Bruce Sterling – A Good Old-fashioned Future. Erzählungen

Bruce Sterling als Schocker und Unterhalter

Sterling ist fast der einzige amerikanische Science-Fiction-Schriftsteller, der sich mit der aktuellen (!) Welt außerhalb seines Landes befasst, und zwar nicht romatisierend oder verklärend, sondern satirisch und kritisch analysierend. Das klingt nun, als ob Sterling ein großer Theoretiker sei. Mitnichten! Ebenso wie sein Bruder im Geiste William Gibson in „Virtual Light“ und „Idoru“, so vermag Sterling seine Visionen und Kommentare in rasante Handlung und lebendige Charaktere zu gießen. Bei diesen Erzählungen, die 1993 bis 1998 erschienen, bleibt so manchem Kollegen – und auch dem unvorbereiteten Leser – die Spucke weg.

Der Autor

Bruce Sterling war der eigentliche Wortführer („Vincent Omniaveritas“) des Cyberpunk und neben William Gibson und Walter Jon Williams der wichtigste Autor dieser postmodernen Richtung der Science-Fiction. Seine Anthologie „Mirrorshades“ (dt. als „Spiegelschatten“, bei Heyne als Nr. 06/4544 erschienen) setzte seinerzeit Maßstäbe. Sie gilt als die beste und wichtigste Anthologie der achtziger Jahre.

Er hat Artikel für die Magazine Wired, Newsweek, Fortune, Harper’s, Details und Whole Earth Review geschrieben. Den Hugo Gernsback Award für die beste Science Fiction-Novelle gewann er gleich zweimal, u.a. für „Taklamakan“. Er lebt in der Universitäts- und Industriestadt Austin in Texas und hat schon mehrmals Deutschland besucht. Eine seine Stories spielt in Köln und Düsseldorf.

Die Erzählungen

Sterlings Helden bewegen sich in einer unübersichtlichen Welt, der schon lange die Puste ausgegangen ist. Resteverwertung ist angesagt: Reste von Unternehmergeist, von Moral, Kultur, traditionellen Standards. Seine Helden und Heldinnen kämpfen im letzten Graben, um noch einen Rest von Würde, Individualität und Menschlichkeit zu bewahren nicht immer erfolgreich, aber immerhin.

1) Maneki Neko

Ein Geschäftsmann in einer japanischen Stadt nimmt Befehle entgegen von einer sprechenden Plüschkatze, der Maneki Neko, während er dem Abenteuer seines Lebens folgt: Eine amerikanische Unternehmerin will ihn ausbooten, doch das Netz der unsichtbaren Maneki-Neko-Kontakte beschützt ihn.

Was zunächst wie die Herrschaft des puren Zufalls aussieht, erscheint am Schluss wie ein Agententhriller, dessen Drahtzieher stets im Online-Hintergrund bleiben. Witzig, aber beunruhigend.

2) Big Jelly (zusammen mit Rudy Rucker verfasst)

Ein texanischer Ölmilliardär hat zu viel Dreck in seinem Bohrloch. Mit Hilfe der modernen Molekularbiologie und Gentechnik verwandelt er den Dreck in künstliche Quallen. Nun braucht man diese speziellen Quallen nur noch in bestimmte witzige Gestalt zu programmieren, und schon könnte man sowohl im Öl- als auch im Entertainmentgeschäft ein Vermögen machen. Als er sich mit einem ziemlich naiven, aber skrupellosen Genetiker im Silicon Valley zusammentut, steht dem ökologischen Wahnsinn nichts mehr im Wege…

Mein Eindruck

Eine höchst vergnügliche Tour de force von zwei gleichermaßen verrückten Meistern des Genres. Besonders satirisch: der Auftritt einer Unternehmensberaterin köstlich. Hier nimmt Sterling den Goldgräbergeist des Silicon Valley richtig auf die Schippe.

3) The Littlest Jackal

Ein echter Schocker! Einer der Terroristenveteranen aus den 70ern will auf den Aland-Inseln zwischen Schweden und Finnland einen autonomen Staat errichten und dafür die 25.000 Bewohner kidnappen. Er nennt sich der Raf der Schakal. Die anarchistische finnische Terroristin Aino ist der „kleine Schakal“, sie schreckt ebenfalls vor keinem Mord zurück. Und Leggy Starlitz aus Tokio will zwischen russischer Mafia, japanischer Medienindustrie und finnischen Hackern sowohl ein Geldwäsche- als auch ein Literatur-Ding abziehen. Als die Sache den Bach runtergeht, seilt Starlitz sich ab.

Mein Eindruck

Hier zieht Sterling alle Register, um ein aus den Fugen geratenes Europa zu porträtieren, das Terroristen und Gangstern einen idealen Nährboden bietet, um Menschenhandel und andere krumme Dinger durchzuziehen. Ein paar sehr ätzende Kommentare auf die 90er Jahre spiegeln die Desillusionierung eines Autors wider, der der Zeit den Puls fühlt. (Leggy Starlitz taucht im Roman „Zeitgeist“ wieder auf.)

4) Sacred Cow

Ein indischer Filmemacher der übelsten Sorte tourt durch ein heruntergekommenes Britannien des 21. Jahrhunderts, um einen Schmachtfetzen nach dem anderen herunterzukurbeln. Die Ex-Kolonie leistet Entwicklungshilfe und der einstige Herrscher liefert die Kulisse. Etwas unausgegoren. Man muss wohl Bollywood etwas näher kennen, um die Aussage zu würdigen.

