Robert Silverberg – Das Land der Lebenden

In der Welt der Toten: Gilgamesch trifft die schöne Helena

Eine phantastische Reise in die Totenwelt jenseits der Erde. Dort trifft König Gilgamesch seinen geliebten Freund Enkidu wieder – nur um ihn erneut zu verlieren. Auf seiner Wanderschaft durch die dunklen Einöden begegnet er Menschen aus der Steinzeit ebenso wie Menschen des Industriezeitalters, die mit ihren seltsamen technischen Gerätschaften die lärmende Hektik ihrer Epoche ins Totenreich eingeschleppt haben.

Er begegnet der schönen Helena, die Picasso Modell sitzt, und Robert E. Howard, der glaubt, in ihm seinen Conan leibhaftig vor sich zu sehen. Es gelingt Gilgamesch sogar, den Weg zurück ins Land der Lebenden zu finden, ins New York des ausgehenden 20. Jahrhunderts, doch er wendet ihm schaudernd den Rücken. (Verlagsinfo)

Der Autor

Robert Silverberg, geboren 1936 in New York City, ist einer der Großmeister unter den SF-Autoren, eine lebende Legende. Er ist seit 50 Jahren als Schriftsteller und Anthologist tätig. Seine erste Erfolgsphase hatte er in den 1950er Jahren, als er 1956 und 1957 nicht weniger als 78 Magazinveröffentlichungen verbuchen konnte. Bis 1988 brachte er es auf mindestens 200 Kurzgeschichten und Novellen, die auch unter den Pseudonymen Calvin M. Knox und Ivar Jorgenson erschienen.

An Romanen konnte er zunächst nur anspruchslose Themen verkaufen, und Silverberg zog sich Anfang der 60er Jahre von der SF zurück, um populärwissenschaftliche Sachbücher zu schreiben: über 63 Titel. Wie ein Blick auf seine „Quasi-offizielle Webseite“ www.majipoor.com enthüllt, schrieb Silverberg in dieser Zeit jede Menge erotische Schundromane.

1967 kehrte er mit eigenen Ideen zur SF zurück. „Thorns“, „Hawksbill Station“, „The Masks of Time“ und „The Man in the Maze“ sowie „Tower of Glass“ zeichnen sich durch psychologisch glaubwürdige Figuren und einen aktuellen Plot aus, der oftmals Symbolcharakter hat. „Zeit der Wandlungen“ (1971) und „Es stirbt in mir“ (1972) sind sehr ambitionierte Romane, die engagierte Kritik üben.

1980 wandte sich Silverberg in seiner dritten Schaffensphase dem planetaren Abenteuer zu: „Lord Valentine’s Castle“ (Krieg der Träume) war der Auftakt zu einer weitgespannten Saga, in der der Autor noch Anfang des 21. Jahrhunderts Romane schrieb, z.B. „Lord Prestimion“.

Am liebsten sind mir jedoch seine epischen Romane, die er über Gilgamesch („König Gilgamesch“ & „Das Land der Lebenden“) und die Zigeuner („Star of Gypsies“) schrieb, auch „Tom O’Bedlam“ war witzig. „Über den Wassern“ war nicht ganz der Hit. „Die Jahre der Aliens“ wird von Silverbergs Kollegen als einer seiner besten SF-Romane angesehen. Manche seiner Romane wie etwa „Kingdoms of the Wall“ sind noch gar nicht auf Deutsch erschienen.

Als Anthologist hat sich Silverberg mit „Legends“ (1998) und „Legends 2“ einen Namen gemacht, der in der Fantasy einen guten Klang hat. Hochkarätige Fantasyautoren und –autorinnen schrieben exklusiv für ihn eine Story oder Novelle, und das Ergebnis kann sich durchaus sehen lassen. Der deutsche Titel von „Legends“ lautet „Der 7. Schrein“.

Handlung

Robert E. Howard und H. P. Lovecraft rasen mit ihrem Landrover durch den Outback der Hölle, um König Prester John ein Hilfsersuchen ihres Königs Heinrich VIII zu überbringen. König Heinrichs rothaarige Tochter Elizabeth hat eine höllische Expedition ausgesandt, um sich auf Prester Johns Land mit den Truppen Mao Tse-Tungs zu vereinen.

