Titus Müller – Der letzte Auftrag (Die Spionin 03)

Berlin, 1989. Ria Nachtmann hat ihre große Liebe geheiratet und sich als Spionin zur Ruhe gesetzt. Ihre Tochter Annie verfolgt derweil einen gewagten Plan: Sie will eine Doku des DDR-Widerstands drehen und sie in den Westen schmuggeln. Als sie und ihr Freund Michael dabei versehentlich zwei Männer einer KGB-Geheimoperation filmen, gerät alles außer Kontrolle. Der in Dresden stationierte russische Agent Wladimir Putin hängt sich an ihre Fersen. Mutter und Tochter stehen bald zwischen allen Fronten und müssen erkennen, dass es um nichts weniger geht als um den Sturz der DDR-Regierung und die Zukunft Deutschlands. (Verlagsinfo)

Der Autor

Titus Müller studierte Literatur, Geschichtswissenschaften und Publizistik. Mit 21 Jahren gründete er die Literaturzeitschrift »Federwelt« und veröffentlichte seither mehr als ein Dutzend Romane. Er lebt mit seiner Familie in Landshut, ist Mitglied des PEN-Clubs und wurde u.a. mit dem C.S. Lewis-Preis und dem Homer-Preis ausgezeichnet. Seine Trilogie um »Die fremde Spionin« brachte ihn auf die SPIEGEL-Bestsellerliste und wird auch von Geheimdienstinsidern gelobt. (Verlagsinfo) Mehr Info: www.titusmueller.de.

Die Spionin-Trilogie

1 Die fremde Spionin (anno 1961)
2 Das zweite Geheimnis (anno 1973)
3 Der letzte Auftrag (anno 1989)

Weitere Romane

Der Kalligraph des Bischofs. 2002, ISBN 3-7466-1856-8
Die Priestertochter. 2003, ISBN 3-7466-1990-4
Die Brillenmacherin. 2005, ISBN 3-352-00717-9
Die Todgeweihte. 2005, ISBN 3-7466-2180-1
Die Siedler von Vulgata. 2006, ISBN 3-86506-140-0
Das Mysterium. 2007, ISBN 3-352-00748-9
Die Jesuitin von Lissabon. 2010, ISBN 3-352-00782-9
Tanz unter Sternen. 2011, ISBN 978-3-89667-456-2
Der Kuss des Feindes. 2012, ISBN 978-3-596-85445-5
Nachtauge. 2013, ISBN 978-3-89667-458-6
Berlin Feuerland. 2015, ISBN 978-3-89667-503-3
Der Tag X. 2017, ISBN 978-3-89667-504-0
Die goldenen Jahre des Franz Tausend. 2020, ISBN 978-3-89667-617-7
Die fremde Spionin. 2021, ISBN 978-3-453-44125-5
Das zweite Geheimnis. 2022, ISBN 978-3-453-44126-2
Der letzte Auftrag. 2023, ISBN 978-3-453-44127-9

Handlung

Vorgeschichte zu Ria und Annie Nachtmann in den Worten des Autors:

Die Vorgeschichte zu Ria und Annie Nachtmann in den Worten des Autors: „Ria ist zu Beginn zwanzig und lebt ein scheinbar angepasstes Leben. Aber was man ihrer Familie angetan hat, lässt ihr keine Ruhe. Als der Bundesnachrichtendienst sie anspricht, beginnt sie, ihren Vorgesetzten Alexander Schalck[-Golodkowski] auszuspionieren. Die Welt der Geheimdienste ist ihr allerdings fremd. Wenn sie überleben will, muss sie schnell lernen, sich darin zurechtzufinden. Im Laufe der Romane begreift sie, dass sie sich auch ihrer eigenen Schuld stellen muss, und sucht die Versöhnung mit ihrer Tochter.

Annie [Temme] lernen wir als Vierjährige kennen, später als DDR-Leistungssportlerin. Auch ihr Leben bleibt nicht unbehelligt: Sie fliegt von der Sportschule und wird von den Wettkämpfen ausgeschlossen. (Band 3:) Annie tut sich mit einem Dokumentarfilmer namens Michael zusammen und beginnt, im Friedenskreis gegen die Wahlfälschungen in der DDR aufzubegehren. Tief verwundet, wie sie ist, sucht sie ihre Sicherheit in der Liebe. Es dauert einige Zeit, bis ihr klar wird, dass es da etwas in ihr drin aufzuräumen gibt, das sie nicht an den Geliebten delegieren kann.“

Annie hat eine genial-verrückte Idee: Man müsste die Widerstandsbewegung in der DDR auf Video dokumentieren. Leichter gesagt als getan. Ihr Freund Michael, der mit Franziska ein Kind hat, leidet unter dem Berufsverbot, mit dem ihn die DDR-Bürokratie nach seinem Protest gegen den offenkundigen Wahlbetrug im Mai belegt hat. Er darf nicht filmen und muss laufend Repressalien erdulden.

