John Crowley – In der Tiefe

Die Scheibe auf dem Pfeiler: einfallsreicher Weltentwurf

Nach der Schlacht finden die Plünderinnen den nackten Mann, der behauptet, aus einer fremden Welt zu kommen. Er sei im Himmel gemacht worden, mit seinem Ei gelandet, habe aber seine Mission vergessen. Aus seiner Wunde sickert so etwas wie Öl: Er ist kein Mensch. Er tritt in die Dienste der Menschen und lernt ihre Welt kennen, eine Welt der Kriege zwischen Feudalherren. Die Welt, nur von ein paar tausend Menschen bevölkert, liegt wie eine Schale in einer Hand, die auf einem ausgestreckten Arm ruht, der aus der Tiefe emporgestreckt wird. Doch die Tiefe hat noch niemand ergründet – bis der Besucher gekommen ist: Nun hat er seine Mission. Doch was wird er in der Tiefe finden?

Der Autor

John Crowley, geboren 1942, lebt in den Hügeln des Flusses Connecticut in Massachusetts mit seiner Frau und seinen Zwillingstöchtern. Nachdem er die Universität abgeschlossen hatte, zog er nach New York, um dort Filme zu drehen, was er bis heute tut. Seinen ersten Roman veröffentlichte er 1975, seit 1993 unterrichtet er an der Yale University. Crowley ist Preisträger des “American Academy and Institute of Arts and Letters Awards for Literature”.

Crowley ist Autor der drei Zukunftsromane „In der Tiefe“ (1975), „Geschöpfe“ (1976) und „Maschinensommer“ (1976) (alle drei im gleichnamigen Sammelband bei Heyne) sowie des Fantasyromans „Little, Big“ (Das Parlament der Feen; dt. bei Heyne), der mit dem World Fantasy Award ausgezeichnet wurde; ein Roman, von dem Ursula K. Le Guin sagte, dass es nach einer Neudefinition von Fantasy rufe („calls for a redefinition of fantasy“).

1980 begann Crowley damit, einen vierbändigen Roman namens Ægypt zu schreiben. Die einzelnen Teile der Reihe nannte er The Solitudes (ursprünglich: Ægypt), Love & Sleep, Dæmonomania, und Endless Things. Das Werk wurde im Jahr 2007 veröffentlicht.

Zusammen stellt dieser Großroman den Versuch dar, die Weltgeschichte und die Geschichtsschreibung mit Hilfe der Imagination umzudeuten. Weitere Romane von John Crowley sind The Translator (2002) und Lord Byron’s Novel: The Evening Land (2005), ein Buch, das selbst einen fiktiven Roman enthält. Eine Erzählung namens The Girlhood of Shakespeare’s Heroines erschien 2002. 2008 erschien die Novelle Conversation Hearts“, 2009 der Roman „Four Freedoms“.

Crowleys Kurzgeschichten sind in drei Bänden erschienen: Novelty (inklusive der Erzählung Great Work of Time, für die Crowley den World Fantasy Award erhielt), Antiquities und Novelties & Souvenirs. Eine Sammlung seiner Aufsätze und Buchbesprechungen kam 2007 unter dem Titel In Other Words auf den Markt.

1989 gründeten Crowley und seine Frau Laurie Block das Unternehmen Straight Ahead Pictures, um Produktionen über amerikanische Geschichte und Kultur für Film, Funk und Internet herzustellen. Crowley schreibt außerdem Drehbücher für Kurzfilme und Dokumentationen. Sein Werk erhielt mehrfach verschiedene Preise und wurde auf Filmfestivals wie dem New York Film Festival oder der Berlinale aufgeführt. Seine Drehbücher umfassen Werke wie The World of Tomorrow (über die Weltausstellung 1939), The Hindenburg und FIT: Episodes in the History of the Body (über die amerikanische Fitnesskultur, zusammen mit Laurie Block). [1]

