Maria Fleischhack – Die Welt des Sherlock Holmes

Kriminalist wird ketten- bzw. copyrightfrei

Zum großen Jammer der Erben von Arthur Conan Doyle (1859-1930) sowie zahlreicher Verlagshäuser erlosch 2014 das Copyright auf die Figur Sherlock Holmes und das Gros der Holmes-Romane und Geschichten. Bis zuletzt hatten sich jene, die sich seit 1930 bequem zurücklehnen und Lizenzgebühren einstreichen konnten, erbittert und unter Einsatz sämtlicher Advokaten-Schlichen gegen ihre Gegner gewehrt, die genau dies nicht mehr tun wollten. Justitia hat gesprochen, Sherlock Holmes ist frei bzw. kann nach Belieben in fremde Dienste gezwungen werden.

Auch das vorliegende Sachbuch verdankt sein Erscheinen zu einem Gutteil der Aufhebung dieser Urheberrechte. Es steht kein Jubiläum an, das diese Veröffentlichung erklären könnte. Wer zuerst kommt, mahlt = kassiert zuerst, doch hätte es sicherlich schlimmer kommen können: „Die Welt des Sherlock Holmes“ ist zwar ein Buch, das dem gleichermaßen pompösen wie nichtssagenden Titel nicht gerecht wird. Dass dieses Werk nicht den Anspruch quasi wissenschaftlicher Vollständigkeit erheben kann oder will, ist eine jedoch Tatsache, aus der zumindest die Autorin Maria Fleischhack in ihrer Einleitung keinen Hehl macht. Sie strebt den Überblick an und lässt die recherchierten Informationen in eine Gliederung einfließen, die nicht wie die meisten Holmes-Doyle-Darstellungen an der Chronologie klebt, sondern sich von ihr löst, mit den Fakten arbeitet und sie als Bausteine zur Verdeutlichung interessanten Zusammenhänge bedarfsorientiert gruppiert.

Kapitel 1 stellt „Arthur Conan Doyle als Autor des Meisterdetektivs“ (S. 13-29) vor. Die Vita bleibt kurz, ohne dass der Leser Relevantes vermissen müsste; generell ist die Verfasserin – Dozentin für Anglistik an der Universität Leipzig – erfreulich wortgewandt, ohne in der Raffung flüchtig zu wirken. Zudem hat sie kein Problem damit, in späteren Kapiteln zur Doyle-Vita zurückzukehren, wenn dies der Darstellungsdeutlichkeit dienlich ist.

Vom Urknall zum Krimi-Kosmos

Kapitel 2 präsentiert „Die wichtigsten Figuren der Geschichte“ (S. 30-107). Im Vordergrund steht natürlich Sherlock Holmes selbst. Seine Wurzeln lassen sich einerseits recht genau feststellen, während Autor Doyle andererseits Mut zur Lücke bewies und sich nicht durch die Schaffung einer lückenfreien Chronik, auf die er in Vorbereitung neuer Holmes-Storys aufwändig hätte Bezug nehmen müssen, einengen und hemmen ließ. Doyle sah Holmes zeitweise vor allem als Einnahmequelle (ohne sein Publikum deswegen mit Tand abzuspeisen). Als er ihm zwischenzeitlich lästig wurde, stürzte er ihn einfach in die Wasserfälle des Reichenbaches, um ihn später ohne großes Federlesen ins (erst recht lukrative) Leben zurückzurufen.

Einmal mehr erläutert Fleischhack, wie wichtig Dr. Joseph Bell (1837-1911) für die Charakterisierung der Holmes-Figur wurde: Der schottische Arzt, Chirurg und Dozent sammelte – ein Mittler zwischen Medizin und Kriminalistik – Spuren, wertete sie aus, eliminierte dabei Fehler und Irrtümer und hielt mit den verbleibenden Indizien den Schlüssel zur Lösung medizinischer Probleme in den Händen – eine Praxis, die Bell so perfektioniert hatte, dass auch der junge Student Doyle nachhaltig fasziniert war.

Es folgt eine auch heute noch wichtige Einschätzung der Figur Dr. John Watson: Viel zu oft und vor allem in den ansonsten großartigen Holmes-Filmen der Hollywood-Jahre 1939 bis 1946, in denen Basil Rathbone Holmes verkörperte, gab Watson den geistig beschränkten Sidekick, der für dumme Fragen und unbedachtes Handeln zuständig war. Dabei sah Doyle Watson als elementare Ergänzung seines Detektivs: Gemeinsam waren Holmes & Watson nicht doppelt, sondern vierfach so gut, weil sie sich gerade aufgrund ihrer intellektuellen und wesensbedingten Unterschiede perfekt ergänzten.

