Ray Russell – Sardonicus

Russell Ray Sardonicus Cover kleinInhalt:

17 meist kurze, auf eine makabre Pointe zugespitzte Geschichten in der Tradition der „contes cruels“. Manchmal harmlose, meist böse Zeitgenossen trifft (nicht unverdient) ein grausames Schicksal:

Sardonicus (Sardonicus), S. 7-40: Eine bizarre Krankheit soll der berühmte Arzt heilen, sonst droht ihm und der geliebten Frau die grausame Rache des irrsinnigen Patienten.

Der Schauspieler (The Actor), S. 43/44: Der Theaterbesitzer ist nervös, denn ein Darsteller will etwas gänzlich Neues versuchen.

Der Käfig (The Cage), S. 45-51: Die gelangweilte Herzogin spielt ihrem Geliebten übel mit, doch am Ende ereilt sie mehr als die gerechte Strafe.

Die Heldentaten des Argo (The Exploits of Argo), S. 52-54: Auf der Flucht vor einem grausigen Tod blüht dem gestürzten Herrscher ein noch viel grässlicheres Schicksal.

Das Schwert des Laertes (The Sword of Laertes), S. 55-60: Der eifersüchtige Schauspieler verpatzt einen perfekten Mord auf peinliche Weise.

Montage (Montage), S. 61-68: Ein kritischer Regisseur nutzt geschickt das sowjetische Terrorsystem, um einen gefährlichen Rivalen auszuschalten.

Ausgebucht (Booked Solid), S. 69-78: Auf dem Weg nach oben verlässt sie sich auf ihren Begleiter, der alles möglich macht – bis er seinen Preis einfordert.

Holen Sie tief Luft (Take a Deep Breath), 79-84: Die Entwicklung einer ultimativ erfolgreichen Werbekampagne gibt der Welt buchstäblich ein neues Gesicht.

Unser war die Freude (The Pleasure Was Ours), S. 85-90: Auf dem Mars sind Männer knapp, während es sie auf der Erde im Überfluss gibt; die Lösung des Problems liegt nahe.

Das Zimmer (The Room), S. 91-93: Auf der Flucht vor der allgegenwärtigen Werbung zahlt mancher viel Geld für profane Stille.

Ich kehre zurück (I Am Returning), S. 94-98: Der gestürzte Diktator schwört Rache, auch wenn er dafür erst eine ganze Zivilisation erschaffen muss.

Nicht kommunizierbar (Incommunicado), S. 99-101: Der zweite Versuch nach dem Turmbau zu Babel bringt den außerirdischen Invasoren endlich den gewünschten Erfolg.

Seines Vaters Haus (His Father‘s House), S. 102-109: Vater ist tot aber dank moderner Technik weiterhin mit seinen Vorwürfen allgegenwärtig.

Letzter Wille und Testament (Last Will and Testament), S. 110/111: Ein Diktator gedenkt seiner (meist von ihm umgebrachten) Familie und Freunde.

Evolution (The Rosebud), S. 112-114: Die Natur ergänzt, was dem Menschen bisher nur durch technische Hilfsmittel möglich war.

Hier spricht London (London Calling), S. 115-119: Die Vorbereitung der Invasion stellt einen außerirdischen Spion auf eine allzu harte Probe.

Eine kleine Vorsichtsmaßnahme (Ounce of Prevention), S. 120-125: Gerade jetzt entscheidet sich, ob vorsichtige Außerirdische dem Aufstieg der Menschheit ein abruptes Ende bereiten.

Die Welt ist unterhaltsam schlecht

„Alles, was Männern Spaß macht“: So lautet der Untertitel des „Playboy Magazine“, das die genannte Klientel seit 1953 einschlägig beliefert. Zwischen kunstgewerblich aufwendig in Szene gesetzten Aktaufnahmen meist silikonverstärkter Damen gilt es Testseiten zu füllen, was vor allem ‚Artikel‘ leisten, die „Lifestyle“ für echte Männer und Werbung miteinander verschmelzen lassen. Um auch Leserschichten anzulocken, die sich intellektuell fühlen, werden drittens Kurzgeschichten als Feigenblätter präsentiert. Durchaus achtbare Autoren – die auch Männer bzw. nur Menschen sind – wringen sich für schnöden aber beachtlichen Honorarmammon Literaturähnliches aus den Hirnen, wobei sie sich an die „Playboy“-Vorgaben halten: Diese Geschichten sollen unterhalten und dürfen sich ungeachtet des Genres gern erotischer Elemente bedienen, müssen aber bitte immer stilvoll & geistreich bleiben! Man(n) ist ja kein proletarischer Pornograf.

