Tom Shippey – Der Weg nach Mittelerde – Wie J. R. R. Tolkien „Der Herr der Ringe“ schuf



Wissenschaftlich fundiert: Ein steiniger Weg nach Mittelerde

„Der Weg nach Mittelerde“ ist eine literaturwissenschaftliche Erkundung von Tolkiens Kreativität und den Quellen seiner Inspiration, geschrieben mit großer Fachkenntnis von einem Kollegen, der Tolkien mehrfach in seinen Fußstapfen folgte. Shippey, Autor von „JRR Tolkien – Autor des Jahrhunderts“, zeigt im Detail, wie Tolkiens wissenschaftlicher Hintergrund ihn dazu führte, ein Werk zu schaffen, dessen Faszination nun bereits ein halbes Jahrhundert überdauert. Zudem setzt sich Shippey mit den Verfilmungen des „Herrn der Ringe“ durch Peter Jackson auseinander. (aus der Verlagsinfo)

Der Autor

Prof. Tom Shippey, geboren 1943, lehrt zurzeit an der Universität von St. Louis, USA. Er hatte die gleichen Lehrstühle für Alt- und Mittelenglisch wie Tolkien inne, erst in Leeds, dann in Oxford. Er hat zahlreiche Artikel über Tolkien und dessen Werke veröffentlicht, nicht zuletzt in den Annalen der diversen nationalen Tolkien-Gesellschaften.

In die Neuausgabe seiner 1987 veröffentlichten Werks „Der Weg nach Mittelerde“ hat er nicht nur Korrekturen von Beurteilungen aufgenommen, sondern auch seinen langen Essay über Peter Jacksons Verfilmung des „Herrn der Ringe“.

Inhalte

1) Vorwort

Nach den Danksagungen und der Angabe seiner Quellen weist der Autor seinen Leser darauf hin, welchen Stellenwert die neue Ausgabe von 2005 seines Buches „Der Weg nach Mittelerde“ aus dem Jahr 1982 einnimmt. Erstens handelt sich um eine in wenigen Aspekten revidierte Darstellung und Bewertung, denn nach 1982 erschien die „History of Middle-Earth“ in über einem Dutzend Bände (die auf Deutsch noch gar nicht existiert!) sowie ein Band mit Aufsätzen, diverse Funde usw. Das ist also ein notwendiges Update.

Der zweite Aspekt betrifft die Position von „Der Weg nach Mittelerde“ zum Buch „J. R. R. Tolkien – Autor des Jahrhunderts“. Shippey versteht sein Buch „Der Weg nach Mittelerde“ als komplementäre Ergänzung zu seiner populärwissenschaftlichen Betrachtung „J.R.R. Tolkien – Autor des Jahrhunderts“. Während dieses Werk Tolkien vor dem Hintergrund seiner eigenen Zeit betrachtet (synchronisch), verfolgt „Der Weg nach Mittelerde“ den diachronischen Ansatz, nämlich die lange Entstehungsgeschichte des Hauptwerkes „Herr der Ringe“ über Jahrzehnte hinweg zu untersuchen, also aus den Wurzeln im „Silmarillion“ (ab 1916).

Das ist ein völlig anderer Ausgangspunkt, die Methode ist dementsprechend anders. „Der Weg“ ist nicht populärwissenschaftlich, sondern akademisch formuliert. Allein schon der „Apparat“, also Anhänge plus Register, nimmt deshalb rund 100 Seiten ein. Anschaulich wird der Streifzug dadurch, dass Shippey zu illustrieren versucht, wie eine rätselhafte schriftliche Antwort Tolkiens aus dem Jahr 1972 über 30 Jahre brauchte, bis Shippey soweit war, sie auch vollständig zu begreifen.

2) Kap. 1: >LIT.LANG.Im Verlauf der tatsächlichen Abfassung<

Anders als in der Erstfassung 20 Jahre zuvor (ca. 1987) berücksichtigt Shippey nun die zwölfbändige „History of Middle-Earth“ komplett. Doch Shippey ist über das, was er darin fand, sowohl ernüchtert als auch bestürzt. Zentrale Aspekte wie die Silmaril, den Namen von Aragorn/Streicher und vor allem die Natur des Einen Rings fanden erst im allerletzten Moment Eingang in die Endfassung (falls man diesen Begriff aufs „Silmarillion“ anwenden kann). Schon Tolkien selbst warnte seine Leser, Kollegen und Kritiker davor, quasi unter die Motorhaube eines Werks zu blicken. Nun haben wir den Salat: In der „History“ sehen wir sämtliche Eingeweide in beunruhigender Unfertigkeit. Vom großen Plan des Schriftstellers also keine Spur, vielmehr die Lust am Spiel mit Namen und Sprachen.