Der „Kanon“: 60 Fälle für die Ewigkeit

Fleischhack beschreibt weitere Figuren, die unverzichtbar für den „Kanon“ – jene 56 Erzählungen und vier Romane, die Doyle selbst schrieb – sind: Vermieterin Mrs. Hudson, diverse von Holmes gern spöttisch (aber nicht herablassend) behandelte Polizisten von Scotland Yard und natürlich Mycroft Holmes, Sherlocks älterer Bruder, der nur zweimal persönlich auftrat und doch ein erstaunliches Eigenleben entwickelte. Abgerundet wird dieses Kapitel durch die drei großen Gegenspieler des Ermittlers – Professor James Moriarty, Colonel Sebastian Moran und „die Frau“ Irene Adler. Hinzu tritt als Widerling ohne jene düstere Eleganz, die Doyle seinen nie eindimensionalen ‚Schurken‘ verlieh, Charles Augustus Milverton.

Kapitel 3 stellt „Die Fälle des Sherlock Holmes“ (S. 108-184) ins Zentrum. Der „Kanon“ wird Story für Story, Roman für Roman vorgestellt, wobei es die Autorin nicht bei einer Inhaltsangabe bewenden lässt, sondern dort, wo sie entstehungswichtig und bekannt sind, (literatur-) historische Fakten anführt. Doyle griff gern auf reale Ereignisse und Personen zurück, die er entweder verfremdete oder direkt übernahm, um auf diese Weise Fiktion und Realität auf eine für sein Publikum reizvolle Weise zu vermischen.

Fleischhack spart dort, wo es die Faktenlage erfordert, keineswegs an Kritik. Doyle, der redlich aber unbekümmert seine Holmes-Garne spann, würde ihr vermutlich als erster zustimmen, dass er vor allem in den nach 1900 entstandenen, das Element der Aktualität zunehmend zugunsten der Nostalgie ausblendenden Geschichten oft mit recht heißer Feder schrieb, was er freilich schon mit der nächsten Erzählung wettmachen konnte: Doyle war und blieb bis an sein Lebensende als Schriftsteller ein Vollprofi. Dies präzisiert die Autorin in Kapitel 4. „Arthur Conan Doyles Spiel mit den Lesern“ (S. 185-213) basierte auf nicht unbedingt komplexen, von Doyle freilich ausgezeichnet beherrschten Stil- und Spannungselementen. Dazu gehörte der Kunstgriff, nicht Holmes, sondern Watson berichten zu lassen. Auf diese Weise wahrte Holmes seine mysteriöse Eigenständigkeit und Außenseiterrolle: Doyle ließ ihn nicht gar zu ‚menschlich‘ und damit berechenbar werden.

So wie Doyle das reale London in das Feld seines „großen Spiels“ verwandelte, machten sich seine Leser Holmes und dessen Welt zu Eigen. Allmählich wurden Holmes, Watson, Moriarty & Co. zu ‚echten‘ Menschen mit Biografien, die mit tatsächlichen Orten verknüpft wurden. Baker Street Nr. 221B hat als Adresse in London nie existiert; ein Manko, das längst behoben wurde. Inzwischen lässt sich die in ein Museum verwandelte, tatsächlich vollständig gefakte Wohnung von Holmes und Watson besichtigen. Gästeführer begleiten Aficionados durch die Stadt zu den Orten der von Doyle beschriebenen und von Holmes gelösten Verbrechen. Selbst in der fernen Schweiz erinnert an den Reichenbachfällen eine Gedenktafel an den tödlichen Zweikampf mit Professor Moriarty: Die Liebe der Fans (sowie die Geschäftstüchtigkeit derer, die an ihm verdienten) ließ Holmes zur prominenten Person der Weltgeschichte aufsteigen.

Outburst: Holmes als multimediales Phänomen

Kapitel 5 trägt den Titel „Sherlock Holmes erobert die Welt“ (S. 214-261), was keine Untertreibung darstellt. Schon zu Doyles Lebzeiten bekamen die Holmes-Fans nie genug ‚Nachschub‘, denn der Autor dachte nicht daran, sich zum (Lohn-) Sklaven seiner Figur zu machen. Also schrieben andere Autoren neue Holmes-Storys. Zunächst waren es Satiren und Parodien, dann wurden es Pastiches, die inhaltlich wie formal die originalen Geschichten so präzise wie möglich nachschöpfen sollten. Doyle lebte lange genug, um ebenso interessiert wie amüsiert diese Verselbstständigung zu beobachten. Er war großzügig mit diesen Epigonen, zumal er nicht ahnen konnte, welche Dynamik dieses ‚Nachleben‘ annehmen würde.