Eine Brieffreundschaft mit dem Literaturkritiker Harold Bloom führte dazu, dass Crowley seit 1993 Kurse an der Yale University über Utopische Literatur, fiktives Schreiben und Drehbuchschreiben hält. (teilweise Quelle: Wikipedia.de)

Handlung

Die Welt heißt Die Trommel, denn sie erstreckt sich wie ein Trommelfell zwischen den Gebirgen der Kante. In ihrem Mittelpunkt liegt zwischen den Ländereien der Grundherren ein großer See, und in seiner Mitte erhebt sich auf einer Insel ein mächtiges Schloss. Hier herrschte zu Lebzeiten König Rot über seine Tausenden von Untertanen sowie über die Grundherren der Fraktionen Schwarz und Rot. Nach seinem Tod kam es zum Bruderzwist unter den Erben. Vielleicht wäre jetzt Schwarz am Zug gewesen, doch es kam anders. Und seitdem bekriegen Schwarz und Rot einander auf dem Trommelfell.

Der Findling

Nach einer dieser blutigen Schlachten finden die Endweiber, Plünderinnen einer Schwesternschaft, einen nackten, entmannten Menschen. Oder so erscheint er ihnen zumindest. Er weiß seinen Namen nicht und behauptet, in einem Ei von denen Sternen gekommen zu sein. Dass er nicht ganz menschlich ist, zeigt das Öl, das aus seinen Wunden läuft. Dennoch pflegen sie ihn und bringen ihn schließlich vor einen der Kriegsherrn. Fauconrot entscheidet, den BESUCHER, der sich doch recht manierlich benimmt, bei Rothands Gattin Caredd in den Bergen unterzubringen.

Aufstieg

Während Rot Senlin zum Vizekönig ernannt und die Königin seines Vorgängers davongejagt wird, erholt sich der Besucher bei Caredd und lernt die Sprache. Er ist erstaunlich lernfähig, stark und wissbegierig. Bis ihn Fauconrot zu sich ruft, um in die Schlacht gegen die ehemalige Königin zu ziehen. Die Schlacht wird ein Desaster: König Rot Senlinn gerät mit seinem Kommandanten Alt Rothand in einen Hinterhalt und wird niedergemacht, sein Feldherr enthauptet. Nachdem der BESUCHER den Schloss-Statthalter Rothand, ein Gelehrter der Grauen und Alt-Rothands Sohn, vor dem Tod bewahrt hat, wird Sennrot neuer König und der BESUCHER Rothands Sekretär.

Untergrund

Unterdessen schläft der Widerstand keineswegs. Die Rebellen, die sich die „Gerechten“ nennen und alle Feudalherrschaft abschaffen wollen, haben bereits Schwarz Haral, den Liebhaber der früheren Königin, aus dem Hinterhalt getötet. Es war die junge Frau namens Nod alias Nyamé, die ihn mit ihrem Gewehr niederstreckte. Nun besucht sie erneut das Orakel, das die Karten legt und über den nächsten Auftrag entscheidet. Das Los fällt auf Rothand…

Berichterstattung

Nach dem Tod der ältesten Gelehrten der Grauen, der Richterin Mariadn, wird ihr letzter Wille erfüllt und Rothand zum Obergelehrten gewählt. Dementsprechend steigt auch der BESUCHER, sein Sekretär, in Status und Ansehen auf. Er erhält den Auftrag, das Ende der Welt zu suchen, um dort nachzusehen, was sich in der TIEFE unter der Trommel befindet. Denn Rothand plagt ein unlösbar erscheinendes Rätsel: Wenn, wie die Legenden besagen, ursprünglich nur 52 Menschen auf dieser Welt ankamen, warum gibt es dann inzwischen, Generationen später, nur so wenige von ihnen?

Kaum hat der BESUCHER Nods Anschlag vereitelt, als er sie auch schon auf seine Queste mitnimmt. Doch gibt es überhaupt einen Rand der Welt?

