Lee Child – Im Visier (Jack Reacher 19)

Jack Reacher, ‚Der Schakal‘ und die Bohnenranke

John Kott ist einer der besten Scharfschützen, die die U.S. Army jemals hervorgebracht hat. Doch er ist auch ein skrupelloser Mörder, der den französischen Präsidenten erschießen wollte. Das Attentat schlug fehl, aber in Kürze wird er eine neue Gelegenheit haben: der G8-Gipfel in London. Es gibt nur einen Mann, der ihn aufhalten kann. Nur einen, der Kott ebenbürtig ist. Jener Mann, der Kott schon einmal ins Gefängnis brachte: Jack Reacher! (Verlagsinfo)

Der Autor

Lee Child wurde in den englischen Midlands geboren, studierte und arbeitete dann viele Jahre als TV-Produzent. Heute lebt er mit Frau und Tochter im US-Bundesstaat New York. Mit seinen Jack-Reacher-Thrillern hat er sich eine große Lesergemeinde erobert und wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet, darunter mit dem Anthony Award. Aktuelle Infos: http://www.fantasticfiction.co.uk/c/lee-child/

1) Größenwahn (Killing Floor, 1997)
2) Ausgeliefert (Die Trying, 1998)
3) Sein wahres Gesicht (Tripwire, 1999)
4) Zeit der Rache (Running Blind/The Visitor, 2000)
5) In letzter Sekunde (Echo Burning, 2001)
6) Tödliche Absicht (Without Fail, 2002)
7) Der Janusmann (Persuader, 2003)
8) Die Abschussliste (The Enemy, 2004)
9) Sniper (One Shot, 2005)
10) Way Out (The Hard Way, 2006)
11) Trouble (Bad Luck and Trouble, 2007)
12) Outlaw (Nothing to Lose, 2008)
13) Underground (Gone Tomorrow, 2009)
14) 61 Hours (61 Hours, 2010)
15) Wespennest (Worth Dying for, 2010)
15.5. Second Son (2011)
16. The Affair (2010)
16.5. Deep Down (2012)
17. Der Anhalter (A Wanted Man, 2012)
17.5. High Heat (2013)
18. Die Gejagten (Never Go Back, 2013)
18.5. Not a Drill (2014)
19. Im Visier (Personal, 2014)
20. Make Me (2015)
21. The Night School
22. The Midnight Line

Handlung

Reacher kommt gerade mit dem Bus in Seattle an, da findet er in der Armee-Zeitung eine Anzeige: „Jack Reacher sofort zu Rick Shoemaker“. Gemeint ist der Brigadegeneral, mit dem er vor Jahren zu tun hatte, als er noch für die Militärpolizei arbeitete. Als er sich meldet, wird er per Privatjet nach Fort Bragg expediert, was am anderen Ende der USA liegt, irgendwo in Georgia. Shoemakers Vorgesetzter General O’Day braucht Reachers Spezialwissen.

Auf den französischen Präsidenten wurde während einer Rede, die er in Paris hielt, mit einer amerikanischen Patrone Kaliber 50 (das einen Elefanten umhauen würde) geschossen. Zweimal. Aus einer Entfernung von 1400 Metern, was eine absolut unmögliche Distanz ist. Panzerglas schützte die Zielperson, aber der zweite Einschlag wäre fast durchgekommen. Das war ein Meisterschuss, aber wer käme als Meisterschütze infrage, will O’Day wissen.

John Kott, lautet die offensichtliche Antwort. Aber diesen Scharfschützen der Spezialkräfte habe er, Reacher, vor 15 Jahren persönlich eingebuchtet. Falsch – vor 16 Jahren, und vor einem Jahr kam Kott wieder frei, versetzt O’Day. Und wie man so hört, hielt sich Kott durch Yoga, Meditation und Training fit für den Tag der Freiheit. Offenbar hat er sich von einer Gruppe anheuern lassen und führt wieder Aufträge aus. Nun steht ein G8-Gipfel kurz bevor und die Chancen stehen gut, dass Kott es erneut versucht.

Der erste Weg führt nicht nach London zum G8-Gipfel, sondern ins einsamste Hinterland, das sich Reacher je gesehen hat: Arkansas, irgendwo links unten, wo es nach Texas geht. Hier wohnte Kott zuletzt, und hier übte er auch auf einem improvisierten Schießstand. Reacher ist in Begleitung der 28-jährigen CIA-Agentin Casey Nice. Sie findet im Schlafzimmer Kotts die Beweise, hinter wem der Scharfschütze her ist: Reachers Silhouette an der Wand wurde mit einem langen Küchenmesser durchbohrt. Seine kopierten Porträts sind durchschossen – auf 1400 Yards Entfernung von einer Kaliber-50-Kugel genau zwischen die Augen. Reacher fragt sich: Wer hat Kott, dem Knastbruder, Reachers Militärakte verkauft?

