Früheste Kindheitserinnerungen an Geschichten und Erzählungen knüpfen sich bei mir eng an bestimmte einprägsame Bilder. Darunter fällt auch Preußlers „Das kleine Gespenst“ – nur zu gut sehe ich noch die Bilder vor mir, wie es weinend vor den Drillingen sitzt und ihnen seinen Schlüsselbund gibt oder wie es mit dem Filzstift die stolzen Bilder von Torsten Torstenson verunstaltet oder, nicht zuletzt, wie sein dicker schwarzer Kopf aus der Kanalisation schaut und den Polizisten bepustet. All diese Bilder und noch mehr erscheinen deutlich vor dem inneren Auge, wenn vor sanfter Musik diese moderne Hörspieladaption abläuft.
Der gespenstische Tagtraum
Das kleine Gespenst, ein echtes Nachtgespenst der Geisterstunde von Mitternacht bis eins, wohnt in einer alten Eichentruhe auf dem verstaubten Dachboden der Burg Eulenstein und verschläft in gewohnter Ruhe und Gemütlichkeit die restlichen 23 Tagesstunden. Dann schwingt es den Zauberschlüsselbund mit den 13 Schlüsseln und die Truhe öffnet sich. Es schwebt heraus, stößt gegen die staubigen Spinnweben und muss niesen, ehe es sein Unwesen auf Burg Eulenstein treiben kann.
Regelmäßig besucht es seinen besten Freund, den Uhu Schuhu von der alten Eiche hinter der Burg. Dann sitzen die beiden gemütlich auf einem Ast der Eiche und erzählen sich Geschichten. Bis das Gespenst auf die Idee kommt, die Welt mal bei Tage erblicken zu wollen.
Jeder noch so energische Versuch, wach zu bleiben, schlägt fehl, denn wie jedes Gespenst ist das kleine Gespenst an die Geisterstunde der Rathausuhr von Eulenberg gebunden. Bis es eines Tages doch aufwacht – um zwölf Uhr mittags! Es schwebt durch die Burg, wird von einer Schulklasse überrascht und gerät während der lustigen folgenden Jagd aus dem Burgschatten heraus ins grelle Sonnenlicht. Ihm schwindelt, es taumelt, verliert die Orientierung und jagt den Schülern einen Heidenschrecken ein, und erst im tiefen Burgbrunnen (wo es sich versteckt) erkennt es, warum: Es ist schwarz!
Auf der weiteren Flucht vor der Feuerwehr, die den vermeintlich in den Brunnen gestürzten Menschen retten will, gelangt das Gespenst in den Irrgarten der Kanalisation und von dort an immer neue Plätze der Stadt Eulenberg, wo es die Menschen in Angst und Schrecken versetzt – denn es wacht jetzt täglich zur Mittagsstunde auf. Zu allem Überfluss taucht sein alter Erzfeind, der schwedische General Torsten Torstenson nach nun 325 Jahren wieder in Eulenberg auf und fordert damit das kleine Gespenst heraus. Und eigentlich will es doch nur zur Burg zurück und wieder ein Nachtgespenst werden …
Otfried Preußler (* 20. Oktober 1923 in Reichenberg, Tschechoslowakei; + 18. Februar 2013 in Prien)
Er ist Kinderbuchautor und Gewinner einer Unzahl von Preisen für seine Werke, die in einer Gesamtauflage von 50 Millionen eine beeindruckende Marke erreicht haben. 32 Bücher schrieb er, eine Erzählung über seine Erlebnisse im russischen Gefangenenlager soll erst nach seinem Tod veröffentlicht werden (sagt [Wikipedia).]http://de.wikipedia.org/wiki/Otfried__Preu%C3%9Fler
So klein, so niedlich, so schalkhaft
Das kleine Gespenst ist eine wunderbare Erzählung für Kinder, die sich herrlich mit den Zeichnungen des Buches in die Kinderwelt einprägt. Und dann kommt ein Hörspiel daher und versucht, dieses Flair zu übertragen. Eine große Aufgabe. Als ich von dem Hörspiel erfuhr, war ich begeistert – ob sich die Begeisterung auch hinterher halten kann, steht weiter unten.