Mein Eindruck

Dieser Erstlingsroman fand bei Publikum wie Kritik viel Anklang, und die nachfolgenden Ropmane „Geschöpfe“ und „Maschinensommer“ bestätigten diesen Eindruck. Inzwischen wurde Crowley für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Wer also meint, bei „In der Tiefe“ handle es sich um eine Fingerübung zwecks Unterhaltung, ist auf dem Holzweg.

Der Roman entwirft eine völlig eigenständige Welt, die als Scheibenwelt – das war noch VOR Terry Pratchett – auf einem Pfeiler ruht, der nur von Sternen umgeben ist. Obwohl der Großteil der Handlung im Rahmen des Fantasygenres erzählt wird, ist der Hintergrund des Schauplatzes doch reine Science Fiction.

Beim BESUCHER, dessen roten Faden ich nachgezeichnet habe, handelt es sich um einen Androiden, der vergessen hat, wie er heißt und woher er kommt, d.h. seine entsprechenden Gedächtnisbänke sind unzugänglich. Tatsächlich handelt es sich bei ihm den Informanten des Gottes dieser Scheibenwelt, den er am Rande der Welt, am Ende seiner Queste mit Nod, wiedertrifft.

Dieser Leviathan, von dem Rothand Gerüchte gehört hat, ist nicht nur der lenker der Ereignisse auf der Trommel, sondern hat auch jene legendären 52 Menschen von ihrer sterbenden Welt hierhergebracht, über den Abgrund des Weltraum hinweg. Der BESUCHER kann sich an ein Ei erinnern, in dem er sich von Ort zu Ort bewegte.

Dieses Ei entdeckt er am Ende seiner Reise zur Kante der Scheibe wieder: Es ist nicht nur Transportvehikel, sondern auch Kommunikationszentrale. Damit kann er sich drahtlos mit dem Gott Leviathan verständigen. Was er erfährt, ist eine Offenbarung. Seine Begleiterin findet das alles weniger lustig: Sie erschießt den Gott…

Auf der Trommel

Wie gesagt, lautet eines der zentralen Rätsel, warum es so wenige Bewohner der Trommel gibt. Aus den ursprünglichen 52 Ankömmlingen, den urvätern, hätten doch nach Tausenden von Generationen längst Millionen werden müssen, überlegt Rothand, der Gelehrte. Erst am Schluss des Buches wird ihm der Grund klar: Es sind die unzähligen Kriege um die Erbfolge zwischen Rot und Schwarz sowie mit den Gerechten, die die Bevölkerung regelmäßig dezimieren. Auf diese Weise kann keine Überbevölkerung entstehen. Wenn dies Gottes Absicht ist, hat er dann in die Kriege und Erbfolgen eingegriffen? Gut möglich.

Schwächen

Es sind genau diese Erbfolgekriege, die es dem deutschen Leser, in vorliegender Ausgabe keinerlei Stammbäume geboten bekommt, den Überblick enorm erschweren. Wern mal ein paar Tage aussetzt, wird sich deshalb zwischen den einzelnen, schnell wechselnden Figuren kaum noch zurechtfinden.

Rot und Schwarz sind ja leicht auseinanderzuhalten, ebenso die Gelehrten und die Gerechten (die jeweils über ihre eigene Subkultur verfügen). Doch schon bei den Schwarz-Elementen der Thronfolge, die von Rot beansprucht wird, können Ungereimtheiten auftauchen. Noch dazu ist ein Schwarzer der Geliebte der Königin. Und ein paar Jahreszeiten (die alle eigens erfundene Namen tragen) lang sind ein Roter und ein Schwarzer sogar Liebhaber. Man könnte das alles ironisch finden, wenn es nicht so komplex wäre.