Als das Paar zu O’Day zurückkehrt, macht Reacher den Beteiligten von Armee, CIA und Außenministerium klar, dass er nicht mehr nur der Köder für Kott spielen möchte, sondern diesen Einsatz (da er Shoemaker einen Gefallen schuldet) als Polizeieinsatz zu führen gedenkt. Damit sind alle einverstanden und zeigen ihm die anderen beiden untergetauchten Scharfschützen, einen Briten und einen Russen.

Dann kann’s losgehen. Doch statt der süßen Casey Nice muss sich Reacher in Paris von der strengen Joan Scarangello begleiten lassen, einer CIA-Agentin aus der obersten Führungsetage Langleys. Soll sie etwa seine Aufpasserin spielen?

Mein Eindruck

In Paris entgeht Reacher um Haaresbreite einem weiteren Beschuss. So hat er quasi die zweifelhafte Ehre, auf eine Stufe mit dem französischen Staatspräsidenten gestellt zu werden. Aber schon hier kommen ihm erste Zweifel an der ganzen Geschichte. Vor allem die immense Distanz von über 1300 Metern Entfernung bereitet ihm Kopfzerbrechen.

Die Kugel ist geschlagene 3000 Millisekunden unterwegs, und während dieses Fluges kann alles Mögliche passieren. So hat beispielsweise ein winziger Windstoß, wie sie für die Seine-Metropole typisch sind, dafür gesorgt, dass die Kugel abgelenkt wurde und nicht Reacher, sondern seinen Nebenmann von russischen Geheimdienst in den Kopf traf.

Die zweite Sache ist die Information, dass der Scharfschütze – welcher auch immer – von einer nebulösen Gang in East London finanziert werde. Warum sollte eine solche Gang dann auch noch den G8-Gipfel in London beziehungsweise den britischen Premierminister töten wollen? Das ergibt doch alles keinen Sinn. Eine Gang will in aller Ruhe ihren dreckigen Geschäften nachgehen: dem Handel mit Drogen, Waffen und Menschen. Ein derart empörender Mord würde nur dafür sorgen, dass die Gesetzeshüter alles auf den Kopf stellen würden, bis kein Stein mehr auf dem anderen liegt.

Auch Reachers und Nices Verbindungsoffizier zu den britischen Geheimdiensten ist eine undurchsichtige Nummer. Bennett sagt nie, für wen genau er arbeitet: „Die Situation ist etwas im Fluss“, sagt er mehrmals, was nur bedeuten kann, dass das Innenministerium die besten Männer aus allen Diensten in eine Arbeitsgruppe gesteckt hat. Doch Reacher und Nice haben nur mit dem heimlichtuerischen Bennett zu tun.

Dieses Verhalten ist Reachers Sache nicht. Er klopft lieber auf den Busch und beobachtet die Schlangen, die darunter hervorkriechen. So kommt es zunächst zu einer ersten Konfrontation mit den „Romford Boys“. Er hat Gelegenheit, seinen künftigen Gegenspieler Little Joe zu studieren. Little Joe macht seinem ironisch vergebenen Namen alle Ehre: Er ist über zwei zwanzig hoch, besitzt Hände wie Schaufeln und Füße wie ein Elefant – kurzum: Er ist ein Riese. Aber Reacher ist ja bekanntlich auch nicht gerade ein Zwerg: Schon vom ersten Augenblick war mir klar, dass die beiden Riesen füreinander bestimmt sind. Ein Showdown ist unausweichlich.

Die Bohnenranke hoch

Bennett hat natürlich einen Ausguck ganz in der Nähe von Little Joes noblem Hauptquartier. Joe verdient ganz gut als Handlanger für seine drei Chefs, die sich in fortgeschrittenem Alter längst nicht mehr die Finger schmutzig machen wollen. Befindet sich John Kott wirklich als Gast in Joes überdimensionalem Haus, wie Bennett behauptet?

Aber Joe ist auch nicht auf den Kopf gefallen. Das macht sein unerwarteter Besuch im Ausguck deutlich. Reacher bleibt wie stets unerschrocken und geht zum Gegenangriff über. Als würde er seinem legendären (oder märchenhaften) Vorbild Jack nacheifern, klettert er quasi die Bohneranke hinauf und dringt in das Haus des Riesen ein, um Kott zu suchen. Mit Little Joe hatte Jack ein wenig Mühe, aber Größe lässt sich im Kampf durch Wendigkeit wettmachen.