Sollte und konnte das „Silmarillion“ wirklich eine „Mythologie für England“ sein, fragt Shippey. Tolkien hat das zwar nie so gesagt, wie es scheint, doch er meinte es so. Leider bekam er weder die Römer in den Griff noch den Bezug zur angelsächsischen Moderne: Das Manuskript wurde als definitiv „ausländisch“ (wahrscheinlich „keltisch“) abgelehnt. Ironie hoch zwei!

Tolkien schätzte „Tiefe“ an einer sprachlich-literarischen Erfindung am höchsten. Doch wie konnte er selbst diesen Eindruck herstellen? Shippey untersucht dies anhand des „Liedes von Beren und Lúthien“, von dem es nicht weniger als neun Versionen gibt. Man sollte meinen, dass zentrale Elemente der Geschichte, die sich um den Silmaril, den ihr Vater Elu Thingol im Austausch für Lúthiens Hand von Beren verlangt, von Anfang an eine bedeutende Rolle gespielt haben müssten.

Dem ist nicht so, stellt Shippey erstaunt fest. (Parallelen zur Wälsungen-Saga bzw. dem Brünhild-Lied, die Shippey anführt, fand ich wenig zielführend. Sie sollen belegen, dass stets die Gefahr besteht, zentrale Fragen wie die obige zu vernachlässigen und dass daraus Widersprüche entstehen.) Die historische Tiefe, die das Lied heute vermittelt, erhält es vielmehr aus der Einbettung in den HdR, wo Aragorn es singt. Und diesen Kniff benutzte Tolkien sowohl im „Akallabêth“ durch Nutzung eines unsicheren Chronisten als auch in einem der späten Tom-Bombadil-Gedichte.

Zurück zu den Vorwürfen der Kritiker. Diesmal steht „Eskapismus“ auf der Anklageliste. Es ist aber doch bemerkenswert, dass alle Schriftsteller, die ein Kriegserlebnis hatten, wie Tolkien, C. S. Lewis, Kurt Vonnegut und viele andere, dieses Trauma nie in „realistischen Romanen“ verarbeiteten, sondern in Form von Fantasy oder Science-Fiction (z. B. „Schlachthof 5“ von Kurt Vonnegut). Im Unterschied dazu verarbeiteten „realistische Autoren“ wie Updike oder Philip Roth nie Kriegserlebnisse, falls sie welche hatten. Es sei denn, man hieß Norman Mailer und war eh schon Reporter. Was also sollte an einem Kriegsroman wie HdR „eskapistisch“ sein, fragt Shippey.

HdR sei eine Kastrationsphantasie, meint ein weiterer Literaturwissenschaftler. Indiz dafür sei, dass Frodo in den Schicksalsklüften der Finger abgebissen werde, an dem er den Ring trägt. (Und Frodo verlor durch diese Mission noch viel mehr, etwas, das er nur in Valinor lindern kann.) Und überhaupt gehe es in dem Roman viel mehr um das Entsagen als um das Gewinnen – wie defätistisch! Eine weitere Kritikerin beschwert sich sogar über den „hypertrophen Realismus“ von HdR, gerade so, als wären ihr Orks, wandernde Bäume und Elfen nicht phantastisch genug.

Hierzu findet Shippey einen wunderbar passenden Abschluss, indem er auf die ersten christlichen Dokumente Englands aus dem 7. Jahrhundert zurückgreift, allesamt Fragmente, und sogar mit dem Zusatz eines Fans versehen. Nur der Zusatz hat die Zeiten überdauert. So könnte dermaleinst auch HdR als ein Rest dessen aufgefasst werden, was einst die altnordische, altenglische und philologische Literatur gewesen ist. Bemerkenswerterweise ist es Tolkien gelungen, das Interesse an diesen Bereichen weltweit wiederzubeleben. Und von welchem anderen Schriftsteller könnte man dies schon behaupten?

