäre.

Selbst ein Rückzug in die tiefsten Gewölbe eines Tempels, wo der Ich-Erzähler seine letzten Chronik-Zeilen verfasst, bewahrt ihn nicht vor Schlangen und Feuer … Bis zur nächsten Wiedergeburt mit schlechtem Karma.

Neben einer sehr altertümlichen Diktion zeichnet sich die Erzählung durch eine Fülle von religiösen Bezügen aus Hinduismus, Buddhismus und anderen Religionen aus. Auf die Religionen des Westens wird despektierlich herabgesehen, war die indische Hochkultur schon längst mit den Veden fertig, als die jüdischen Apostel noch ihre Evangelien verfassten. Offensichtlich beschäftigte sich der hochgebildete Autor intensiv mit dem Thema Seelenwanderung, Karma und Reinkarnation auseinander.

_Anhänge_

Die zwei Anhänge liefern willkommene Informationen zu den Übersetzern und editorische Notizen zu den Quellen der in den zwei Bänden abgedruckten Texte. Diese zwei Anhänge ergänzen die manchmal umfangreichen Biografien zu den einzelnen Autoren und den ausgewählten Beiträgen.

_Unterm Strich_

Die Themen dieser Erzählungen sind sicherlich nicht jedermanns Geschmack, aber es gibt ja immer mehr Liebhaber des Gothic-Stils, die damit etwas anfangen können. Die Todessehnsucht, die verwischte Grenze zwischen Leben und Tod und schließlich wiedergeborene Tote – sie alle bevölkern als Metaphern, Symbole und sogar Allegorien diese Erzählungen.

Der zweite Band enthält konventionellere Erzählungen, in dem Sinne, als die Themen der Wiedergeburt, der Erbsünde und vor allem des Verschwindens uns heute vertrauter sind als jene barock verbrämten Schicksale von Mondsüchtigen und Frauenhassern, die im ersten Band zu finden sind.

Herausragend sind für mich nicht etwa Hichens‘ langweilige und langwierige Novelle, die den Band eröffnet, sondern vielmehr die Beiträge von Shiel, Gilchrist und Vernon Lee (alias Viola Paget). Über Shiel habe ich an anderer Stelle berichtet („Huguenins Weib“ im Klett-Cotta-Verlag). Firbank fällt mit seiner malizösen „Tragödie in Grün“ aus dem Rahmen. Es ist, als würde sich Oscar Wilde zu Wort melden. Ähnlich ironisch ist Lady Dilkes Beitrag, doch birgt ihr Beitrag harsche Kritik aus Frauensicht.

Von dem (auch hier) vielgerühmten Arthur Machen gefiel mir lediglich seine dritte, recht ausführliche, aber umso wirkungsvollere Erzählung „Die Tür öffnet sich …“. Auch sie lässt die Furie des Verschwindens los, wie sie so häufig in dieser Zeit und diesen Erzählungen auftaucht (und wenn es mal nichts Namenloses ist, dann sicherlich Satan höchstpersönlich, der einen Verdammten holt, so etwa die „Sklavin des Mondes“).

Doch die Verarbeitung in Gestalt einer Zeitversetzung – in unserer Welt vergehen sechs Wochen, in Jones‘ Welt nur ein Moment – mutet fast wie eine Idee aus der Science-Fiction an. Das ist wirklich faszinierend. Die Realität, seit Darwin, Marx und Feuerbach eh schon durchlässig, ist nun endgültig kein sicheres Zuhause mehr.

|Die Edition|

Als Sammlerausgabe ist dieses Buch jedoch eine herausragende editorische Leistung. Sie zeigt sich nicht nur in den sorgfältigen, fehlerlosen Übersetzungen, sondern auch in der umfangreichen Einleitung und den kenntnisreichen Vorstellungen der einzelnen Autoren, die mitunter mit aktuellen Details aufzuwarten wissen, so etwa zum Enoch Soames Day am 3. Juni 1997. Auf diese Weise erübrigt sich ein Stichwortverzeichnis für den Doppelband. Der Band liefert zumindest das Quellenverzeichnis im Sinne einer primärliterarischen Bibliografie nach.

|Hardcover: 320 Seiten
Aus dem Englischen von Frank R. Scheck und anderen
ISBN-13: 9783898402729|
[www.blitz-verlag.de]http://www.blitz-verlag.de

_Frank Rainer Scheck bei |Buchwurm.info|:_
[„Berührungen der Nacht“ Englische Geistergeschichten in der Tradition von M. R. James]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=5606
[„Als ich tot war (Dunkle Phantastik der britischen Dekadenzzeit – Band 1)“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=7180

Schreibe einen Kommentar