5) Deep Eddy

Eddy arbeitet im Jahr 2037 in Chattanooga, Tennessee, in der Spexware-Industrie. Spexware, das ist die elektronische Aufrüstung von Spezialbrillen: Infrarot zum Beispiel, Ultraviolett, oder Signaturen alles lässt sich sichtbar machen, z.B. eingebaute Stadtpläne und Übersetzungen des gesprochenen Wortes.

Nun schickt ihn seine Interessengemeinschaft für den freien Gebrauch der modernen Technologie nach Düsseldorf, um dem Cultural Critic das Buch „Masse und Macht“ von Elias Canetti zurückzubringen. Eine nette Bodyguard namens ‚Sardelle‘ nimmt ihn in Empfang. Leider steht eine „Wende“ bevor, da ein Länderspiel zwischen England und Irland ansteht.

Nicht nur Hooligans, sondern auch Anarchisten Randalierer nutzen die Gelegenheit, die Straße zu ihrem Schlachtfeld zu machen: die „Wende“, die in Leipzig noch einen Aufstand des Volkes bedeutete („Wir sind das Volk“) erscheint nun pervertiert als sinnlose Randale. Doch der Cultural Critic hat einen Gegner, den Moral Referee. Und so kommt, was kommen muss: Unser armer Eddy gerät zwischen die Fronten, als des Referees Ritter die Burg des Critic stürmen…

Hier werden keine Deutschen auf die Schippe genommen, sie sind Sterling sehr sympathisch, sondern der Intellektualismus Europas wird der Tatkraft der Amerikaner gegenübergestellt.

6) Bicycle Repairman

Auch hier kommt Deep Eddy vor, allerdings nur am Rande – als netter Kumpel von Lyle in Chattanooga. Eddy hat ihm ein Dekodiergerät, eine Set-top-Box aus Europa geschickt, mit der er TV-Sendungen ganz speziell dekodieren kann. Eines Nachts bekommt der sympathische Fahrradmechaniker unerwünschten Besuch von der Geheimtruppe eines Senators der Rechten. Zum Glück hat er Abwehrfallen in seiner Wohnung/Werkstatt eingebaut und ein paar Freunde, die ihm helfen.

Sehr kurzweiliges Zeitporträt in einer heruntergekommenen Stadtkern-Pennerkolonie, die auf einmal Bedeutung erlangt. Die deutsche Übersetzung findet sich in dem Jeschke-Anthologieband „Winterfliegen“, der 1999 im Heyne-Verlag erschien.

7) Taklamakan

Um 2040 herum haben sich die drei Wirtschaftsblöcke Europa, NAFTA (Nordamerika) und die asiatische „Sphäre“ gebildet. Der Rest gehört zum „Süden“ und wird unter den drei Blöcken aufgeteilt. China, auf dessen historischem Boden die Wüste Taklamakan, der Schauplatz der Story, liegt, ist nicht mehr kommunistisch. Aber die Roten haben hier ein Erbstück hinterlassen, hier, wo sie ihre Atombombentests durchzuführen pflegten…

Spider Pete kommt auch aus Chattanooga. Er kennt Lyle, den Fahrradmechaniker gut. Pete mag ein wenig verrückt sein, aber er ist auch Geheimagent für Washington, D.C. Genau wie seine jüngere Kollegin Katrinko. Das heißt, sie ist geschlechtslos, weil sie sich die entsprechenden Organe hat entfernen lassen. Nun stoßen die beiden mehrere Kuppeln hinter einer hohen Mauer.

Mit ihrer Spezialkletterausrüstung überwinden sie die Mauer, finden drei schon lange tote Asiaten und dringen in eine der Kuppeln ein. Tief im Untergrund stoßen sie auf drei Raumschiffe und zahllose biomechanische Roboter, die sie angreifen: ein gesellschaftliches Experiment der Kommunisten, bewacht von Robotern. Denn in zweien der drei Schiffe finden Pete und Trink intakte Gesellschaften vor: Bauern im einen, städtische Händler im zweiten. Das dritte ist unheimlich still. Da beschließen Pete und Trink, die Städter rauszulassen…

Mein Eindruck

Die Handlung und das Ausmaß der Implikationen der Erkenntnisse eskaliert in rasender Geschwindigkeit. Am Schluss ist die Erbschaft der Vergangenheit, der Ausbruch der Roboter nicht mehr aufzuhalten. Eine preisgekrönte Story, die 1999 zu Recht den HUGO Award erhielt. Die Übersetzung wurde in Folge 54 des „Isaac Asimov’s Science Fiction Magazin“ (Heyne, 2000) veröffentlicht.

Unterm Strich

Dies ist wahrscheinlich eine der wichtigsten SF-Storysammlungen der neunziger Jahre. Man sollte die Texte, die 1993-1998 erschienen, kennen. Allein schon, um mitreden zu können. Wenn nicht auch, um sich hervorragend unterhalten und nachdenklich machen zu lassen. Jede Story bleibt in der Erinnerung haften keine Eintagsfliegen. Leider ist sie bis heute unübersetzt.

Taschenbuch: 280 Seiten
Sprache: Englisch
Originaltitel: A Good Old-fashioned Future
ISBN-13: 978-1857987102

http://www.randomhousebooks.com/

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