Ian McDonald – Kirinja. SF-Roman

Die Chaga-Welt: Frauen als Agenten des Wandels

„In der Nacht des 22. Dezember 2032 hörte das Universum, wie wir es kennen, auf zu existieren: Die Menschheit hat es nur noch nicht bemerkt…“ (Verlagsinfo) Die Fortsetzung von Ian McDonalds SF-Klassiker „Chaga oder Das Ufer der Evolution“ spielt 15 Jahre nach jenen Ereignissen, in denen die halbe Welt unter der außerirdischen Vegetation der Chaga begraben wurde. Die irische Exreporterin Gaby McAslan tritt ebenso wieder auf wie die sibirische Pilotin und Schamanin Oksana Michalowna.

Eine Hauptrolle spielt natürlich die Chaga sowie die menschlichen Staaten, die sich darin entwickelt haben: die Harambee. Chaga-Technologie hat sich global verbreitet, und das weckt Begehrlichkeiten. Über allem schwebt jedoch das Große Dumme Objekt (GDO), und immer wieder schaut Gaby McAslan hinauf zu den Ringen des Saturn: Dort oben ist im GDO Shepard, der Vater ihrer Tochter Serena, verschwunden. Eines Tages werden sie oder Serena dort nachschauen…

Der Autor

Der 1960 geborene Nordire Ian McDonald schreibt seit 1982 erfolgreich Science Fiction und Fantasy. In „Rebellin des Glücks“ („Out on blue six“, 1989) ist McDonald in diesem, seinem zweiten Roman noch reichlich epigonal, ebenso wie in Roman Nr. 1 – „Straße der Verlassenheit“ (Desolation Road, 1988; dt. bei Bastei) und Nr. 4, „Herzen, Hände und Stimmen“ (Hearts, Hands and Voices, 1992; dt. bei Heyne als Nr. 06/5009, 1993).

Lediglich der Fantasyroman „King of Morning, Queen of Day“ (1991, dt. bei Bastei-Lübbe) ist völlig eigenständig gelungen, ähnlich wie seine jüngsten Erfolge „Chaga oder das Ufer der Evolution“ (Evolution’s Shore, 1995) und dessen Fortsetzung „Kirinja“ (1998, dt. 2000). Seine letzten bei uns veröffentlichten Romane waren „Narrenopfer“ (Sacrifice of Fools, 1996, Heyne Nr. 06/5981, 11/1998) und „Necroville“ (1994, Heyne 1996 als Nr. 06/5461).

Der Roman „Chaga“ beruht auf McDonalds Novelle mit dem Titel „Towards Kilimanjaro“ („Zum Kilimandscharo“), die bereits 1990 erschien – bei Heyne erst in Band 06/4991, dem „SF Jahresband 1993“. Wem „Chaga“ und dessen Fortsetzung „Kirinja“ gefallen haben, der sollte auch den Kurzroman „Tendeléos Geschichte“ lesen, die in der Anthologie „Unendliche Grenzen“ von Peter Crowther enthalten ist (Bastei-Lübbe, 2002). Tendeléo erzählt vom Chaga in den Jahren 2010 bis 2015, bildet also eine Brücke zwischen den Ereignissen in „Chaga“ und denen in „Kirinja“.

Werke (Auswahl)

1) Straße der Verlassenheit (Desolation Road, 1988, , dt. bei Bastei-Lübbe 1991)
2) Rebellin des Glücks (Out on blue six , 1989, dt. bei Bastei-Lübbe)
3) König der Dämmerung, Königin des Lichts (King of Morning, Queen of Day, 1991, dt. bei Bastei-Lübbe)
4) Herzen, Hände und Stimmen (Hearts, Hands and Voices, 1992, dt. 1993 bei Heyne )
5) Schere schneidet Papier wickelt Stein (1993, dt. 1994 bei Heyne)
6) Necroville (dito, in USA als „Terminal Café; 1994, dt. bei Heyne 1996)
7) Chaga oder das Ufer der Evolution (Chaga, 1995)
8) Narrenopfer (Sacrifice of Fools, 1996, dt. 1998)
9) Kirinja (Kirinya, 1998, Fortsetzung von „Chaga“, dt. 2000)
10) Cyberabad (dt. bei Heyne)
11) River of Gods
12) Luna: New Moon (dt. bei Heyne)
13) Luna: Wolf Moon (dt. bei Heyne)