[…]

11) Nachwort

In seinem Nachwort greift Shippey die Vorwürfe der englischen Kritiker, die er im Vorwort anführte, noch einmal auf, macht sie erklärlich und präsentiert Tolkien als ein Novum für diese Kritiker. Die Rezensenten standen in den fünfziger Jahren nämlich auf elitären Standpunkten und lobten Bücher, die die Gesellschaft herausforderten – aber keinesfalls die Kritiker. Auch die Universitäten sind bis heute offenbar nicht viel besser, und Philologie ist mittlerweile kaum noch zu finden.

Ansonsten fasst das Nachwort nochmals zusammen, worauf es Tolkien ankam. Etwas muss er richtig gemacht oder einen Nerv getroffen haben. Woher kämen denn sonst die Millionen von Lesern? Für die angemessene Bewertung von Unterhaltungsliteratur muss die Literaturwissenschaft offenbar noch Werkzeuge finden, die nicht antiquiert sind.

12) Anhänge A, B und C

Die drei Anhänge formen zusammen mit der Konkordanz und dem Index rund einhundert Seiten. Man muss sie nicht unbedingt gelesen haben, aber zumindest Shippeys Urteil über Jacksons Filmtrilogie ist einen Blick wert.

Anhang A: Tolkiens Quellen: Die wahre Tradition

Tolkien hielt nicht viel davon, dass „Der Herr der Ringe“ mit Richard Wagners Opernzyklus „Der Ring der Nibelungen“ verglichen wurde. Shippey weist zwar auf Parallelen hin, doch Tolkiens Unmut richtete sich vielmehr darauf, dass Wagner nicht auf die „wahren Quellen“ zurückgriff, sondern auf Vermittler wie das mittelhochdeutsche „Nibelungenlied“ und diverse Nacherzählungen nordischer Sagen. Eine solche „wahre Quelle“ waren für Tolkien zweifellos die Originaltexte des „Beowulf“-Epos und der beiden Edda-Saga-Sammlungen.

Daneben standen Tolkien laut Shippey unzählige nordische, altenglische, deutsche, ja sogar amerikanische Quellen zur Verfügung. (Tolkien konnte Deutsch und zitierte es in seinem Essay „Über Märchen“.). Für den Fan ist es interessant, welche Wörter den Autor inspirierten, so etwa das höchst ausgefallene Wort „dwimmerlaik“, das Eowyn für den Nazgulkönig verwendet.

Ebenso wichtig war für Tolkien seit 1907 das finnische Nationalepos „Kalevala“, dem er zahlreiche Namen für sein „Silmarillion“ entnahm. Hier ergreift Shippey die Gelegenheit, sein eigenes Fehlurteil über das „Kalevala“ zu korrigieren, das er in „Tolkien, Autor des Jahrhunderts“ geäußert hatte.

Anhang B: Vier Sternchen-Gedichte

Hier handelt es sich um vier Gedichte in Gotisch und Altenglisch. Die ersten beiden sind Philologengedichte zum Lob der Birken, die Tolkien ca. 1930 zum Baum der Philologen erhoben – und die Eiche zu dem des Feindes der Literaten an der Uni. Die zwei folgenden Gedichte schildern das Schicksal von Sterblichen, die entweder (a) von einer Elbin ins Elfenland entführt werden oder (b) freiwillig eine Nixe heiraten. In jedem Fall ereilt den Menschen ein bedauerliches Schicksal.

Anhang C: Peter Jacksons Filmfassung

Dieser Anhang, der auf einem Essay basiert, ist für den heutigen Leser, der höchstwahrscheinlich auch die Filmtrilogie gesehen hat, sicherlich der interessanteste. Was hat wohl Shippey (und zwar nur in dieser aktualisierten Ausgabe!) dazu zu sagen? Entpuppt er sich als Tolkien-Verteidiger und Jackson-Kritiker? Mitnichten! Vielmehr lässt er Jacksons Darstellungsweise durchaus gelten, denn ein Regisseur darf nicht nur, er MUSS sogar darstellen, was im Buch die Figuren nur im Rückblick wiedergeben und reflektieren. Dazu gehört beispielsweise die Zerstörung Isengarts durch die Ents, die im Buch völlig ausgeklammert wird. Auch Aragorns Angriff auf die Korsaren von Umbar muss im Film zu sehen sein – und nicht als Rückblendendialog.