Beliebt sind Storys mit Pointe. Sie ist die Belohnung für jene, die sich tatsächlich durch die Text[il]teile des genannten Magazins quälen. Eine Pointe lässt den Erzähler gescheit wirken, was den Hörer oder Leser indirekt einbezieht, da dieser ja intelligent genug sein muss, diese Pointe zu verstehen. (Ein guter Erzähler sorgt dafür, dass dies stets gewährleistet ist.)

Ray Russell war kein ‚guter‘ = literarisch anspruchsvoller Autor. Wie „Sardonicus“ belegt, konnte er jedoch deutlich mehr und Besseres schreiben, als uns in dieser Sammlung vorgelegt wird. In der Tat war Russell kein Literat, sondern ein Profi, der für seinen Lebensunterhalt arbeitete und lieferte, was Auftraggeber wünschten. Allerdings erschien auch „Sardonicus“ zunächst im „Playboy Magazine“, was nicht ganz ins weiter oben skizzierte Profil zu passen scheint. Doch höchstens die Länge des Textes ist ungewöhnlich. Inhaltlich fügt sich auch „Sardonicus“ in die „Playboy“-‚Philosophie‘ ein: Die unerhörte, grausame Strafe, die Sardonicus-Gattin Maude lange nicht einmal ansatzweise zu enthüllen wagt, besteht darin, zum Sex gezwungen zu werden, sollte Dr. Cargrave mit seiner Behandlung scheitern.

Es kommt grundsätzlich anders als erwartet

Doch Russell nutzt die Gelegenheit, die ihm die Länge der Story bietet, und kreiert ‚gotischen‘ Horror klassischen Zuschnitts. Er kehrt zurück in die viktorianische Ära. Nicht von ungefähr erinnert Dr. Cargraves Fahrt zu Sardonicus‘ Schloss an jene Reise, die Anwalt Jonathan Harker in Bram Stokers „Dracula“ (1897) unternahm. Am Zielort wartet allerdings kein Vampir auf Cargrave. Russell hat den Bösewicht geschickt modernisiert.

„Gotisch“ i. S. eines Horrors, der in Anlehnung an die Schauerliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts drastische Effekte mit den Ausflüssen der dunklen Seiten der Seele verknüpft, ist die Wahl des Anti-Helden Sardonicus, der keine Gestalt aus dem Jenseits, sondern ein Mensch ist, der den Verstand verloren hat bzw. skrupellos seinen Reichtum nutzt, um den Menschen seinen Willen aufzuzwingen und sich über Gesetze und Moral zu stellen: Nicht der Vampir, der Werwolf, das Gespenst, sondern allein der Mensch war und ist des Menschen Wolf.

Auch „Sardonicus“ endet mit einer Pointe, gipfelt aber nicht in ihr. Die Geschichte ergibt ohne die finale Überraschung Sinn, wird durch sie aber aufgewertet, weil sie dem Geschehen einen logischen Schlusspunkt setzt, den man bisher zuweilen vermisste: Allzu vordergründig schien Russell manchmal in grellem Horror und Melodramatik zu schwelgen. Freilich ist auch dies ein typisches Merkmal des gotischen Horrors.

Der Rubel muss rollen

Die kürzeren Storys sind quasi notgedrungen auf ihre Pointen zugespitzt. Russell muss sich sputen, was weder der Handlung noch der Figurenzeichnung zugutekommt. Er ist deshalb zum Einsatz von Klischees gezwungen, die er durchaus geschickt zu nutzen weiß („Der Käfig“, „Montage“). Nichtsdestotrotz lassen die meisten Geschichten erkennen, dass Russell vor allem an den Honorarscheck dachte, als er sie schrieb.