Involviert war Doyle dagegen in Holmes Auftritte als Theaterstar. Hier schrieb er selbst mehrere Stücke und war fasziniert vom Schauspieler William Gillette (1853-1937), der genau so aussah, wie er sich seinen Detektiv vorgestellt hatte – für Gillette ein Gottesgeschenk, denn bis zu seinem Ruhestand trat er immer wieder als Sherlock Holmes auf die Bühne sowie vor die frühe Filmkamera, denn selbstverständlich ignorierte das Kino Holmes nicht. Schon in der Stummfilmzeit entstanden in den Studios der ganzen Welt zahlreiche Streifen, von denen manche heute verloren sind. Das Radio-Hörspiel war ein Holmes-Heimspiel, der Tonfilm brachte den endgültigen Durchbruch. Holmes-Kinofilme und Fernseh-Serien entstanden bis heute in dreistelliger Zahl. Hinzu kommen unzählige Filme, die sich aus Copyright-Gründen nur lose aber dennoch deutlich auf den Holmes-Kosmos stützten.

Wie weit sich Holmes von seinen rein literarischen Wurzeln gelöst hatte, stellte zuletzt das Internet unter Beweis. Schon zuvor hatten sich Clubs überall auf der Welt aufwändig und gern geradezu ‚wissenschaftlich‘ über Aspekte des Holmes-Kosmos‘ ausgetauscht. Entsprechende Aktivitäten sind heutzutage wesentlich einfacher zu verbreiten und zu koordinieren, weshalb die Sekundärliteratur manche historische Realität in den Schatten stellt.

Zerfasern auf der Zielgeraden

Maria Fleischhack bewegt sich spürbar trittsicher auf festem Grund, solange sie sich dem historischen Sherlock Holmes widmet. Kritiker aus dem Lager faktenfester und auch sonst beinharter Sherlockians haben ihr einige Detail- oder Flüchtigkeitsfehler nachgewiesen; so verwechselt sie u. a. einmal Sherlock mit seinem Bruder Mycroft. Angesichts der ansonsten gut servierten Informationen sind solche Klopfer zu verschmerzen.

Kritikerkonform bzw. ein Stück weiter geht dieser Rezensent, wenn er – aus seiner Sicht – echte Lücken beklagt. So fehlt beispielsweise ein expliziter Blick auf das kriminelle bzw. polizeiliche Milieu des viktorianischen London. Interessant weil bezeichnend wäre außerdem eine Antwort auf die Frage, wieso Doyle offensichtlich einen Bogen um Verbrechen beging, die Holmes auf jeden Fall auf den Plan gerufen hätten; ganz oben auf der Liste stehen hier die Morde von Jack the Ripper, denn im Herbst 1888 war Holmes als Ermittler sowohl in London als auch höchst aktiv.

Die Eroberung der Welt durch Sherlock Holmes fällt bei Fleischhack zunehmend flüchtig aus. Jenes Gleichgewicht zwischen Fakt und Raffung, das die ersten vier Kapitel auszeichnet, weicht einer Fahrigkeit, die den Verdacht nahelegt, dass die Autorin hier um der Vollständigkeit des Themas ein Thema aufgreifen musste, für das ihr weder die notwendige Recherchezeit noch der notwendige Raum zugestanden wurden. Der sowohl multimediale als auch globale Holmes lässt sich allzu stichwortartig nicht darstellen. So glänzt der digital in zum Teil hervorragenden Games präsente Ermittler bei Fleischhack durch Abwesenheit.

Ebenfalls unerfreulich ist die bescheidene Bebilderung. Dieses Buch ist nicht nur in einem Verlag erschienen, der zur Wissenschaftlichen Buchgemeinschaft gehört, die einen gewissen Ruf als Verlag für Fachliteratur genießt: Es ist zudem recht kostspielig. Die meisten Abbildungen zeigen nichtsdestotrotz nur die bekannten Stiche des Illustrators Sidney Paget (1860-1908) aus dem „Strand Magazine“, die ebenfalls in Public Domain übergegangen sind. Ein tieferes Graben nach weniger bekannten Abbildungen ersparten sich Autorin und Verlag; der Leser beklagt es, kann sich aber auf jeden Fall mit einer in den ersten vier Kapiteln thementauglichen Darstellung gut trösten. Und wie es sich gehört, runden eine Liste der vorgestellten (Holmes-) Werke, ein Literaturverzeichnis, ein Namenregister und ein Werkregister dieses Sachbuch ab.

Gebunden: 287 Seiten
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eBook (PDF): 1504 KB
ISBN-13: 978-3-650-40032-1
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eBook (epub): 5719 KB
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