Also muss die nötige Kamera aus dem Westen kommen, und dort kennt Annie nur ihre Mutter Ria. Glücklicherweise ist Rias Freund ein weithin bekannter Journalist, der auch nach Ostdeutschland einreisen darf. In Ostberlin gelingt vor der Nase der Stasi-Beobachter die Übergabe des kleinen Camcorders, und Annie geht damit zu Michael. Zusammen fahren sie nach Dresden, dem Unruheherd jener Republik, die im Herbst ihren 40. Geburtstag feiern will.

Wladimir Putin, KGB

Der Autor über seine Putin-Figur: „Er ist arm [in St. Petersburg/Leningrad] aufgewachsen, seine Geschwister starben im Kindesalter. Mit 32 Jahren kam er nach Dresden, seine Frau kam nach, schwanger mit der zweiten Tochter. Eine junge Familie im Ausland, mit einer schwierigen Aufgabe. Aber dieselbe Geschichte lässt sich auch anders beginnen: Schon als Schüler bewarb er sich beim KGB, und während seiner fünf Jahre in Dresden wurde er zweimal befördert, erst zum Major, dann zum Oberstleutnant, ein untypisch schnelles Emporsteigen auf der Karriereleiter.

Seine Arbeit für die Verwaltung „S“ (Verdeckte Aufklärung) versucht er inzwischen zu verschleiern, und auch die „Operation Strahl“ ***wird kleingeredet. Von den fünf KGB-Offizieren, die mit ihm in Dresden stationiert waren, arbeiten heute drei als hohe Kader in seinem engsten Umfeld, darunter der oberste Waffenproduzent des Landes.“

*** Operation Strahl: Weil das Ende der DDR 1989 nach Gorbatschows Machtübernahme in der UdSSR schon abzusehen ist, baut der KGB mit Wissen der Stasi-Führung heimlich einen Kader von linientreuen Personen auf, die nach dem Untergang weiterhin für den KGB arbeiten sollen, quasi eine „Operation Werwolf“ aus dem Osten. Doch Operation Strahl hat eine zweite Komponente, in die nur oberste Ebenen in KGB und Stasi eingeweiht werden können. Es geht um die Verschiebung von Milliardenwerten.

Sascha Gandorin, KGB

Sascha Gandorin ist Wladimir Putins Kollege und arbeitet in Dresden als KGB-Agent. Ursprünglich aus dem armen Kaliningrad/Königsberg stammend, arbeitet er zunächst linientreu, doch dass Genosse Putin binnen kürzester Zeit und mit Genehmigung der Stasi den Überflug hinlegt und Oberstleutnant wird, macht ihn misstrauisch. In einem schwachen Augenblick spürt er Putin nach, durchsucht und fotografiert dessen Arbeitsbuch. Was mag wohl „Operation Strahl“ sein? Seinerseits versucht Putin ihn auszuhorchen, indem er Freundschaft vortäuscht. Alte Psychoschule: Stets ein Quäntchen mehr Info über Freund und Feind erhalten, um schließlich die Oberhand zu behalten.

Sascha tätigt einen Anruf zuviel beim KGB, schon tauchen zwei Agenten auf, um ihn einzusacken. Ihm gelingt die Flucht, die ihn zunächst in die vielen Schrebergärten von Berlin-Pankow führt. Doch als er dort aufgespürt wird, erschießt er mit seiner Dienstwaffe die Agentin und ersticht mit einer Pflanzkelle den zweiten Agenten. Er schafft es gerade noch zu den nahen Eisenbahngleisen.

Der Zug, auf den er aufspringen kann, soll über Dresden an die Grenze zu CSSR fahren, wo gerade der Teufel los ist: Alle wollen raus, seit in der Prager Botschaft Hans-Dietrich Genscher die Ausreise der Botschaftsbesetzer genehmigt bekommen hat. Doch jetzt, wenige Septembertage später, kommt keiner mehr ohne Visum raus. In Dresden wird die Lage explosiv…

Geheimtreffen

Putin trifft sich morgens im Dresdner Stadtpark mit dem Kollegen Timtschenko und dem Stasi-Mann Matthias Warnig, um „Operation Strahl“ in Gang zu bringen. Warnig hat das nötige Agentennetz in der BRD, und Timtschenko sitzt an der Quelle des Reichtums, mit dem sie drei sowie Putins Mann in Moskau reich werden wollen: Öl aus der UdSSR sowie Unmengen von Edelmetall, auf denen das russische Militär sitzt. Timtschenko soll nicht nur verkaufen, sondern auch eine schwarze Kasse führen. Er muss besonders überredet werden.