Interessant ist u. a., dass Tolkien schon 1957, nur zwei Jahre nach Erscheinen von Band 3, ein Drehbuch lesen konnte. Es war wirklich mies. Doch der Punkt ist, dass er sich keineswegs gegen eine Verfilmung sperrte und anerkannte, dass gewisse Szenen und Figuren – etwa Tom Bombadil – gestrichen werden müssten, um die vorrangige Handlung zu betonen, während die „Nebenhandlungen“ sie begleiten.

Doch was ist die Kernhandlung? Hier ist es witzig zu erfahren, dass New Line/Warner Bros. offenbar einen Script Doctor nach Neuseeland schickte, um Jacksons Skript zu „retten“. Was dieser unbekannte Retter vorschlug, ergibt zwar dramaturgisch Sinn, jagt uns aber heute Schauder über den Rücken: Einer der Hobbits sollte sterben; wozu soll es zwei Liebesgeschichten geben, wenn eine doch völlig reicht? Also soll Aragorn Eowyn KEINEN Korb geben, sondern sie heiraten. Faramir wäre dann ebenso überflüssig wie die doofe Arwen, die eh keine Rolle spielt. Und so weiter. Ein Glück, dass Jackson diesen subversiven Versuch abschmetterte und sich an die Vorlage hielt!

Shippey ergreift die Gelegenheit, über das Phänomen der „speculation“ zu sinnieren. Dies hat wenig mit Spekulation zu tun, sondern mit dem wörtlichen In-den-Spiegel-schauen. Gemeint sind konkret die Palantiri, also die Sehenden Steine. Sie werden von beiden Seiten, Saurons wie Gandalfs, zur Irreführung der Gegenseite benutzt. Auch Saruman und Denethor werden durch sie getäuscht, weil diese Mistdinger immer nur die halbe Wahrheit zeigen. „Speculation“ liefert Stoff für einen interessanten Aufsatz, liebe Studenten!

Shippey kritisiert schließlich, wie Jackson mit Tolkiens Auffassung von Vorsehung und Verwirrung umgeht – beides wird umgedeutet, um den Bedürfnissen eines amerikanischen Publikums des 21. Jahrhunderts zu gehorchen. „Zweifelnde Verwirrung“ (bewilderment) wird den Figuren geradezu ausgetrieben und durch Szenen der Hoffnung ersetzt, in denen Arwen eine Hauptrolle spielt. Die Vorsehung wiederum ist zwar drin geblieben, aber unter anderen Vorzeichen als bei Tolkien. Der freie Wille wird nun viel stärker betont.

13) Anmerkungen

Die Anmerkungen nehmen rund 23 Seiten (473-496) ein und dienen dazu, jede Textstelle – besonders Zitate – zu belegen. Hier und da finden sich ein Update und eine Erläuterung. Die Lektüre lohnt sich v.a. für den Experten.

Vielfach finden sich Abkürzungen von Werktiteln. Der Schlüssel zu diesen Abkürzungen ist auf den Seiten XI bis XVII zu finden; die Liste ist also ganz schön lang. Leider ist dem Übersetzer dabei ein Widerspruch unterlaufen: Wenn er wiederholt BLT schreibt, sucht man dieses Kürzel in der Liste vergeblich. Das könnte verwirrend wirken, wenn man nicht wüsste, dass BLT möglicherweise „Book of Lost Tales“ („Das Buch der verschollenen Geschichten“, 2 Bde. bei Klett-Cotta) heißt. Und siehe da: es funktioniert! Glück gehabt.

14) Konkordanz deutschsprachiger Ausgaben

Hier werden die einzelnen deutschen Ausgaben miteinander abgeglichen, wichtig für die unterschiedlichen Übersetzungen aus dem Hause Klett-Cotta, die in diversen Ausgaben vorliegen.

15) Register

Im Index sind die wichtigsten Werke zu finden, auf die sich Tolkien und Shippey beziehen.