Das betreten von Joes Riesenhaus führt zu einer gerade phantasmagorischen Verzerrung der Wirklichkeit. Alles ist eineinhalb Mal so groß wie gewohnt: die Treppenstufen verlangen Bergsteigerqualitäten, die Türen machen ein Mann winzig, die Türgriffe gleichen denen an einem Bügeleisen, und dann erst die verzerrenden Spiegel! Sie führen den Eindringling vollends in die Irre und drohen ihn um den Verstand zu bringen. Diese Szene ist in ihrer Surrealität von wirklich bemerkenswerter Eindrücklichkeit und dürfte in Childs Romanen einzigartig sein.

Dass sich Kott schließlich die wehrlose Agentin Nice schnappt, dürfte wohl jeder gewiefte Thriller-Leser vorausgesehen haben. Das ist eine Standardsituation wie aus dem Lehrbuch für angehende FBI-Agenten. Wie setzt man einen Gegner außer Gefecht, der eine Geisel in seiner Gewalt hat. Nun, zusammen mit der nicht ganz so wehrlosen Geisel findet Jack Reacher auch für dieses Problem eine zufriedenstellende Lösung.

Damit ist der Roman keineswegs zu Ende. Denn sind da nicht ein paar Fragen zuviel offen, hm? Da war die Sache in Paris, dann die Ungereimtheiten mit dem Panzerglas und schließlich entpuppte sich ein geplanter Anschlag auf die Tagungsstätte des G8-Gipfels als Ding der Unmöglichkeit. Was kann also wirklich hinter Reachers Auftrag gesteckt haben? Die letzte Szene verrät es uns.

Unterm Strich

Obwohl die Handlung an manchen Stellen deutlich an Action und Spannung zu wünschen übrig lässt und erst spät in Fahrt kommt, sorgen doch Konfrontationen und unerwartete Gewaltausbrüche im Leser immer wieder für willkommene Adrenalinschübe. Der kenntnisreiche Reacher-Fan weiß inzwischen – die ist ja immer Roman Nr. 19 – , dass es die Eigenart des Autors ist, stets ganz kühl und methodisch Vorarbeit zu leisten, bis es zu der ersten Konfrontation kommt.

Dabei muss sich der Leser allerdings Acht nehmen, nicht zu den gleichen irrigen Schlussfolgerungen zu gelangen wie die meisten der Begleiter und Helfer des Helden. Reacher nimmt Geheimdienstinformationen grundsätzlich nicht für bare Münze, und der kluge Leser sollte seinem Beispiel folgen. Auch in diesem Fall erweisen sich die gefütterten Infos als gezielte Desinformation – der Fall liegt in Wahrheit völlig anders und dient einem unerwartet andersartigen Zweck.

Gruß vom Schakal

Bevor uns dieser Sachverhalt aber enthüllt wird, bleibt die Spannung dennoch erhalten. Was wäre, wenn wirklich ein Scharfschütze à la „Der Schakal“ ein Staatsoberhaupt ausknipsen wollen würde? Doch nein, dies ist keine Neuerzählung von Frederick Forsyths Klassiker. Vielmehr scheint sich Child ein wenig mehr an die Kray Brothers zu erinnern, die einst im East End ihr Unwesen trieben. Zu guter Letzt verwertet er das Märchen von Jack und der Bohnenranke: Der Showdown im Haus des Riesen gehört wirklich zu den einzigartigen Szenen in Childs umfangreichem Werk.

Romantik

Auch diesmal bleibt etwas Zeit für Romantik. Schließlich weiß Reacher eine hübsche Blondine an seiner Seite. Die spannende Frage, ob sie das gleiche Schicksal wie Dominique Kohl ereilen wird, sorgt für etwas Beklemmung bei demjenigen Leser, der die Vorgängerromane kennt. Alle anderen müssen sich mit der kurzen Zusammenfassung von Dominiques traurigem Schicksal zufriedengeben.

Obwohl sie eine kompetente Agentin und Kämpferin war, geriet sie unter die Räder und fand ein blutiges Ende. Seitdem macht sich Reacher, obwohl sonst ein harter Brocken, offenbar Vorwürfe. Wird es Nice ebenso ergehen? Nicht wenn es nach Jack geht. Doch da hat John Kott auch noch ein Wörtchen mitzureden. Ein packender Showdown schließt das Abenteuer in London ab. Ich war damit mehr als zufrieden.

Ein Besuch bei General Tom O’Day, dem Drahtzieher der Operation, führt zu einer unerwarteten Wendung, die alle Annahmen über den Haufen wirft. Bis es soweit ist, lohnt es sich für den Leser, genügend Geduld aufzubringen. Wieder einmal lautet die Moral von der Geschicht‘: Traue einem Geheimdienstler nicht.

Gebunden: 416 Seiten
Originaltitel: Personal
Aus dem Englischen von Wulf Bergner.
ISBN-13: 9783764506360

www.heyne.de

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