Für Kinder ab fünf, steht auf dem Cover. Wenn man das Päckchen aufklappt, erschlagen einen erstmal die vielen aufgelisteten Erzähler; zum Glück haben einige davon nur kurze Rollen, sonst hätte das Ganze auch für Fünfjährige ziemlich verwirrend werden können. Und auch so entsteht durch das Durcheinander in manchen Passagen, in denen das Gespenst mehrere Menschen in Aufregung versetzt, die Schwierigkeit, einzelne Erwachsenenstimmen auseinanderzuhalten. Einerseits mag das einem Kind leichter fallen, andererseits ist es auch gar nicht so von Belang, ob der Bürgermeister nun dem Hauptkommissar oder dem Polizeichef seine Vorwürfe macht, um mal ein konkretes Beispiel an zu führen.
Die Geschichte ist natürlich kindlich-spannend und anrührend. Dieses kleine harmlose Gespenst (dem der Schalk auch mal ganz fest im Nacken sitzt, wie man an seiner Geschichte mit dem schwedischen General sieht) wird von seiner gemütlichen Truhe und der nächtlichen Ruhe der Burg verjagt und muss sich – auch noch in Schwarz! – dem täglichen Radau einer Stadt aussetzen. Anfangs macht ihm die Verwirrung noch Spaß, schnell jedoch sehnt es sich nach der geborgenen Ruhe zurück und ist traurig. Das Treffen mit den drei Kindern, die sich sofort rührend um das Gespenst bemühen, ist der einzige Ausweg, den die Geschichte bietet, vor allem, da sich die Aktivzeit des Gespenstes nur auf täglich eine Stunde beschränkt. Wie vertrauensselig es dem Jungen Herbert seinen Zauberschlüsselbund aushändigt! Das versetzt den erwachsenen Hörer in neuerliche Spannung, ob dieses Vertrauen erfüllt wird – für Kinder ist es sicherlich eine logische Handlung, wenn das Gespenst wieder nach Hause will.
Natürlich verhält sich das Gespenst reichlich naiv, als es sich in der Kanalisation verirrt. Aber es hat eben auch den Charakter eines Kindes, wie es sich für eine Kindergeschichte gehört. Und da ist es doch schon erheiternd, wenn es davon erzählt, wie es mit unverschämten Menschen umspringt (wieder als Beispiel Torstenson, den es „gebeutelt“ hat, bis er auf Knien um Gnade wimmerte). Das sind auch Bilder, die sich deutlich aus der Lektüre als Kind eingebläut haben.
Die Sprecher machen ihre Sache weitgehend gut. Der Uhu hätte manchmal zum Beginn seines Textes ein wenig lauter sein können, so muss man manchmal die Lautstärke regeln, um alles zu verstehen. Oder den Kindern hört man natürlich die Kindlichkeit an, wenn sie ihre Texte vortragen (wie bei einem niedlichen Kindertheaterstück), und man merkt, dass sie gut gelernt haben.
Die Geschichte bekommt als Hörspiel einen unruhigen Charakter und hinterlässt einen mittelmäßigen Eindruck, was dem Original bei Weitem nicht gerecht wird. Zwar ruft sie in erstaunlicher Deutlichkeit die Zeichnungen aus dem Gedächtnis hervor, kann jedoch wenig eigene Vorstellungen erzeugen – zumindest, wenn man das Buch kennt. Der Flair des Originals wird nur bei beschaulichen Szenen wie den Gesprächen zwischen Gespenst und Uhu oder zwischen Kindern und Gespenst erzeugt. Die selbstbeschreibenden Lieder des kleinen Gespenstes kommen etwas zu häufig vor, so dass sie fast schon nervenden Charakter annehmen.
Was bleibt
Das Hörspiel eignet sich hervorragend zur Erinnerungsauffrischung und lässt das Original in neuem und noch stärkerem Glanz erstrahlen, da es selbst gut inszeniert ist, aber weit hinter dem Buch zurück bleibt. Für Kinder oder Eltern, die das Buch nicht kennen, bietet es eine gangbare Alternative, die dann allerdings die großartigen Bilder unterschlägt. Es bietet schöne Unterhaltung, lässt aber den Charme vermissen, der für das Buch so charakteristisch ist. Ohne diese Vergleichsmöglichkeit wirkt es fast beliebig.
ISBN-13: 978-3-89813-772-0
2 CDs, Laufzeit ca. 116 min
Hörspiel für Kinder ab 5 Jahren