Camilleri, Andrea – Netz der großen Fische, Das

_Das Netz der Strippenzieher: sizilianische Charade_

Der Sohn eines führenden Politikers wird des Mordes an seiner Verlobten angeklagt. Diese wiederum war die Tochter eines mächtigen politischen Gegners. Als die Nachricht beim Fernsehsender RAI in Palermo eingeht, hält Programmdirektor Michele Caruso die Meldung zurück, um weitere Informationen abzuwarten. Denn er weiß nur zu gut um das weitreichende Netz der im Verborgenen agierenden Herrscher der Insel. Jener heimlichen Machthaber, denen der mysteriöse Todesfall gerade recht kommt, um skrupellos ihre politischen Interessen durchzusetzen: mittels der verbalen Raffinesse der Medien … (Verlagsinfo)

Dieser Krimi wurde mit dem Premio de Novela Negra 2009 ausgezeichnet.

_Der Autor_

Andrea Camilleri ist kein Autor, sondern eine Institution: das Gewissen Italiens. Der 1925 in dem sizilianischen Küstenstädtchen Porto Empedocle geborene, aber in Rom lebende Camilleri ist Autor von Kriminalromanen und -erzählungen, Essayist, Drehbuchautor und Regisseur. Er hat dem italienischen Krimi die Tore geöffnet.

Die Hauptfigur in vielen seiner Romane, Commissario Salvo Montalbano, gilt inzwischen als Inbegriff für sizilianische Lebensart, einfallsreiche Aufklärungsmethoden und südländischen Charme und Humor. Er ermittelt in komplett erfundenen, aber „echt“ erscheinenden Orten wie Vigàta und Monte Lusa.

Der vorliegende Krimi handelt allerdings ohne Montalbano, der nur nebenbei erwähnt wird.

_Handlung_

Manlio Caputo ist der Sohn eines führenden Mitglieds einer sizilianischen Linkspartei, aber auch der Verlobte von Amelia Sacerdote, der Tochter eines mächtigen Abgeordneten der Gegenpartei – eine brisante Kombination. Da nun Amalia in ihrer neuen Wohnung ermordet aufgefunden wird, sehen sich Staatsanwalt Di Blasi und Commossario Bonanno gezwungen, gegen Manlio zu ermitteln. Dass er einen entsprechenden Bescheid zugestellt bekommt, wird schnell in der Gerüchteküche von Palermo bekannt. Aber ist es wahr? Und überhaupt: Welche Konseuqnzen hat das? Denn ein Ermittlungsbescheid ist ja noch längst keine Festnahme,.

Das überlegt auch Michele Caruso, der Held dieser Geschichte. Der gute Michele ist Programmdirektor der Lokalredaktion des TV-Senders RAI in Palermo. Zur Verwunderung seines Chefs Alfio Smecca weigert sich Michele, diese Nachricht zu bringen. Der Grund erscheint ihm stichhaltig: Es gibt keine offizielle Bestätigung.

In der Folge hat Michele zunehmend den Eindruck, als sei Alfio eifrig damit beschäftigt, an seinem Stuhl sägen. Aber Michele hat einen Trumpf im Ärmel: Er vögelt Giuditta, Alfios werte und scharfe Gattin. Auf diesem Umweg bekommt er mit, dass Alfio etwas im Schilde führt. Und die Stunden mit Giuditta versüßen ihm den Schmerz, den er wegen des Weggangs seiner Frau Giulia leidet. Denn Giulia hat sich aus unerfindlichen Grüßen kürzlich mit dem aufstrebenden Anwalt Massimo Troina zusammengetan. Wird er sie je zurückbekommen? Sie will sich nicht scheiden lassen – das ist ein Lichtblick.

Natürlich verfolgt Michele den Fall Sacerdote/Caputo mit Argusaugen. Denn schon bald trägt ihm sein eigenes Informationsnetzwerk zu, dass der Vater von Amalia den Anwalt gewechselt habe. Statt des erfahrenen Familienanwalts sei es nun Massimo Troina – schau an: der Geliebte seiner Frau. Und Troina laviert sich so durch. Denn eines ist oberfaul: Sacerdote, der Vater der Ermordeten, ist der Stiefbruder eines Mafiabosses!