Die Jagd beginnt

Hier geht es um Milliarden, und als Putin in der vorüberfahrenden Tram ein Pärchen sitzen sieht, das anscheinend eine Kameralinse auf ihn richtet, wird er zornig. Oppositionelle in der Stadt! Er muss das Band haben, um ein Sicherheitsrisiko auszuschalten. Die Tram fährt zum Hauptbahnhof, wo die Bürger von Volkspolizisten schikaniert werden. Der Mann des Pärchens liegt auf dem Boden, doch das Mädchen ist mit der Kamera entkommen.

Putin zeigt überall, wo es nötig ist, seinen KGB-Ausweis vor. Das Glück ist ihm hold: Sascha Gandorin ist festgesetzt worden. Weil Sascha weiß, dass Putin weiß, dass Gandorin wegen Verrats und Doppelmordes auf der Todesliste des KGB steht, kann er ihm ein verlockendes Angebot machen: sein Leben gegen das Filmband, das das Mädchen dabei hat. Gandorin soll den beiden Oppositionellen und dem Band bis zum Übergabepunkt in Ostberlin folgen, um das Band sicherstellen, der Rest ergebe sich.

Sascha Gandorin sieht endlich Licht am Ende des Tunnels. Er weiß, dass Putin lügt: Sascha wird niemals von der Todesliste gestrichen werden. Denn Verrat und Mord werden nicht geduldet. Dafür bietet das Filmband, das Putin offensichtlich begehrt, einen Schwachpunkt in Putins Rüstung: Sascha kann sich damit freikaufen und in den Westen rübermachen. Wenn er lebend dort ankommt…

Mein Eindruck

Wer nun einen gediegenen Thriller vom Kaliber eines John le Carré erwartet, wird ein wenig enttäuscht werden. So hoch sind die Ambitionen und Fähigkeiten des Autors nicht. Aber es geht auch eine Nummer kleiner: KGB, Stasi und BND arbeiten an der sich entwickelnden Katastrophe, als die DDR in den eigenen Untergang taumelt.

Während sich Annie und Michael über einander ins Reine kommen, gelingt es den Agenten aus dem Westen, einen Fluchtweg für Annie, Sascha und das kostbare Videoband zu arrangieren. Opfer werden gebracht, die sich vor der Drohkulisse des Hintergrunds durchaus rechtfertigen lassen. Annies und Sachas Flucht hat ein reales Vorbild, das der Autor in seinem umfangreichen Anhang schildert.

Annies Zielort ist natürlich das Haus, in dem ihre Mutter wohnt. Und dort erwartet, wie sie wohl weiß, ein Martyrium seelischer Zumutungen, welche sich nur in langen Gesprächen mit ihrer Mutter tränenreich bewältigen lassen. Von Sascha lesen wir indes überraschend wenig. Irgendwann verliert sich sein Lebensfaden. Das fand ich enttäuschend.

Das Bild, das der Autor von der DDR im Endstadium zeichnet, ist sehr differenziert, ausgewogen und detailreich gestaltet. Anhand der angehängten Bibliografie kann jeder nachprüfen, was er hier wiedergibt. Sie sind etwa zahlreiche Details über Putins Biografie verbürgt. Putin ist eine wichtige Figur in der Handlung, denn er ist Annies und Saschas Widersacher schlechthin: Wo immer er seinen KGB-Ausweis zeigt, öffnen sich ihm die Türen. Das belegt, dass die DDR in Wahrheit ein besetztes Land war: die Sowjetische Besatzungszone SBZ hörte nie auf zu existieren, sie wurde nur umfirmiert.

Der Untergang

Das letzte Viertel befasst sich weniger mit Annie, Sascha und Michael als vielmehr mit der Frage, wer denn nun letzten Endes für den Untergang der DDR verantwortlich gemacht werden muss. Waren es die vergreisten Parteibonzen der SED, die paranoiden Agenten der Stasi, die „Rowdys“ von der Freiheitsbewegung oder doch der Einfluss der West-Medien? Oder alle zusammen? Wahrscheinlich letzteres, denn ohne Kenntnis des Lebensstandards im Westen hätten die Ossis nicht gewusst, was ihnen entging und was ihnen eigentlich zustand: Freiheit der Wahl, wie und wo sie leben wollten.

Sie stimmten mit den Füßen ab, zuerst am Grenzübergang Ungarn-Österreich, dann in der deutschen Botschaft in Prag, schließlich auf der Straße: Dresden, Leipzig, Berlin. Der Autor entschuldigt sich im Anhang dafür, dass er den Marsch des Volkes in Leipzig, der durch Videos bestens dokumentiert ist, völlig unter den Tisch fallen lässt.

