Child, Lee – Way Out

_Das geschieht:_

Jack Reacher, freiwillig heimatlos durch die USA vagabundierender Ex-Militärpolizist, wird in einem Café in New York City zufällig Zeuge einer Lösegeld-Übergabe. Kate, Ehefrau des millionenschweren ‚Sicherheitsberaters‘ Edward Lane, wurde zusammen mit Jade, ihrer achtjährigen Tochter aus erster Ehe, entführt. Gegen die Zahlung von einer Million Dollar sollten Gattin und Stieftochter freikommen, doch die Kidnapper hielten ihr Versprechen nicht.

Reacher bietet seine Hilfe an. Er weiß: Die Verbrecher wollen ihr Opfer weiter ‚melken‘. In der Tat wird wenig später eine weitere Geldforderung erhoben. Fünf Millionen Dollar zahlt Lane, ohne auch dieses Mal zu zögern, denn vor fünf Jahren hatte man Anne, seine erste Frau, entführt und umgebracht, als die Polizei ins Spiel kam. Dieses böse Ende sieht Reacher neuerlich nahen, denn er glaubt trotz Lösegeldzahlung nicht an ein Freikommen von Mutter und Tochter.

Patricia Joseph, Annes jüngere Schwester, hält Lane für einen Psychopathen, der seine ihm lästig gewordene Erstgattin ermorden ließ. Seitdem überwacht sie den Ex-Schwager und hofft, ihn bei einer entlarvenden Unvorsichtigkeit zu ertappen. Ohne Patricias Wissen blieb auch Lauren Pauling auf Lanes Fersen. Sie war vor fünf Jahren die im Entführungsfall Anne Lane zuständige FBI-Agentin. Den Tod des Opfers hat sie nie verwunden und ihren Abschied genommen. Jetzt werden beide Frauen Reachers Verbündete.

Der Fall ist komplizierter, als alle Beteiligten ahnen. Lane, tatsächlich Leiter einer privaten Söldnertruppe, die für Geld überall in der Welt kämpft, hat bei einem gescheiterten Einsatz zwei Männer zurückgelassen, die wider Erwarten überlebten und Rache an ihrem Dienstherrn nehmen wollen – oder ist auch dies nur eine Theorie, die sich in Luft auflöst, während die Uhr für Kate und Jade endgültig abläuft …?

_Hit the bad boys, Jack!_

Grundsätzlich bleibt alles beim Alten: Jack Reacher lässt sich durch die USA treiben, beobachtet Land und Leute, und weil er ein wenig schärfer sieht als seine Zeitgenossen, wird er wieder einmal Zeuge einer Tat, hinter der sich nicht nur ein Verbrechen, sondern – das ist wichtig – ein Unrecht verbirgt, das offiziell und durch das Gesetz nicht geahndet werden kann. So etwas bringt ihn auf, denn Reacher, der sonst „sein Leben bis ins kleinste Detail immer so ein[richtet], dass er sekundenschnell aufbrechen konnte“ (S. 6), besitzt eine Achillesferse: Er ist ein Moralist, der sich auf die Seite der Schwachen und Wehrlosen stellen muss, wenn er ihnen begegnet.

Damit beginnen harte Zeiten für die sogenannten Starken, die sich gewaltsam und hinterlistig Privilegien aneignen und diejenigen schurigeln, die sich an die Regeln halten. Einer wie Reacher ist mindestens ebenso rücksichtslos wie sie, denn „das Reue-Gen fehlte in seiner DNA. Total. Es existierte einfach nicht.“ (S. 445) Seine Gegner begreifen stets ein wenig zu langsam, dass es ihnen nun mit gleicher Münze heimgezahlt wird. Das spricht wohlig des Lesers Gerechtigkeitssinn an, in dessen Hirn ein kleiner, meist gut verborgener Winkel existiert, wo die Selbstjustiz haust.

Lee Childs Schurken sind Abschaum, und in den Reacher-Romanen bekommen sie anders als im realen Leben, was sie verdienen. Meint Child es ernst mit diesem Vigilantentum, oder ist es nur Theaterdonner, der ein Buch spannender und besser verkäuflich machen soll? Die Frage ist generell und hier besonders unwichtig, wenn es gelingt, den Gutmenschen-Reflex auszuschalten, eine spannende Geschichte als spannende Geschichte zu akzeptieren und sich unterhalten zu lassen.