Dass Michele die Nachricht NICHT gebracht hat, wird an höherer Stelle positiv vermerkt. Insbesondere sein Noch-Schwiegervater, der mächtige Senator Stella, der mit Sacerdote in einer Partei ist, lobt Michele über den grünen Klee und verspricht ihm in einer denkwürdigen Begegnung, die Dinge für seinen Sohn einzurichten.

Schon bald bemerkt Michele, der sich die Ohren spitzt und die Augen aufsperrt, wie sich bei der größten Bank der Insel ein Umsturz anbahnt: Der Vorstandsvorsitzende tritt „aus persönlichen Gründen“ zurück. Einfach so. Nun rauscht es aber in der Info-Pipeline. Wer wird sein Nachfolger? Der Aufsichtsrat muss erst ein neues Vorstandsmitglied wählen und einen neuen Vorsitzenden. Da erfährt Michele, dass ein beträchtliches Aktienpaket der Bank den Besitzer gewechselt hat. Und dreimal darf er raten, wer der neue Besitzer ist …

Unterdessen fallen ihm an Alfios und Giudittas Verhalten Ungereimtheiten auf. Könnte es sein, dass nicht nur er Giuditta aushorcht, sondern diese auch ihn? Womöglich hat sie sogar einen zweiten Lover! Während sich die Lage für Michele Schrittchen für Schrittchen bessert, kommt er einem Komplott gegen ihn auf die Spur. Ob ihm auch diesmal Senator Stella helfen kann?

_Mein Eindruck_

Die verschlungene Handlung, in deren Ruhepunkt Michele Caruso steht, kann es glatt mit der Komplexität chandlerscher Krimidramen à la „The Big Sleep“ aufnehmen. Doch Camilleri ist viel leichter zu lesen. Sein Text besteht zu 99,9% aus Dialogen. Das einzige Problem, das der Leser lösen muss, ist die Zuordnung der vielen Namen. Wer ist denn nun schon wieder Alletto oder Galetto? Hier leistet die vorangestellte Namensliste unschätzbare Dienste. So findet man sich doch noch zurecht und kann die Zuspitzung der Handlung entgegensehen.

Dieses dichte Geflecht von Beziehung ist der Normalzustand für Sizilien. Denn hier kann man nicht einfach so eine Ermittlung im luftleeren Raum durchführen, wie es sich wohl Commissario Bonanno in seinen Träumen vorstellt. Schon bald sieht er sich abgelöst, und sein Chef, der Staatsanwalt Di Blasi, gibt ungefragt eine Entschuldigung für seinen Rücktritt ab. Wer sich nun vor Verwunderung die Augen reibt, kennt eben Sizilien nicht. Alles hat mit allem zu tun.

Wenn nun eine Ermittlung fast eingestellt wird und gleichzeitig ein großes Aktienpaket der größten Bank den Besitzer wechselt, so erscheint dies nur für den unbedarften Außenstehenden ein zufälliges Übereintreffen zu sein. Doch weit gefehlt! Man ahnt es schon: Michele Caruso muss die Zeichen der Zeit lesen wie ein verschlüsseltes Buch und sich ständig seinen Reim darauf machen. Denn sonst ist es bald mit seiner eigenen Stellung vorbei.

Es kann nicht verwundert, dass Programmdirektor Michele Caruso alles andere als ein „außenstehender, kritischer Beobachter“ ist, sondern sich bereits auf eine politische Seite geschlagen, nämlich auf die seines Schwiegervaters, des Senators. Folglich ist Michele beileibe kein Akteur im Geschehen, sondern ein zurückhaltender Kommentator und allenfalls Kulissenschieber.

Sein mitternächtlicher Kommentar zu einer personellen Veränderung auf der Politbühne ist schon das Äußerste, zu dem er sich hinreißen lässt. Auch dies wird von den relevanten Stellen jedoch positiv vermerkt. Wenn Michele über die richtige Präsentationsweise einer News seitenlang diskutiert, so ist dies nicht Selbstzweck, sondern ein Wink des Autors, wie hier die Politik Nachrichten macht.