Dafür stellt er die Geschehnisse, die sich in der Innenstadt von Dresden zutrugen – und die Annie filmte -, in den Vordergrund. Auf diese Weise kann er die Lebensfäden von Annie, Michael, Putin und Sascha miteinander verknüpfen – eine dramatische Zuspitzung, die auch einem historischen Roman gut bekommt, denn sie fördert die Spannung. Diese Spannung lässt nach Annies Republikflucht rasch nach, wodurch das letzte Viertel einen ganz anderen Eindruck hinterlässt.

Textschwächen

S. 35: Der Song „The first cut is the deepest” soll nicht von Rod Stewart, sondern von Cat Stevens stammen. Das ist völlig korrekt, wie ein Blick in die englische Wikipedia ((https://en.wikipedia.org/wiki/The_First_Cut_Is_the_Deepest) belegt. Der Song wurde erstmals von Cat Stevens, dann von P.P. Arnold und schließlich von Stewart interpretiert. Es gibt derzeit 68 Cover-Versionen.

S. 96: „mit den praktische[n] Übungen in Beschattung…“: Das N fehlt.

S. 368: „agena-Ausenhandelsvertretungen“: Es müsste „Außenhandelsvertretungen“ heißen.

Dem Buch ist eine Europakarte vorangestellt, in die der Eiserne Vorhang unübersehbar eingezeichnet ist. Zwischen beiden Machtblöcken in West und Ost erstreckt sich eine Zone der Blockfreien: Schweiz, Liechtenstein, Österreich und erstaunlicherweise auch Jugoslawien.

Unterm Strich

Vierhundert Seiten sind nicht viel Raum, um drei verschiedenen Handlungsfäden den nötigen Spielraum geben zu können, die sich mit der nötigen Tiefe entfalten sollen. Deshalb sind die Sätze kurz, die Szenen laufen in rascher Folge ab wie ein YouTube-Video, die Akteure wechseln wie in einer cineastischen Montage. So liest man offenbar heute, und das gilt anscheinend auch für historische Romane. Eine Romanze zwischen Drama und Doku – das ist eine Gratwanderung.

Irres Endstadium

Es gilt jedoch ein weites Panorama zu pinseln: ein ganzer Staat befindet sich am Abgrund des Untergangs. Zunächst sind die Töne des Widerstands leise, so etwa bei der Anfechtung der letzten „freien“ Wahl, dann folgt eine Welle des Protests, schließlich die „Abstimmung mit den Füßen“, bis es zu Volksaufmärschen kommt: Wird die Stasi, die NVA-Armee, der KGB diesen Widerstand gewaltsam niederschlagen, fragt sich der Leser? Und die Antwort lautet: „Ja,“ sie werden. Alle Einheiten sind bereits unterwegs an die Brennpunkte, als Parteisekretär Günter Schabowski der zweite entscheidende Fehler (nach den veröffentlichten Falschmeldungen über das Wahlergebnis im Mai) unterläuft: „Meiner Auffassung nach gilt das sofort, unverzüglich“ – die Ausreisegenehmigung für ALLE nämlich.

Spannender und irrsinniger kann Geschichte kaum verlaufen, und deshalb darf sich der Autor wohl auch die Freiheit nehmen, das Ende der Parteibonzen und -gänger summarisch nachzuzeichnen. Selbst die Vernehmung Schalck-Golodkowskis durch Ria Nachtmann, den BND und die CIA fand ich nicht mehr so prickelnd. Befriedigend war die Erwähnung der „Roten Fini“ aus Wien, über deren lukrative Vermittlung zwischen West-Konzernen und DDR eine erhellende Doku gedreht worden ist. (Sie starb übrigens ganz friedlich und in Freiheit.)

Solch ein Überblick hat jedoch wenig an Dramatik aufzuweisen. Es gibt keine Zuspitzung mehr, sondern alles versandet. Eine Erwähnung der „Operation Rosenholz“, bei der die CIA die Stasi-Archive durchfilzte, um ihre eigenen eingeschleusten Agenten vor der Enttarnung zu schützen, sucht man ebenso vergeblich wie die Geschichte, wie es mit der „Operation Strahl“ weiterging. Immerhin wird einiges im Anhang aufgearbeitet.

Aber ich hätte mir sehr ein Finale à la John le Carré gewünscht. Wohl auch für den Autor kommt der Erfolg der SPIONIN-Trilogie etwas unerwartet. Man darf daher auf ähnliche Erfolge hoffen. Wie gesagt: 400 Seiten sind eine ziemlich kleine Spielwiese für ein derart geschichtsträchtiges Panorama. Da geht noch was!

Taschenbuch: 398 Seiten.
ISBN 9783453441279

www.heyne.de

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