Dan Simmons – Im Auge des Winters

Das geschieht:

Nach einem missglückter Selbstmordversuch versucht Dale Stewart, Literaturdozent und Schriftsteller in mittleren Jahren, einen Neuanfang. Er beschließt er den Rückzug in die Einsamkeit, wo er mit sich selbst ins Reine kommen und ein neues Buch schreiben möchte. Stewart wählt als Thema die eigene Vergangenheit. In Elm Haven, einer Kleinstadt im ländlichen Illinois der Vereinigten Staaten, ist er aufgewachsen und hat eine glückliche Kindheit verlebt, derer er sich gern erinnert.

Allerdings gibt es da einen schwarzen Fleck in seinem Gedächtnis. Die Kindheit in Elm Haven war nicht frei von Tragödien. Das alte Farmhaus, in das Stewart nun einzieht, gehörte dem Vater seines besten Freundes Duane McBride, der vor vier Jahrzehnten bei einem nie geklärten Unfall grausam ums Leben kam. Damals hatte sich das Böse in der alten Central School eingenistet und Elm Haven in seinen Bann gezogen. Zahlreiche Menschen mussten sterben, und zu ihnen gehörte auch Duane, was Dale Stewart längst verdrängt hat. [Diese Vorgeschichte erzählt Simmons in „Sommer der Nacht“]

In seinem Unterbewusstsein ist diese Vergangenheit lebendig. Ein unwiderstehlicher Drang lenkte Stewart zurück nach Elm Haven. Dort trifft er alte Bekannte und lernt neue Freunde und Feinde kennen. Im Farmhaus geht es um. Seltsame schwarze Hunde streifen auf dem Gelände herum. Albträume plagen Stewart, die um den seit Jahrzehnten versiegelten ersten Stock des Hauses kreisen.

In Stewarts momentanem Heim braut sich etwas Übles zusammen. Allerdings gibt es Hinweise darauf, dass er allmählich dem Wahnsinn verfällt und selbst verantwortlich für den Spuk ist. Realität und Vision beginnen sich zu mischen, bis Stewart jeglichen Halt verliert. Erst in letzter Minute erkennt er, was tatsächlich vorgeht im alten Farmhaus, doch da sind ihm nicht nur die Geister von Elm House dicht auf den Fersen …

Zwischen Spuk und Wahnsinn

„Im Auge des Winters“ ist eine Mischung aus klassischer Geistergeschichte und Psychothriller. Erstere benötigt üblicherweise eine ausführliche, langsame Einleitung, die den Schauplatz und die handelnden Personen vorstellt. Allmählich mischen sich leichte Irritationen in die Darstellung. Gern wird dies durch Stimmen aus dem Nichts, leer schaukelnde Stühle oder Lichter verdeutlicht, die stets verlöschen, sobald der irritierte Protagonist auf der Bildfläche erscheint. Diese durchaus als Klischees zu bezeichnenden Elemente setzt auch Dan Simmons ein. Er beweist allerdings, dass sich mit den alten Rezepten weiterhin Spannung und Grusel erzeugen lässt, wenn man sie anzurühren weiß.

Weiterhin gehört zur guten Geistergeschichte viel Atmosphäre. Simmons isoliert seine Hauptfigur Dale Stewart auf einer einsamen Farm, die schon Schauplatz vieler unschöner Ereignisse gewesen ist. Der Winter naht, es schneit heftig, die Zufahrtswege werden unpassierbar, das Handy streikt. Die erste Etage des Farmhauses ist seit Jahrzehnten mit Plastikfolien versiegelt, hinter denen Merkwürdiges vorgeht. Elm Haven selbst ist ein verlassen und öde wirkender Ort, der die Magie längst verloren hat, die den jungen Dale Stewart einst in ihren Bann zog.

Geschickt baut Simmons im gewählten Rahmen Spannung auf, schürt sie, führt seine Leser auf Irrwege. Das größte Rätsel bleibt natürlich, ob der Spuk ‚echt‘ ist. Man darf sich da nicht sicher sein, denn Dale Stewart, die Hauptfigur, ist ein psychisch angegriffener Mann. Schuld erfüllt sein Denken und Handeln, sodass es ihm ohnehin schwerfällt, zwischen Wahrheit und Wahn zu unterscheiden. Diese Unsicherheit geht dank Simmons auf den Leser über.

Damals war anders

„Im Auge des Winters“ ist keine ‚echte‘ Fortsetzung des Simmons-Bestsellers von 1991. „Sommer der Nacht“ schilderte Dale Stewarts erste Auseinandersetzung mit dem Übernatürlichen im Jahre 1960. Die Bezüge zwischen den beiden Romanen existieren und sie sind sogar eng. Dennoch ist „Im Auge des Winters“ ein eigenständiges Werk, denn Simmons interpretiert viele Ereignisse aus dem „Sommer der Nacht“ um. Nunmehr liest sich der ältere Roman in Kenntnis der neuen Geschichte anders. Ein solches (darf man das böse Wort benutzen?) intellektuelles Spiel mit der Vorgeschichte wäre nicht nötig gewesen. Es ist ein Geschenk, das der Verfasser seinem Publikum macht.

Wenn es etwas gibt, das sich bemängeln ließe, so ist dies Simmons‘ Einfall, Dale Stewart nicht nur von Geistern, sondern auch von ebenso brutalen wie dummen Neonazis jagen zu lassen. Für die Geschichte sind sie im Grunde nutzlos, nicht umsonst beklagt sich im großen Finale eines der Gespenster, dass man alles – in diesem Fall die Ermordung Dales – selbst machen müsse.

