Lee Child – Der Anhalter (Jack Reacher 17)

Reacher, die Ein-Mann-Armee

Jack Reacher bemüht sich, harmlos auszusehen, was ihm mit seiner großen, massigen Gestalt und der gebrochenen Nase nicht leichtfällt. Umso dankbarer ist er, als endlich ein Auto anhält, um ihn mitzunehmen. Die Frau und die beiden Männer sind vermutlich Kollegen. Er weiß nichts von ihrer Verwicklung in den Mord, der nicht weit entfernt verübt worden ist. Für die Insassen ist Reacher nur eine Möglichkeit, die Polizei von sich abzulenken. Sie ahnen nicht, wer bei ihnen im Auto sitzt. Schließlich sieht Reacher aus wie ein harmloser Anhalter… (korrigierte Verlagsinfo)

Der Autor

Lee Child verdankt seine außerordentliche Karriere als Krimiautor einer eher unangenehmen Lebenssituation: 1995 wurde ihm wegen einer Umstrukturierung sein Job beim Fernsehen gekündigt. Der Produzent so beliebter Krimiserien wie „Prime Suspect“ („Heißer Verdacht“) oder „Cracker“ („Für alle Fälle Fitz“) machte aus der Not eine Tugend und versuchte sich als Schriftsteller. Was selbst wie ein Roman klingt, entspricht in diesem Fall der Wahrheit: Bereits mit seinem ersten Thriller um den Ermittler Jack Reacher landete Child einen internationaler Bestseller. Er war zugleich Auftakt der heute mehrfach preisgekrönten „Jack-Reacher“-Serie. Child, der 1954 in Coventry in England geboren wurde, ist heute in den USA und Südfrankreich zu Hause. (Amazon.de)

1) Größenwahn (Killing Floor, 1997)
2) Ausgeliefert (Die Trying, 1998)
3) Sein wahres Gesicht (Tripwire, 1999)
4) Zeit der Rache (Running Blind/The Visitor, 2000)
5) In letzter Sekunde (Echo Burning, 2001)
6) Tödliche Absicht (Without Fail, 2002)
7) Der Janusmann (Persuader, 2003)
8) Die Abschussliste (The Enemy, 2004)
9) Sniper (One Shot, 2005)
10) Way Out (The Hard Way, 2006)
11) Trouble (Bad Luck and Trouble, 2007)
12) Outlaw (Nothing to Lose, 2008)
13) Underground (Gone Tomorrow, 2009)
14) 61 Hours (61 Hours, 2010)
15) Wespennest (Worth Dying for, 2010)
15.5. Second Son (2011)
16. The Affair (2010)
16.5. Deep Down (2012)
17. A Wanted Man (2012)
17.5. High Heat (2013)
18. Never Go Back (2013)
18.5. Not a Drill (2014)
19. Personal (2014)
20. Make Me (2015)
21. Night School (2016)
22. Midnight Line (2017)

Handlung

Nebraska ist um Mitternacht eine gottverlassene Gegend, sollte man meinen. Ringsum nur dunkle, kalte Prärie. Aber nicht an der Auffahrt zum Interstate Highway nach Chicago. In „Sin City“ gibt es eine kilometerlange Reihe von Cocktail Bars, Tankstellen, Motels, Striplokalen und mehr. Jack Reacher kann sie aus der Ferne sehen, als er an der Auffahrt zur Autobahn den Daumen hebt. Das Pflaster über seiner frisch gebrochenen Nase schreckt viele Autofahrer ab, auch seine imposante Gestalt von 195 Zentimetern Größe wirkt nicht gerade gemütlich. Er wartet geschlagene 95 Minuten, bis er mitgenommen wird.

Die drei Insassen der dunkelblauen Chevrolet-Limousine müssen erst debattieren, ob sie ihn mitnehmen, und seine Cop-Augen verfolgen genau, wie das abläuft. Die Frau im Fonds muss den zwei Männern, die vorne sitzen, gehorchen. Seltsamerweise tragen alle Jeanshemden, sogar die Frau, sie sind also ein Team. Schon bald muss Reacher diese Hypothese verwerfen. Sie nehmen ihn nicht wegen seiner schönen Nase mit, sondern weil sie sich tarnen müssen.

Die Leiche

Sheriff Goodman wird zu einer Pumpstation in der Prärie am Rande von Sin City gerufen. In dem uralten Bunker liegt eine männliche Leiche erstochen in ihrem Blut. Keine Papiere, keine Identität. Der einzige männliche Zeuge hat zwei weiße Männer in schwarzen Anzügen mit diesem Mann hineingehen, aber allein wieder herauskommen gesehen. Sie gingen zu einem knallroten PKW, mit dem sie wegfuhren.