Etwas übersichtlicher sind die Verhältnisse auf Rothügel, dem Stammsitz von Herrin Caredd. Hier lebt sich der BESUCHER ein und lernt die Dame schätzen. Sie ist die Gattin Rothands, wie die Personenliste besagt – und eine von zwei Caredds. Schade, dass sie keine größere Rolle spielt, um der Geschichte mehr Romantik zu verleihen. Gleiches gilt für die junge Frau Nod. Sie erlebt zwar eine Romanze, doch diese ist sehr kurz, bevor sie den Auftrag erhält, Rothand zu eliminieren.

Die Übersetzung

Irene Holicki hat eine gut verständliche und stets plausibel wirkende Übersetzung erstellt. Der Text wurde zudem sehr gut korrigiert. Nur auf Seite 130 konnte ich einen Druckfehler entdecken: „sie gehorchten schweigend und eingeschüchtert[e]“.

Die Illustrationen

Hubert Schweizer lieferte die zahlreichen Zeichnungen für diesen Roman. Erfreulich häufig tauchen sie auf und helfen, den eng gesetzten Text aufzulockern. Auffällig an Schweizers Figuren sind stets die dicken, deutlich gezeichneten Muskeln der männlichen Figuren und ihre meist breiten Gesicher.

Unterm Strich

Eine Fantasyhandlung mit Königen und Gelehrten, Rebellen und Endweibern – eingebettet in einen Science-Fiction-Hintergrund, der eine eigenständige Welt aus einer Scheibe beschreibt, die auf einem hohen Pfeiler mitten im Kosmos ruht. Dieser Hintergrund, der von dem Gott Leviathan beherrscht wird, relativiert – jedoch erst im Finale – alle Vorgänge auf der Trommel. Die Figuren sind keine Marionetten, auch wenn sie wie ein Durcheinander auf einer kleinen Bühne wirken.

In einem heutigen Fantasyroman müsste das Buch mindestens doppelt so dick sein oder sogar eine Trilogie bilden. Denn der Autor müsste alle Figuren genau beschreiben, ebenso die vielen Schauplätze, und er hätte natürlich die verzweigten Stammbäume aufzeigen. Das Problem, die jeweils gerade aktuelle Thronfolge im Auge zu behalten, bereitete mir am meisten Schwierigkeiten. Die Personenliste am Anfang ist nur eine schwache Hilfe.

Ansonsten sind die Szenen geradezu skizzenhaft verknappt: Figuren- und Ortsbeschreibungen ebenso wie die Stimmung eines Morgens oder Abends. Auch die Dialoge sind lakonisch, der nur das Notwendige wird ausgedrückt, der Rest aber als bekannt vorausgesetzt. Obendrein verrutscht unvermittelt und unmerklich die Linie zwischen Traum und erlebter Wirklichkeit, so etwa kurz vor Rothands Tod.

Das Beeindruckendste an diesem Roman ist zweifellos sein Einfallsreichtum. Vor terry Pratchett war eine Scheibenwelt nur eine überholte Idee aus Spätantike (Ptolemäus) und Frühmittelalter. Doch hier wird sie zu einem ernstzunehmenden Entwurf ausgebaut, mit allem Drumunddran einer Welt. Eindrucksvoll ist auch der Schluss, als der Gott Leviathan aus der Tiefe auftaucht und die Geschichte ebenso erklärt wie die Rolle des BESUCHERS.

Die Geschichte des BESUCHERS ist nur eine von vielen, die der Roman erzählt. Es ist auch die von Rothand, der sich stetig weiterentwickelt, und von Nod, der Rebellin, Gottesmörderin und Prophetin. Sie alle lassen sich auch in unserer Histoprie wiederfinden, und dieser Umstand verleiht der Geschichte von „In der Tiefe“ eine symbolische Bedeutung. Diese wiederum kann sich jeder selbst heraussuchen.

Taschenbuch: 192 Seiten
Originaltitel: The Deep, 1975
Aus dem Englischen von Irene Holicki
ISBN-13: 978-3453307230

www.heyne.de

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