Graeff, Alexander – Fragen an Kandinsky oder: wie ich den Geist im Werke rief

In dem ganz wunderbaren Buch „Fragen an Kandinsky oder: wie ich den Geist im Werke rief“ geht Alexander Graeff, und der Autor möge mir diese Reduktion verzeihen, dem Zusammenhang zwischen Kunst und Freiheit nach. Das Setting: eine Séance und zwölf Fragen, die er in einem tranceähnlichen Zustand dem Impressionisten Wassily Kandinsky (1866-1944), oder dem Geist Kandinski, oder – noch besser – der Idee Wassily Kandinsky stellt. Was sich hier okkult anhört, ist auch tatsächlich okkult, so denn der Okkultismus die „Lehre des Verborgenen in all ihrer weiten Dimensionen ist, also des Psychologischen, Phänomenologischen, Anthropologischen und Kosmologischen“ (Graeff). Und was schließlich in der Seance geschieht, ist weder Hokuspokus noch esoterische Weichspülerei. Methodisch, unkonventionell und eigentlich im Vorübergehen – denn die Séance als Methode wird selbst nicht thematisiert – räumt Graeff mit einer Unmenge von Vorurteilen und Unschärfen bezüglich dieser alten magischen Praktik auf, wofür manch anderer tausend Seiten benötigt und trotzdem scheitert.

In Graeffs Fall wird indes die Methode an ihrer Funktionalität gemessen. Seine Intention liegt klar darin, dem Leser die Möglichkeit zu geben, seine Erfahrungen und Erkenntnisse, die er durch das Studium der Kunst im Allgemeinen, Kandinskys im Besonderen und des Okkulten empfangen durfte, zu reproduzieren. Sein Ziel ist die Freiheit, sein Stilmittel die Kunst, die sich in reflexiver Weise wie auch in literarisch-okkulter Form selbst beschreibt. So bleibt Graeff letzten Endes stets bei Innenansichten (und muss es bleiben, will er Erfahrung vermitteln) die sich in einem denkwürdigen Zwiegespräch mit dem Kandinsky-Phänomen ausdrücken, in Themen wie dem Wesen der Kunst, den Dualismen Form und Inhalt, Ordnung und Chaos sowie Freiheit und – ihrem Gegenpart – der Bindung. Doch das Subjektive dieser okkult-kandinskyschen Erfahrung, die Graeff postuliert, wird nicht thematisiert. Sie erschließt sich dem Leser auf wundervolle Weise durch die Lektüre selbst, verbleibt aber dann im Verborgenen der Seele des Lesers und darf nicht externalisert werden, ohne damit von dem Inhalt zur Form zu wechseln und das Erfahren zu zerstören. Ermöglicht wird dieser Effekt unter anderem durch die hervorragenden Illustrationen von Andrea Schmidt, die meines Erachtens eher den Namen „Seelenbilder“ verdienen. Auch hier paart sich das Künstlerische mit dem Künstlerischen – das Auditive des Textes mit dem Visuellen der Bilder – und ermöglicht so eine Erfahrung wirklich okkulter Natur, die in ihrem inneren Effekt ähnlich ist, wenn man sich zum erste Mal mit den mathematischen Theoremen Gödels oder den selbstreferentiellen Theorien der Wissenschaftler Luhmann und Maturana auseinandersetzt. Was jeweils bleibt, geboren aus dem wissenschaftlichen oder wie in Graeffs Fall, dem künstlerischen Ansatz, ist reine Selbst-Erfahrung.

http://www.alexander-graeff.de
http://www.otrd.de/autorenprogramm.html
oder bei http://www.seitenschauer.de

_Tom Eichler_
[Phänomen Verlag]http://www.phaenomen-verlag.de

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