Storys wie „Der Schauspieler“ und „Letzter Wille und Testament“ sind im Grunde nur Witze, die schon zu ihrer Entstehungszeit wenig Originalität beanspruchen konnten. Auch sonst ist die Zeit Russells Erzählungen nicht gut bekommen. Es liegt vor allem an daran, dass ihre ‚makabren‘ Höhepunkte heute eher belustigen als erschrecken. „Ausgebucht“, „Das Zimmer“ oder „Holen Sie tief Luft“ thematisieren Missstände auf inzwischen peinlich naive Art: Diese Schocks haben ausgedient, denn sie sind längst Teil der Alltagslebens geworden.

Man könnte annehmen, dass Russell seine enge Verbundenheit mit dem „Playboy Magazine“ ausnutzte. Es sicherte ihm lange eine Plattform für Storys, die außerhalb dieses Biotops womöglich nicht erschienen wären. Ihre Kürze ermöglicht den direkten Vergleich, der ihnen keineswegs guttut: Der Leser erkennt schnell die Machart, die durch Russells heiße Nadel = Schreibfeder zusätzlich unterstrichen wird. Manchmal scheint der Autor sein Publikum verspotten zu wollen; für Storys wie „Das Schwert des Laertes“ oder „Unser war die Freude“ lässt sich beim besten Willen keine Existenzberechtigung finden.

Interessant ist Russell als Repräsentant einer ‚Gebrauchsliteratur‘, die sich überlebt hat. Seine ohnehin behutsamen Tabubrüche konversieren eine bereits zu ihrer Zeit nur behaupteten („Playboy“-) Philosophie. In gewisser Weise trifft dieses Urteil auf Russells Gesamtwerk zu. Zwar veröffentlichte er seinen letzten Roman 1992, doch hob selbst die ihm gewogene zeitgenössische Kritik die ranzig gewordenen „Oh-la-la“-Ferkeleien hervor, die Russell mit ähnlich unbeholfenen S/M-Effekten anreicherte. Ist die Leserschaft anspruchsvoller geworden? Zumindest verlangt sie auch in der trivialen Unterhaltung heute nach besseren Tricks.

„Sardonicus“ als Film

Auf der Suche nach einem Stoff, den er in einen der für ihn typischen, d. h. grellen, schnell & billig hergestellten, marktschreierisch beworbenen B-Movies verwandeln konnte, stieß Produzent William Castle (1914-1977) auf Russells „Sardonicus“. Der Verfasser schrieb selbst das Drehbuch und verlegte die (1880 spielende) Handlung in ein fiktives Balkan-Land namens „Gorlava“.

Die männlichen Hauptrollen übernahmen Ronald Lewis (1928-1982) als Sir Robert Cargrave und Guy Rolfe (1911-2003) als Baron Sardonicus, das weibliche Objekt der Begierde mimte Audrey Dalton (*1934) – Darsteller der zweiten und dritten Garnitur, die vor allem gewöhnt waren, unter Geld- und Termindruck zu arbeiten.

Castle führte selbst Regie. In Erinnerung bleibt „Mr. Sardonicus“ nicht durch inhaltliche Raffinesse oder schauspielerische Höchstleistungen, sondern vor allem durch Rolfes eindrucksvolle, qualvoll ertragene Maske, die selbst den Batman-Schurken Joker als Meister des krankhaften Grinsens in den Schatten stellt.

Autor

Raymond Robert Russell wurde am 4. September 1924 in Chicago, US-Staat Illinois, geboren. Er studierte Musik am Goodman Memorial Theatre und am Chicago Conservatory of Music. Seit 1954 arbeitete Russell für das „Playboy Magazine“. Als stellvertretender, geschäftsführender und schließlich beratender Herausgeber blieb er der Zeitschrift bis in die 1970er Jahre verbunden. Im „Playboy“ veröffentlichte Russell zahlreiche Kurzgeschichten. Der Erfolg seiner Erzählung „Sardonicus“ ließ Hollywood 1961 den Stoff aufgreifen. Russell schrieb bis 1966 Drehbücher für fünf weitere, zunehmend trashiger werdende Horrorfilme (u. a. „Zotz!“, 1962; „The Horror of It All“, 1966).

Für sein Lebenswerk wurde Russell 1991 mit einem „World Fantasy Award“ ausgezeichnet. Im Alter von 74 Jahren erlag der Autor am 15. März 1999 in Los Angeles einem Hirnschlag.

Taschenbuch: 125 Seiten
Originaltitel: Sardonicus and Other Stories (New York : Ballantine Books 1961)
Übersetzung: Walter Brumm
www.randomhouse.de/heyne

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