Die Übersetzung

Helmut W. Pesch, der deutschen Fantasyfreunden längst als „Doctor Fantasy“ – er schrieb seine Doktorarbeit darüber – bekannt ist, hat die Mammutaufgabe mit Bravour bewältigt. Nicht nur übersetzte er Shippeys Text aus dem modernen Englischen. Er musste häufig auch die Quellen übersetzen, so etwa aus dem Mittelenglischen, weil dies der Meister nicht immer tut.

Des Weiteren hatte Pesch das Problem, dass es hierzulande zwei Übersetzungen des HdR gibt, nämlich die Erste von Margaret Carroux und die von Wolfgang Krege. Dieses Problem löste er mit einer Konkordanz, die sich im Anhang findet. Deshalb tauchen im Text alle Verweise auf den LOTR (Lord of the Rings) mit zwei Stellenangaben auf, also mit Teil, Kapitel und Seite. Solch eine Umständlichkeit kann sich nur ein wissenschaftlich orientiertes Werk erlauben, das auf äußerste Genauigkeit bedacht ist.

Schwächen

Ich habe mir 24 Schwach- und Fehlerstellen notiert. Keine Angst! Sie sind schön gleichmäßig über rund 400 Seiten verteilt. Meist handelt es sich um Druckfehler, wie etwa falsche Kasusendungen und derlei Lappalien. Es gibt aber auch Dinge und Stellen, bei denen man nachhaken sollte.

So wird etwa auf S. 194 behauptet, Minas Tirith sei evakuiert worden. Mir ist nichts dergleichen bekannt, vielmehr wurde Minas Tirith belagert. Edoras, also Theodens Burg, wird jedoch evakuiert, und die Bevölkerung wandert nach Helms Klamm. Hier leigt offenbar ein Sachfehler vor, und ich nehme an, er geht auf Shippeys Konto. Dennoch hätte der Übersetzer den Sachfehler erkennen und darauf hinweisen sollen.

Auf S. 246 fehlt ein Komma, und das hat schwerwiegende Folgen. „Tolkiens Poetik spiegelt seine Vorstellungen über Sprache wider[,] die Auffassung, wonach die Lautgestalt vom Inhalt nicht zu trennen ist.“ Ohne Komma ergibt der Satz herzlich wenig Sinn.

Auf Seite 247 ist die Rede von semantischen Begriffen wie „enge vs. lose Passung“. Eine Erklärung erfolgt ebenso wenig wie der Verweis auf eine Erklärung. (Siehe auch oben im Inhaltsabriss.) Diskussionswürdig ist auch der von Pesch verwendete Begriff „Romanze“ für das englische „romance“. „Romanze“ bedeutet hier eben nicht den landläufigen Groschenroman oder eine flüchtige Liebesbekanntschaft, sondern etwas völlig anderes: eine Abenteuergeschichte.

Dazu zählen übrigens auch Epen wie Homers Odyssee sowie jede Menge Ritterromane. Man merkt schnell, dass es einen signifikanten Unterschied zum „realistischen“ Roman gibt, wie er im 18. Jahrhundert von den Engländern erfunden wurde: Es ist eine andere Auffassung von Realität und Darstellung. Vielleicht wäre „Abenteuergeschichte“ eine angemessenere Übersetzung gewesen. Leider klingt dieses Wort schrecklich unwissenschaftlich und allgemein. Wer will schon festlegen, was ein Abenteuer ist und was nicht? „Romanze“ ist also besser als nichts.

Unterm Strich

Ein erster Anlauf, dieses Werk zu besprechen, scheiterte 2008 schon nach zwei Kapiteln: Es ist eine hochakademische Angelegenheit, erkannte ich, in der der Unterschied zwischen Literatur- und Sprachwissenschaften ausgefochten wird. Und dessen war ich mir auch im zweiten Anlauf vier Jahre später bewusst, doch mittlerweile weiß ich mehr über Tolkien, seinen Hintergrund – und über Tom Shippey sowie dessen Fachgebiet, die alt- und mittelenglische Literatur. Überdies hält das Interesse an Tolkien und seinen Quellen, wie dem „Beowulf“, unvermindert an. Grund genug, sich Shippeys erneut vorzunehmen.