Die erste Straßensperre bringt nichts, denn die Beschreibung zweier Männer in einem knallroten PKW stimmt längst nicht mehr. Da die Flüchtigen bereits die Staatsgrenze überschritten haben dürften, ist jetzt die Bundespolizei FBI zuständig. FBI-Agentin Julia Sorenson befragt den Zeugen nochmals, und inzwischen hat Goodman auch den roten PKW gefunden, einen Mazda 6. Er ist hinter einer Imbissbude abgestellt und geradezu stubenrein. Sorenson entdeckt die Tankstelle jenseits der Straße und prüft deren Aufnahmen der Überwachungskamera. Bingo! Nur dass unter den zwei Autos, die zur fraglichen Zeit nach Mitternacht, als der Imbiss schloss, auch ein dunkler Chevrolet durchs Bild fährt.

Der erste Anruf, den Sorenson von einer anderen US-Behörde erhält, kommt vom Außenministerium.

Blinzelcode

Reacher hat auf Bitten eines der Fahrgäste das Steuer übernommen und wundert sich, dass die Frau, die im Fonds sitzt, ihn ständig anblinzelt. Zumindest sieht er das im Rückspiegel. Er hat mit dem Wagen zwei Straßensperren ohne Zwischenfälle passiert. Die Frau im Fonds heißt Karen Delfuenso, und sie spricht sehr wenig. Dafür sprechen Alan King und McQueen umso mehr. Sie bestimmen darüber, was Karen zu trinken bekommt, wissen aber nicht, welche Art von Kaffee. Offensichtlich gehört Karen nicht zum Team. Denn ein Team weiß immer, wer was wie trinkt.

Und nun fängt die Frau an zu blinzeln. Sie morst quasi fünf Buchstaben oder Zahlen. Aber was sie „morst“ – denn es ist bestimmt kein Morsecode – ergibt keinen Sinn. Bis Reacher einfällt, dass er sie ja spiegelverkehrt sieht. MEINAUTO, blinzelt sie. Der Wagen gehört ihr, nicht den Männern. Dann: BLUT AN IHRER KLEIDUNG. Schließlich: ICH HABE EIN KIND und SIE HABEN PISTOLEN. Reacher bleibt ganz ruhig. Er war 13 Jahre bei der Militärpolizei in der Mordkommission und hat schon einiges gesehen. Es gibt verschiedene Optionen, die er alle verwirft: unpraktikabel.

Da wacht McQueen, der direkt hinter Reachers Fahrersitz platziert ist, auf und befiehlt, irgendwo in Iowa die Autobahn zu verlassen, um zu tanken. Obwohl die Tankanzeige verrät, dass der Benzinvorrat noch halb voll ist. Hat er einen Plan, nachdem seine Tarnung nicht mehr gebraucht wird?

Eskalation

Durch Befragung der Inhaberin der Imbissbude sind Goodman und Sorenson auf das Heim von Karen Delfuenso gestoßen. Es ist leer. Als Kellnerin hätte Karen schon längst wieder zurück sein müssen, sagt der Nachbar, zumindest um ihr Kind von der Nachbarin gegenüber abzuholen. Die zehnjährige Tochter verbringt dort oft die Nacht, bis Mami von der Arbeit heimkommt.

Sorenson lässt östlich von Nebraska nach einem dunklen Chevrolet mit zwei Männern und einer Frau suchen. Das Ergebnis ist gleich Null. Der Grund: Im Wagen sitzen vier Insassen, wie sie zu spät von einem Sergeant der State Trooper in Iowa erfährt. Am Steuer eines möglichen Wagens saß ein großer Weißer, der durch seine gebrochene Nase auffiel. Wer, zum Geier, ist der Typ?

Ein weiterer Crown Vic, der Standardwagen der Bundesbehörden, hält vor Julias provisorischem Hauptquartier, wo die Spusi inzwischen den roten Mazda in seine Bestandteile zerlegt. „Crown Vic“ bedeutet: Wir sind vom FBI. Doch die beiden Männer, die aussteigen und sich Wintermäntel anziehen, sagen: „Wir sind von der Terrorismusabwehr.“ Wenig später hält ein weiterer Wagen, und der Typ, der aussteigt, ignoriert die Cops und die Spusi ebenfalls, bevor er Julia verrät, wer er ist: „Außenministerium.“ Der politische Arm der CIA, die sich ebenfalls schon am Telefon gemeldet hat.

Allmählich beginnt sich Julia Gedanken zu machen, ob sie hier an der richtigen Stelle ist – an einer uralten Pumpstation in der Mitte von Nirgendwo, auf deren Boden ein namenloser Toter liegt, für den sich aber Gott und die Welt interessiert. Da tritt Sheriff Goodman zu ihr und sagt: „Unser Augenzeuge wird vermisst…“

Mein Eindruck

Der Mittlere Westen ist ausgedehnt und beinahe menschenleer. Diese Lektion erteilt uns Reacher ein weiteres Mal, nachdem er offenbar kürzlich Abenteuer im kalten South Dakota (in „61 Stunden“) überstanden hat – daher rührt vielleicht auch seine gebrochene Nase. (Die Abenteuer folgen nicht unbedingt der Reihenfolge der Romanveröffentlichung.) Es sind 600 Meilen von Denver nach Sin City, wie der Wildwuchs an Etablissements entlang der Straße in Nebraska genannt wird, und immerhin 300 Meilen von Kansas City, Missouri.