Das schafft Child auch dieses Mal vorzüglich. Action-Thriller sind keineswegs so einfach zu schreiben, wie viel zu viele ‚Autoren‘ dies glauben. Auch eine rasante Geschichte will sauber konstruiert und entwickelt sein, soll sie ihre Wirkung vollständig entfalten. „Way Out“ ist keine simple Hetzjagd von Punkt A nach B und C und so weiter, die Story hält ihr Tempo ohne Durchhänger und verliert auch angesichts rasanter Wendungen den Anschluss nicht.

_Hit the road, Jack!_

Mit dem ersten Satz wird der Leser in die mit Volldampf anlaufende Handlung gerissen. Pausen wird es (bis auf die obligatorische, bei Child traditionell peinlich-lächerliche und glücklicherweise einzige Liebesszene) nicht geben: Jeder Rückblick in die Vergangenheit, jede Gefühlsäußerung steht im Dienst der Story. Wer seinen Thriller mit Seelenpein und Beziehungskisten liebt, sollte sich die Lektüre von „Way Out“ verkneifen; wer seifenoperlich verschnittene Thriller hasst und in dieser Hinsicht ein vielfach gebranntes Kind ist, kennt und schätzt Reacher längst.

Ökonomisch schreiben zu können, ist eine kostbare Gabe. Child hat ein wunderbares Gefühl für Timing. Das Geschehen schlägt immer wieder Haken in unerwartete Richtungen. Sorgfältig konstruiert der Autor Handlungsstränge, die sich als Irrwege entpuppen. Bevor man bewundern kann, wie man schon wieder elegant an der Nase herumgeführt wurde, geht es ähnlich trügerisch weiter. So mancher gefeierte Thriller-Autor mit Bestsellerlisten-Präsenz kann Child (nicht nur) in dieser Hinsicht nicht das Wasser reichen. Last-Minute-Überraschungen setzt er nicht auf, sondern integriert sie in die Handlung.

Jack Reacher ist ein Mann mit Sinn für Details. Sie zu beachten, musste er lernen, sie sich zunutze zu machen, hat er zu einer Kunst entwickelt. Auch Child schwelgt in Einzelheiten. Er beschreibt scheinbar unwichtige Alltäglichkeiten wie eine Tür oder sogar nur ein Türschloss mit einer Intensität, die deutlich macht, dass man solche Passagen im Hinterkopf behalten sollte. Viele Seiten später kann ein Detail zum Hebel werden, mit dessen Hilfe sich ein Rätsel lösen lässt, das sich über den halben Erdball erstreckt. Auch dies wirkt nie aufdringlich, sondern entspringt flüssig dem Geschehen.

_Hit the Union, Jack!_

Weite Reisen ins Ausland sind oft Element eines Reacher-Romans. Sie zeigen den Einzelkämpfer als Meister der Improvisation, der auf fremden Boden und ohne Rückendeckung erst recht zur Hochform aufläuft. Dieses Mal gönnt sich Child ein Heimspiel: Das große Finale von „Way Out“ spielt in England. Ausgerechnet Lee Child, der die USA so prägnant als Schauplatz und ihre Bewohner als Figuren seiner Romane zu schildern weiß, ist gebürtiger Brite. Trotzdem – oder gerade deswegen? – gelingt es ihm, ’sein‘ Land aus Reachers Blickwinkel und damit wie ein Fremder zu betrachten.

Ein trockener, kaum wahrnehmbarer Humor ist oft mehr zu ahnen als zu bemerken. Zu den Schauplätzen von „Way Out“ gehört unter anderem das Dakota Building in New York City, in dem Edward Lane feudal residiert. Es ist berühmt geworden als Wohnort von John Lennon, und seine Witwe lebt noch heute hier. Mehrfach stellt Reacher die Frage, ob Lane oder einer seiner Söldner „Yoko“ (Ono) gesehen haben – ein running gag, bis Reacher die berühmte Frau in einem Nebensatz schließlich trifft.

In Sachen Körpereinsatz geht Child deutlich weniger subtil vor. Reacher ist ein Profi, was seiner Meinung nach Gewalt als selbstverständliches Mittel zum Zweck einschließt. Anders als Lane ist Reacher allerdings kein Soziopath, der Vergnügen an Schmerz und Tod findet. Kühl und effizient geht er vor, und Child setzt seine Leser brutal deutlich über die Folgen ins Bild. Trotzdem gehört „Way Out“ keineswegs in einen Topf mit den heute so publikumswirksamen Killer-Thrillern, deren Verfasser sich im Ausdenken bizarrer Folter- und Todesmethoden zu übertreffen versuchen.