Obwohl es ein geistiger Knochenjob gewesen ist, kann ich sagen, dass es sich doch gelohnt hat. indem ich mich Kapitelabschnitt für Kapitelabschnitt vorarbeitete (jeder kleine Absatz oben steht für mehrere bis Dutzende Seiten), vermochte ich der tiefgestaffelten Argumentation des Autors zu folgen. Er versucht durchgehend, Motive und Methoden Tolkiens verständlich zu machen und beleuchtet dazu fast alle Werke des Meisters, selbst solche, die noch nicht ins Deutsche übersetzt worden sind.

Wer letzteres bedauert, wird eines Besseren belehrt: Die „History of Middle-Earth“ enthüllt so viele Details unter der Motorhaube des HdR etc., dass der Zauber verfliegt und sich Verwirrung sowie peinliche Verlegenheit im Leser regen können. Wer will schon die Geschichte von BINGO lesen? Vielleicht ein Zocker.

Besonders wertvoll fand ich Shippeys Esssay über Peter Jacksons Verfilmung des „Herrn der Ringe“, denn erstens ist er leicht verständlich (sofern man die Filme kennt), zweitens beleuchtet er nicht nur die vielfältigen Änderungen an den Handlungen der drei Teile des HdR, sondern auch gewisse Merkwürdigkeiten an der Produktion (so etwa den Einsatz eines Script-Doctors).

Einleitung und Nachwort umreißen das Problem, das die Kritik mit Tolkien hat – und ich werde nicht noch einmal darauf herumreiten. Durch das Verständnis, das Shippey mittlerweile für Tolkien gewonnen hat (er hatte ja auch 40 Jahre Zeit dafür), schlägt er sich fast immer auf die Seite des Meisters und verteidigt ihn gegen die kritik, so vielfältig diese auch vorgebracht werden mag. Man kann viel gegen den HdR einwenden, aber unbestritten ist ja wohl, dass es einen Grund für den anhaltenden Erfolg des zum „wichtigsten Buch des 20. Jahrhunderts“ gewählten Romans geben muss – und warum sich dieser Erfolg in jeder Generation erneut einstellt (was die Verlage der Tolkien-Industrie weltweit sicherlich freuen dürfte).

Übersetzung, Gesamteindruck

Pesch hat fast eine ebenso große Anstrengung unternehmen müssen wie der Autor selbst, um den Text so ins Deutsche zu bringen, dass er wissenschaftlichen Ansprüchen genügt. Dass dabei einige Schwächen aufgetreten sind, zeigt meine Würdigung oben. Aber es zeigt auch, dass das Zielpublikum nicht der gewöhnliche Tolkien-Fan ist, der nur die Filme kennt, nein, Sir, vielmehr richtet sich dieses hochakademische Werk an die Wissenschaftsgemeinde und an Laien, die sich ernsthaft mit Tolkiens Werk auseinandersetzen.

Am lesbarsten ist wohl Shippeys Essay über die Jackson-Verfilmungen. Diese wurden aber schon woanders erstmals abgedruckt, so dass man dafür nicht extra das vorliegende Werk erstehen muss. Für ernsthafte Fans sind Shippeys Forschungen in und Erläuterungen zu Tolkiens Werken sicherlich erhellend. Und sie ermöglichen eine Bewertung: Ist es wirklich nötig, die komplette „History of Middle-Earth“ zu übersetzen? Die Antwort fällt eher negativ aus.

Merkwürdig ist andererseits aber auch, dass Shippey mit keiner Silbe auf Werke wie „Die Briefe des Weihnachtsmanns“, „Roverandom“ und „Herr Glück“ eingeht, gerade so, als gäbe es sie nicht. Es gibt also auch in diesem 25-Euro-Werk Lücken. Diese zu schließen, ist anderen überlassen.

Konstruktive Hinweise auf Fehler in meinem Text werden dankbar angenommen. Merke: Errare humanum ist, und Errata dürfte es etliche geben.

Fazit: vier von fünf Sternen.

Gebunden: 529 Seiten
Originaltitel: The Road to Middle-Earth (1982)
Aus dem Englischen von Helmut W. Pesch.
ISBN-13: 978-3608936018

http://www.klett-cotta.de/home

Tom Shippey bei Buchwurm.org:

„J. R. R. Tolkien – Autor des Jahrhunderts“

www.klett-cotta.de

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