Doch bevor sie den Königshof erreichen, stoßen sie auf ein Monster der Hölle. Von denen gibt es hienieden leider recht viele. Dieses Monster sieht klein aus, kann aber ein prächtiges Gebiss nadelspitzer Zähne vorweisen. Bevor es zum Angriff übergeht, taucht ein weiteres, weitaus größeres Ungeheuer auf. Ein großer Pfeil steckt in seinem Hals. Das erste Monster stürzt sich sofort auf das zweite, um ihm den Garaus zu machen. Ein großer Mann erscheint, der das erste Vieh vom Rücken des zweiten klaubt und wegschleudert, als wäre es ein nasser Lumpen. Dann bohrt er seinen großen Bronzedolch in den Bauch des Riesenmonsters, das tot zusammenbricht.

Robert E. Howard fällt vor dem mächtigen Jäger auf die Knie und starrt ihn ehrfürchtig an, nennt ihn gar „Conan! König Conan!“ Der Jäger schaut verächtlich auf den sabbernden Schwächling herab und knurrt, er sei lediglich Gilgamesch, König von Uruk. Dass er mal einen versoffenen, beleidigenden Kelten namens Conan traf und in die nächste Jauchegrube warf, verschweigt er aus Höflichkeit. H.P. Lovecraft überredet Gilgamesch, den vielbesungenen Sumerer, dazu, sie auf ihrem Weg zu begleiten.

Die Begegnung mit Prester Johns Grenzwachen verläuft gewalttätig, und neun der Wachen beißen ins Gras. Doch auch Gilgamesch wird verwundet und blutet stark. Endlich überbringen Lovecraft und Howard ihre Botschaft, so dass alle drei ins Lager des Königs gebracht werden können. Dort versorgt ein gewisser Albert Schweitzer Gilgameschs Wunde, dabei in einem eigentümlichen Akzent daherbrabbelnd. Doch so erfährt er, dass sich der Hintergrund von Uruk nichts sehnlicher wünscht, als seinen besten Freund, seinen Seelengefährten Enkidu wiederzusehen. Doch mehrfach wurde ihm versichert, Enkidu wolle ihn nie mehr wiedersehen.

Nach einigen Beratungen nimmt König Prester John das Hilfsersuchen König Heinrichs VIII an. Er setzt seine Truppen in Marsch, die von Gilgamesch befehligt werden. Denn der Sumerer ist schließlich der beste Kenner jenes Generals, der Mao Tse-Tungs Truppen anführt – kein anderer als Enkidu selbst…

Mein Eindruck

Robert Silverberg, der SF-Veteran, hat sich einen Riesenspaß erlaubt und dieses actionreiche Garn ersonnen. Es ist eine Fortsetzung seines erstklassigen Gilgamesch-Romans (ebenfalls bei Heyne) und daher auf einem soliden Fundament errichtet. Unzählige historische Gestalten finden sich zu ihrer Verwunderung in der Hölle wieder, selbst solche Heiligen wie Albert Schweitzer. Fiktive gestalten haben allerdings keinen Zutritt, weshalb sich der Kniefalls R.E. Howards vor seinem erfundenen Helden CONAN absolut peinlich ausnimmt. Weiß er es denn nicht besser?

Die positive, ironische Seite dieser Grundbedingung besteht indes darin, dass die Schriftsteller, die hier auftreten, endlich ihr wahres, unmaskiertes Ich an den Tag legen. R.E. Howard unterdrückt beispielsweise mit aller Macht seine homosexuelle Liebe zu Gilgamesch und erweist sich im Gefecht als Feigling. Lovecraft, sonst ein von Phobien geplagte Bohnenstange, öffnet seine wahre Kriegerseele und, Cthulhu-Schreie ausstoßend, feuert er auf die Angreifer: „Shub-Niggurath! Cthulhu Rlyeh!“ Und so weiter. Als dynamisches Duo treffen sie auf den Unterhändler Mao-Tse-Tungs, einen gewissen Ernest Hemingway. Howard hat einmal dessen saftloses Gesülze gelesen und angeekelt beiseite geschmissen. Hemingway hingegen ist der Name der Magazine „Weird Tales“ und „Astounding Stories“ – legendäre Titel im Reich der Pulp Fiction! – nicht geläufig.