Ganz unten gelandet

Ein Mann in der dunkelsten Phase seines Lebens: Dale Stewart wurde von der Gattin und den Kindern verstoßen, auch die Geliebte hat ihn sitzenlassen. Er ist ein mittelmäßiger Schriftsteller und Universitätsdozent, dessen Lehrstuhl wackelt und den die Kollegen meiden, ein von Depressionen geplagter Menschenwurm, der einen nur zufällig gescheiterten Selbstmordversuch hinter sich hat und auf Psychopharmaka angewiesen ist.

Nun versucht er den Neuanfang, löst sich von dem Chaos, zu dem sein Leben geworden ist – und gerät vom Regen in die Traufe. Ausgerechnet nach Elm Haven zieht es Dale. Vierzig Jahre ist es her, dass er hier eine aufregende Kindheit erleben durfte, deren düstere Aspekte freilich tief in seinem Gedächtnis begraben liegen. 1960 zog das Böse in Elm Haven ein, und es war nur zum Teil menschlicher Natur. Dale und seine Kinderfreunde von der „Fahrradpatrouille“ stellten sich ihm und besiegten es, wobei sie Opfer zu beklagen hatten.

Dale überlebte, doch er musste seinen Preis zahlen. In seinem Unterbewusstsein hat er das Kapitel Elm Haven nie abgeschlossen. Kein Wunder, denn nicht alles, was vor vier Jahrzehnten umging, haben die Freunde damals ausschalten können. Da gibt es offene Enden, die endlich verknüpft werden wollen. Leider ist Dale Stewart nur bedingt tauglich für seine neue Mission. Die depressiven Anwandlungen lassen ihn fantasieren, bis sich die Erinnerungen an das verpfuschte Leben unheilvoll mit den Erscheinungen mischen, die ihn im gar nicht so „Glücklichen Eck“, der alten McBride-Farm, heimsuchen.

Was macht einen Geist aus?

Dales Visionen scheinen seinem eigenen, verwirrten Hirn zu entspringen. Doch so einfach ist es nicht. Dale gewinnt einen unerwarteten Helfer: Duane McBride. Auch hier sorgt Simmons für Überraschungen. Wer oder was ist dieser Duane? Dieser weiß es nicht einmal selbst. Als Geist sieht er sich nicht, und er weiß nichts vom Leben nach dem Tod. So kommt er zu dem Schluss, ein Gedankensplitter des einstigen Duane zu sein, der in Dales Erinnerungen fortexistieren konnte. Seither ist er Gast im Hirn seines Freundes und nimmt an dessen Leben teil. Darüber ist er selbst erwachsen geworden, obwohl er sich weiterhin als den Elfjährigen sieht, der 1960 zu Tode kam.

Was sind Geister? Dan Simmons entscheidet sich für eine klassische Erklärung: Es sind die Seelen Verstorbener, denen der Übergang ins Jenseits misslingt, weil Zorn und Schmerz, resultierend aus einem im Leben ungelösten Konflikt, sie im Diesseits zurückhalten, wo sie ihre Frustration auch an Unschuldigen auslassen. Simmons wirft literarische Nebelbomben, indem er sich explizit (und womöglich ein wenig plakativ) auf einen frühen Meister der psychologischen Gespenstergeschichte bezieht: Henry James (1843-1916) schrieb 1909 „The Jolly Corner“ (dt. „Die Geschichte vom Glücklichen Eck“), eine Story, die den Protagonisten sich selbst als Geist und Spiegelung seiner unschönen Wesenszüge begegnen lässt. So ergeht es auch Dale Stewart, der in ‚seinem‘ Glücklichen Eck Dinge über sich lernen muss, die ihm lieber unbekannt geblieben wären. Krankheit und Heimsuchung verschärfen die Wirkung seiner Selbsterkenntnisse, bis sie ihn neuerlich und dieses Mal beinahe endgültig umbringen.

So also spukt es in Elm Haven – anders, als sich der Leser das vorstellt. Simmons lässt sich nicht festnageln. Eine simple Fortsetzung des Geschehens aus „Sommer der Nacht“ wäre möglich und die einfache Lösung gewesen. Die Kritik nennt „Im Auge des Winters“ keines der ‚guten‘ Simmons-Werke, hebt aber seine Unterhaltsamkeit hervor. In der Tat fehlt diesem Werk die Opulenz anderer Romane dieses Autors. Hier will er ‚nur‘ eine schlichte, kammerspielartige Geistergeschichte erzählen. Mag „Im Auge des Winters“ vielleicht nur Mittelmaß sein, so ist es Simmons-Mittelmaß und damit den meisten Grusel-Garnen noch turmhoch überlegen.

Autor

Dan Simmons wurde 1948 in Peoria, Illinois, geboren. Er studierte Englisch und wurde 1971 Lehrer; diesen Beruf übte er 18 Jahre aus. In diesem Rahmen leitete er eine Schreibschule; noch heute ist er gern gesehener Gastdozent auf einschlägigen Workshops für Jugendliche und Erwachsene.

Als Schriftsteller ist Simmons seit 1982 tätig. Fünf Jahre später wurde er vom Amateur zum Profi – und zum zuverlässigen Lieferanten unterhaltsamer Pageturner. Simmons ist vielseitig, lässt sich in keine Schublade stecken, versucht sich immer wieder in neuen Genres, gewinnt dem Bekannten ungewöhnliche Seiten ab.

Über Leben und Werk von Dan Simmons informiert diese schön gestaltete Website.

Taschenbuch: 397 Seiten
Originaltitel: A Winter Haunting (New York : William Morrow 2002)
Übersetzung: Friedrich Mader
http://www.heyne-verlag.de

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