Deshalb hält die Spannung auch zwischen den Höhepunkten an; es gibt keine langweilige Passagen, die übersprungen werden müssen – eine Verhaltensweise, die für die Leser von Thrillern fast schon selbstverständlich geworden ist -, weil Child es nicht nötig hat, seine Geschichte mit faulen Tricks auf Länge zu bringen. Auf Seite 448 ist der Spuk vorbei. Er schleppt sich nicht mühsam mit nachträglichen ‚Überraschungen‘ dahin, sondern bringt die Handlung von „Way Out“ zu ihrem logischen Ende und stellt in zwei Schlusssätzen den status quo für Reachers elften Auftritt her. Auf den freut man sich; eine Reaktion, die mancher andere Serienheld schon nach dem zweiten oder dritten Auftritt nicht mehr hervorzurufen vermag …

_Der Autor_

Lee Child wurde 1954 im englischen Coventry geboren. Nach zwanzig Jahren Fernseh-Fron (in denen er unter anderem hochklassige Thriller-Serien wie „Prime Suspect“/“Heißer Verdacht“ oder „Cracker“/“Ein Fall für Fitz“) betreute, wurde er 1995 wie sein späterer Serienheld Reacher ‚freigestellt‘.

Seine Erfahrungen im Thriller-Gewerbe gedachte Child nun selbstständig zu nutzen. Die angestrebte Karriere als Schriftsteller ging er generalstabsmäßig an. Schreiben wollte er für ein möglichst großes Publikum, und das sitzt in den USA. Ausgedehnte Reisen hatten ihn mit Land und Leuten bekannt gemacht, sodass die Rechnung schon mit dem Erstling „Killing Floor“ (1997, dt. „Größenwahn“) aufging. 1998 ließ sich Child in seiner neuen Wahlheimat nieder und legt seither mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks in jedem Jahr ein neues Reacher-Abenteuer vor; zehn sollten es ursprünglich werden, doch zur Freude seiner Leser ließ der anhaltende Erfolg Child von diesem Plan Abstand nehmen.

Man muss die Serie übrigens nicht unbedingt in der Reihenfolge des Erscheinens lesen. Zwar gibt es einen chronologischen Faden, doch der ist von Child so konzipiert, dass er sich problemlos ignorieren lässt. Jack Reacher beginnt in jedem Roman der Serie praktisch wieder bei Null.

Aktuell und informativ präsentiert sich Lee Childs Website: http://www.leechild.com.

Die Jack-Reacher-Romane erscheinen in Deutschland im |Heyne| (Bd. 1, 2) und im |Blanvalet| Verlag (ab Bd. 3):

1. Killing Floor (1997, dt. „Größenwahn“)
2. Die Trying (1998, dt. [„Ausgeliefert“) 905
3. Tripwire (1999; dt. [„Sein wahres Gesicht“) 2984
4. Running Blind (aka „The Visitor“, 2000; dt. [„Zeit der Rache“) 906
5. Echo Burning (2001; dt. [„In letzter Sekunde“) 830
6. Without Fail (2002, dt. „Tödliche Absicht“)
7. Persuader (2003, dt. [„Der Janusmann“) 3496
8. The Enemy (2004, dt. [„Die Abschussliste“) 4692
9. One Shot (2005; dt. [„Sniper“) 5420
10. The Hard Way (2006; dt. „Way Out“)
11. Bad Luck and Trouble (2007; noch kein dt. Titel)
12. Nothing to Lose (2008; noch kein dt. Titel)
13. Gone Tomorrow (2009; noch kein dt. Titel)
14. 61 Hours (2010; noch kein dt. Titel)

_Impressum_

Originaltitel: The Hard Way (London : Bantam Press 2006/New York : Delacorte Press 2006)
Übersetzung: Wulf Bergner
Deutsche Erstausgabe (geb.): August 2009 (Blanvalet Verlag)
448 Seiten
EUR 19,95
ISBN-13: 978-3-7645-0236-6
http://www.blanvalet-verlag.de

Schreibe einen Kommentar