Auf diese Weise erlaubt es der Autor dem Leser, sich sein eigenes Bild von diesen kultisch verehrten Autoren zu machen. Der Charakter des Autors steht dabei in auffälligem Widerspruch zu seinen erfundenen Figuren. Andersherum funktioniert es auch: Gilgamesch, der lebende Jäger, stöhnt immer noch über die Verse, die sich mehrere Kulturen, so etwa die Babylonier und sogar Hethiter, über ihn ausgedacht haben. Nun teilt er das Schicksal von Agamemnon und Odysseus, die genauso genervt sind wie er. Das ist insofern ironisch, als wie heute glauben, dass dieses illustre Trio komplett erfunden sei. Nun, ihr Auftauchen in der Hölle belegt das Gegenteil – oder etwa nicht?

Gen Westen

Enkidu erzählt zwar von einem Tor, das ins Land der Lebenden führen würde, aber Gilgamesch will gar nicht weg. Die Später Toten, zu denen er sich ganz sicher nicht zählt, führen nämlich ein jämmerliches Dasein. In Städten wie Nova Roman, das er besucht hat, oder Hoch-Versailles frönen sie ihren Lüsten, um ihrer Langeweile zu entgehen. Wie viel besser ist doch die Jagd auf Monster, die sich mit einem Freund wie Enkidu im Outback realisieren lässt!

Doch ein Trick der Magie führt die beiden immer weiter nach Westen zur Insel der Zauberer, besser bekannt unter ihrem Namen Hy Brasil. Dort, so erklärt ihnen ein Gastwirt, herrsche Simon über die Magier. Unweigerlich führt sie ihr Weg durch eine sich verengende Schlucht hinunter an die Westküste, die der Insel der Magier gegenüberliegt. Sie schließen sich einer Karawane von Später Toten an, die ihnen zu essen geben und Obdach gewähren. Doch die Karawane kommt nicht weit: Während Gilgamesch jagt und Enkidu die Wagen beschützt, erfolgt ein Überfall. Als der Jäger zurückkehrt, findet er als einzigen Überlebenden den Hund Ajax vor. Wegen seiner Trauer um den Verlust Enkidus eilt Gilgamesch zur Küste.

Gen Hy Brasil

Dort findet er das Lager von Simon Magus vor, dem Herrn der Insel Hy Brasil. Als dieser lässige Typ erfährt, dass in Uruk unglaubliche Schätze lagern, nimmt er Gilgamesch in seinen Hofstaat auf und segelt mit ihm zu seinem Inselkönigreich. Hier hofft Gilgamesch seinen Schwertbruder wiederzufinden, doch ein finsteres Orakel, das sich Fürst Calandola nennt, offenbart ihm, dass Enkidu allenfalls in Uruk zu finden sei. Daher erfüllt Gilgamesch seinem Gastgeber den Wunsch, die Schätze von Uruk zu plündern, mit einem gewissen Hintergedanken…

Die Übersetzung

Der Autor hielt sich ebenso wie der Übersetzer an die ältesten bekannten Versionen des Epos, das im gesamten Nahen Osten bekannt gewesen sein muss. Es stammt wohl aus dem 24. Jahrhundert v.Chr. (als man in Ägypten Pyramiden baute), wurde aber – nach Sumerern und Babyloniern – noch im 7. Jahrhundert von den Assyrern und den syrischen Hethitern kopiert. Im Vergleich lässt es die homerischen Epen „Ilias“ und „Odyssee“, die wohl im 8. Jahrhundert entstanden, recht jung aussehen.

Die Hervorhebung dieser Aspekte ist dem hervorragenden Übersetzer Roland Fleissner besonders zu danken.

Auf folgenden Seiten stieß ich auf Zweifelsfälle.

S. 132: „aus der ve[r]schwundenen… Welt“: Das R fehlt.

S. 154: „Erret[t]e uns vom Untergang, großer König!“ Das zweite T fehlt.

S. 166: „Kräuertkunde“ statt „Kräuterkunde“.

S. 176: „Galandola“ statt „Calandola“.

S. 199: „Soll er sich doch vor Calandola prosternieren.“ Letzteres Wort ist wohl vom englischen „to prostrate oneself“ abgeleitet, was soviel wie „einen Kotau machen“ bedeutet, also sich vor jemand zu Boden werfen.

S. 273: „weil er sich Ninsans bemächtigt hatte“. An allen anderen Stellen wird aber „Ninsun“ geschrieben. Sie ist Gilgameschs Mutter, eine Sterbliche.