In dieser menschenleeren Gegend, die von Großgrundbesitzern und Agro-Industriekonglomeraten, haben es Agenten des FBI schwer. Davon kann Julia Sorenson ein Lied singen, denn sie blickt bereits auf 17 Dienstjahre in dieser Gegend zurück. Sheriff Goodman, rüstige 70, dürfte noch mehr Dienstjahre auf dem Buckel haben, und die meisten davon waren Überstunden. So wie jetzt, als er sich nach 30 Stunden Ermittlungen immer noch auf den Beinen zu halten versucht. Er zahlt dafür den ultimativen Preis. Und es ist nur eine Frage der Zeit, bis Reacher herausfindet, wer von den Agenten, mit denen er es zu tun bekommt, ebenfalls ins Gras beißt.

Und das sind eine ganze Menge Agenten, seien sie aus Omaha, aus Washington, D.C., oder gar von der CIA. Die Frage lautet: Wer hat sie alle gerufen bzw. ausgesandt? Denn dass dies kein simpler Mord in einer obskuren Pumpstation gewesen, wird Julia Sorenson & Co. bald klar. Dass der Auslandsgeheimdienst CIA im Inland ermittelt, ist auch nicht ganz koscher, um nicht zu sagen: illegal. Der Schlüssel zum Rätsel ist der Getötete selbst: „Handelsattaché“ ist nur ein anderes Wort für „CIA-Agent“, lernt Reacher. Er ist nach 13 Jahren als Militär-Cop nicht überrascht. Und als der „Handelsattaché“ dann auch noch Verbindungen in den Nahen Osten und Pakistan aufweist, ahnt Julia Sorenson, dass hier irgendwo ein großes Rad gedreht wird. Aber welches?

Wieder einmal bekommt es Reacher mit einer verborgen operierenden Gruppe von Terroristen zu tun. Sie werden von keiner anderen als Karen Delfuenso gesucht, die sich als FBI-Agentin ausweist. Den Terroristen spielt die Ausdehnung der großen Ebenen ebenso in die Hände wie die Anonymität der wie ausgestanzt wirkenden Vorstadtsiedlungen: Sie können überall sein. Denn muss sich irgendwo ein Hauptquartier befinden, von dem aus sie tätig sind und wo man sie mit elektronischen Mitteln nicht orten kann, denkt Reacher. Wie sich schließlich herausstellt, reicht der technische Stand der sechziger Jahre völlig aus, ohne Computer und Telefon eine große Operation zu führen, die große Summen umsetzt – und sich die Hinterlassenschaften des Militärs aus dem Kalten Krieg zunutze macht.

Unterm Strich

Da das US-Militär eine globale Organisation ist, die seit über 200 Jahren baut und Dinge herstellen lässt, kann man sich ungefähr vorstellen, für welche Summen (des Steuerzahlers) diese Organisation im Laufe der Jahrzehnte gebaut hat. Nicht viel davon wird heute noch verwendet und genutzt, wie Reacher weiß. In South Dakota war es ein alter, verlassener Flugplatz der Luftwaffe, den obskure Verbrecher für ihre Zwecke umfunktionierten. In der Gegend um Kansas City stößt er ebenfalls auf die Hinterlassenschaften des Militärs. Es ist zwar weder ein Flugplatz noch ein Raketenbunker, aber sein Inhalt ist ebenso brisant: Atommüll.

Die Idee, mit radioaktivem Material den Grundwasservorräten von Nebraska zu einer „strahlenden“ Zukunft zu verhelfen, liegt nahe. Aber welcher Terrorist würde es sich schon neben einem Castor-Behälter gemütlich machen? Was noch mehr dahintersteckt, will Reacher mit Delfuenso und Sorenson herausfinden. Schon bald verkündet eine wohl gezielte Kugel, dass die Bewacher des Geländes großen Wert auf Diskretion legen.

Reacher klappert wie üblich eine ganze Serie von Hinweisen ab, kooperiert mit Agentinnen, die sich von ihm überzeugen bzw. einwickeln lassen und macht schließlich seinen entscheidenden Schachzug: als Ein-Mann-Armee läutet er ein 60 Seiten langes Action-Finale ein. Das ist fast ein Siebtel des Buchumfangs.

Machos, Waffenfetischisten und Actionfans sind hier also gleich an der richtigen Adresse. Diese eindeutige Haltung sowie die leicht lesbare und geradezu süchtig machende Schreibe des Autors machen auch diesen Reacher-Band wieder zu einer rasant-spannenden Lektüre. Ich habe die rund 450 Seiten in nur zwei Tagen gelesen. Druckfehler fand ich keine, was ich hier positiv vermerken sollte.

Hardcover: 446 Seiten
Originaltitel: A Wanted Man, 2012
Aus dem Englischen von Wulf Bergner
ISBN-13: 9783734103001

www.blanvalet.de

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