Dennoch ist der Opportunist Michele kein Unsympath, sondern im Gegenteil ein Women’s Man. Er mag den Sex mit Giuditta, doch sein Herz hängt weiter an Giulia, seiner immer noch Angetrauten. Sex ist Zeitvertreib, doch Liebe ist etwas anderes. Während Sex mit Giuditta sich zunehmend als geschäftlicher Austausch von Informationen etabliert, werden ihm beim Anblick der schlafenden Giulia die Knie schwach. Und als Giulia zu ihm zurückkehren will (warum wohl?), da sieht es für den Sex mit Giuditta nicht mehr so gut aus. Zumal sich die Lady als Doppelagentin entpuppt.

_Unterm Strich_

Dies ist kein Krimi mit Commissario Montalbano, folglich wird auch höchst selten gegessen (und wenn doch, dann äußerst unappetitlich). Dies hier ist das Kontrastprogramm zu den lockeren und heiteren Abenteuern Montalbanos. Hier spielt die Musik im knallharten Geflecht zwischen Politik, Behörden und Medien.

Michele, der opportunistische Held, spricht immer wieder von einer Maschine („màcchina“ heißt aber auch „Auto“), die in Fahrt geraten ist und der man sich nicht in den Weg stellen sollte, will man nicht unter die Räder kommen. Das Ränkespiel der zahlreichen Akteure ist zu durchschauen, die Fühler sind in alle Richtungen auszustrecken. Doch wer zu hohe Ansprüche stellt und womöglich sogar ein Drehbuch schreiben will, der hat sein Todesurteil bereits über sich selbst gesprochen. Alles muss unter der Decke bleiben. Das ist die oberste Regel.

Und die arme Amalia Sacerdote – wird ihr Gerechtigkeit zuteil? Man will es fast nicht glauben, aber es geschieht tatsächlich. Die Notizbücher Amalias mit allen Terminen und Adressen sind zwar verschwunden (worden), aber der Staatsanwalt kann sich noch an einen Namen erinnern. Als er Amalias Wirtsleute vorladen lässt, kristallisiert sich ein Verdacht gegen einen nahezu unsichtbaren Dritten heraus. Darf man Anklage erheben? Knifflige Frage. Zur allgemeinen Verwunderung darf man. Fall gelöst, Manlio Caputo entlastet.

Wie gesagt, ist der Krimi sehr flott zu lesen, weil er fast nur aus Dialogen besteht. Ich habe lediglich ein paar Stunden dafür gebraucht. Das Schwierigste ist das Zuordnen und Auseinanderhalten von Namen. Nach einer Weile tauchen jedoch immer die gleichen Pappenheimer auf, und das Zuordnen geht schon flotter vonstatten. Ach ja: Und ein Happy-End gibt es auch. Wer hätte das gedacht?

|Hardcover: 219 Seiten
Originaltitel: La Rizzagliata (2009)
Aus dem US-Englischen von Moshe Kahn
ISBN-13: 978-3785724187|
[www.luebbe.de]http://www.luebbe.de

_Andrea Camilleri bei |Buchwurm.info|:_

|Commissario Montalbano:|
01 [„Die Form des Wassers“ 306
02 [„Der Hund aus Terrakotta“ 315
03 [„Der Dieb der süßen Dinge“ 3534
04 [„Die Stimme der Violine“ 321
05 [„Das Spiel des Patriarchen“ 312
06 [„Der Kavalier der späten Stunde“ 670
07 [„Das kalte Lächeln des Meeres“ 594
08 „Die Passion des stillen Rächers“
09 [„Die dunkle Wahrheit des Mondes“ 4302
10 [„Die schwarze Seele des Sommers“ 5474
11 [„Die Flügel der Sphinx“ 5875
12 [„Die Spur des Fuchses“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=6461

[„Der zweite Kuss des Judas“ 654
[„Die Rache des schönen Geschlechts“ 659
[„Der falsche Liebreiz der Vergeltung“ 1812
[„Von der Hand des Künstlers“ 2315
[„Die Pension Eva“ (Lesung) 4971

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