S. 282: „Ich bin [d]er erste…. Wotan.“ Das D fehlt.

S. 402: Hier steht „Salbentigel“ und „Porzellantigel“, doch diese Schreibung ist spätestens seit der 24. Auflage des DUDEN obsolet, wo auf S. 1009 ganz klar „Tiegel“ steht.

Unterm Strich

Wie man aus Silverbergs Novellen und Romanen erfahren kann, besteht sein Hauptthema in der Überwindung der Sterblichkeit des Menschen und der Verlängerung des Lebens. Dieses Thema bestimmt auch einen Großteil seiner Nachdichtung des ältesten Abenteuerromans der Welt: des Gilgamesch-Epos. „König Gilgamesch“ ist die Selbstdarstellung von Gilgameschs Leben als Halbgott und König in Uruk und seiner Suche nach dem Mittel, dasselbe zu verlängern, dem Tod also ein Schnippchen zu schlagen, vor allem, um seinem besten Freund Enkidu das Leben zu retten.

Auch in „Das Land der Lebenden“ spielt Enkidu eine große Rolle für den Helden. Die Suche nach dem Verschwundenen führt ihn erst auf die Insel der Magier, wo er in einem unterirdischen Gewölbe durch ein widernatürliches Ritual Kenntnis vom Verbleib seines Freundes erhält. Die Fährte führt nach Uruk, also Gilgameschs Heimatstadt. Dumm nur, dass hier schon ein König herrscht, aber das lässt sich ja ändern.

Doch auch hier währt die Herrschaft Gilgameschs nicht lange, denn die schöne Helena von Sparta, ein durchtriebenes Luder, setzt ihrem Lover Enkidu den Floh ins Ohr, dass es ein Tor ins Land der Lebenden gebe, also in unsere Welt. Und tatsächlich: Der „haarige Mann“, eine Art Neandertaler, weiß ein Mittel, wie man die Kluft der Zeiten überwindet. Doch was das abenteuerlustige Trio im New York des Jahres 1990 vorfindet, ist geneigt, alle in den Wahnsinn zu treiben…

Humor

Man sieht: Der Autor verfügt über eine Menge Humor und einen Sinn für feine Ironie. Man denke nur an die Szenen mit Robert E. Howard (der ebenfalls in New York City auftaucht) und H.P. Lovecraft. Dass er zudem einer der kenntnisreichsten SF-Autoren ist, beruht auf seinem Verfassen von über 60 Sachbüchern. Er scheut sich nicht, alle möglichen historischen gestalten auftreten zu lassen. Mir (und der Hauptfigur) hat am besten Pablo Picasso gefallen, und daher spielen Stierkämpfe eine wichtige Rolle in den Uruk-Kapiteln.

Erotik vs. Liebe

Erotik wird ebensowenig unterdrückt wie tabuisierte Essenspraktiken, die einem den Magen umdrehen. Gilgamesch ist die denkende Version des Riesen Enkidu, welcher nur aus Emotion und Geilheit zu bestehen scheint. Was dem Plot fehlt, ist die große Liebe zu einer Frau – Gilgameschs ganze Liebe gehört (auf keusche Weise) seinem Freund Enkidu. Es bleibt nicht unerwähnt, dass körperliche Liebe für den Herrscher von Uruk stets nur eine Pflichterfüllung war: Er musste der Verkörperung der Göttin Inanna jedes Jahr beiliegen. Aus dem Vorgängerband „König Gilgamesch“ erfahren, dass eine dieser Frauen versuchte, ihn umzubringen. Das ist nicht gerade motivierend für die große Liebe.

Der Roman lässt sich sowohl als Fortsetzung wie auch eigenständig lesen, wenn man sich bereits über den helden informiert hat. Die Story ist abwechslungsreich und hält zahlreiche Provokationen und witzige Figuren bereit. Über den Schluss darf hier nichts verraten werden, aber für die beiden Freunde geht der Ausflug in das grässliche New York gut aus. Auffallend ist die vollständige Aufhebung der Begriffe „Zeit“ und „Tod“. Damit sollte jeder Leser etwas anzufangen wissen.

Taschenbuch: 446 Seiten
Originaltitel: The Land of the Living, 1990
Aus dem Englischen von Roland Fleissner
ISBN-13: 9783453118867

www.heyne.de

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