Handlung

Man schreibt den 22. Dezember 2032. Gaby McAslan, die ehemalige SkyNet-Reporterin in Kenia (siehe „Chaga“) wiegt ihre neugeborene Tochter Serena am Meeresstrand, um den Sonnenaufgang zu bewundern. Das Universum hat sich in den letzten 24 Jahren dramatisch verändert, und sie sorgt sich um die Zukunft ihrer Tochter, die einen kleinen Teil des genverändernden Chaga-Materials in sich trägt. Unterdessen befindet sich Serenas Vater Shepard draußen in den Saturnringen beim Großen Dummen Objekt (GDO), denn Shepard ist ein Astronaut. Begierig verpasst Gaby daher keine der TV-Nachrichtensendungen, die vom GDO und den rätselhaften Vorgängen im Sonnensystem berichten.

Vor 24 Jahren tauchte das GDO in der Umlaufbahn des Saturn auf und begann dessen Monde zu zerstören, um gewisse Dinge herzustellen. Eines dieser Dinge ist ein neuer Mond für die Erde und einer für die Venus. Dann begann so etwas wie die Xenoformung der Erde: Sporenpakete fielen auf der ganzen Südhalbkugel vom Himmel, nisteten sich ein und begannen sich mit einer konstanten Geschwindigkeit von 50 Metern pro Tag auszubreiten. Gaby war als Augenzeugin dabei, als das Chaga, wie es weltweit genannt wird, Kenia unter sich begrub und die Millionenstädte Nairobi und Mombasa transformiert wurden. (Siehe dazu auch „Tendeléos Geschichte“, s.o..)

15 Jahre später

Doch die Chaga bedeutet keine Vernichtung des irdischen Lebens. Vielmehr hat die Chaga von den Menschen ebenso gelernt wie diese von ihr, und eine Verschmelzung, eine Symbiose hat stattgefunden. Dennoch bestehen die Nordstaaten der Welt darauf, dass die Chaga und alles was in ihr lebe der Feind sei. Sie schotten den Rand der Chaga ab und schießen jeden Grenzübertreter ab. Diese Ausgrenzung muss irgendwann ein Ende haben, weiß Gaby. Sie arbeitet bereits daran.

Oksana

Als Oksana Michalowna Teljanina, Gabys beste Freundin, zehn Jahre nach Serenas Geburt eine geheime Schmuggelmission für die im Exil befindliche kenianische Regierung annimmt, weiß sie, auf welches Risiko sie sich einlässt. Die Exilanten bauen etwas auf, das sie „Harambee“ nennen. Alle Rebellen sind ihre Feinde und sollen getötet werden. Tatsächlich wird Oksanas UNO-Flugzeug von Jagdflugzeugen mit Raketen beschossen. Sie steigt mit dem Fallschirm aus, ebenso ihre sechs Passagiere. Doch nur sie wird von den Jägern am Leben gelassen. Auf diese Weise landet sie in einem Dorf mitten in der Chaga, wo eine religiöse Gemeinschaft sie gesundpflegt. Mit dem Babylon-Bus will Oksana zurück zur Küste, um Gaby wiederzusehen. Es wird eine Odyssee durch ein stark verändertes Ostafrika, in dem Oksanas schamanische Kräfte wiedererwachen, gefördert durch die Nanotechnik des Chaga.

Gaby

Gaby McAslan vegetiert zunächst an der Küste dahin, narkotisiert von Drogenpflastern, ins politische Abseits manövriert, aber immerhin durch die Chaga-Nanos potentiell unsterblich. „Das ist schön, nicht?“, fragt sie ihre Freundin Oksana, die sich über Gaby wundert. Auch Gabys Tochter Serena ist von der Junkie-Neuausgabe ihrer Mutter nicht gerade begeistert. Denn Gaby hat zugelassen, dass ihr Lover „Diamanten-Jim“ sich an Serena vergehen konnte. Jim, der Gaby mit Drogen versorgt, wird von Oksana mit Todesdrohungen verjagt.

Gaby sehnt sich weiterhin nach Shepard, dem Vater ihrer Tochter. Doch der Astronaut ist seit 2014 im GDO verschollen. Das belegen seine letzten elektronischen Dokumente, die sie Oksana zeigt: Videos, ein Tagebuch, heimliche Mitschnitte usw. Das GDO ist seitdem fest in der Hand des amerikanischen Militärs: eine fremde Hohlwelt, in der afrikanisches und menschliches Leben aus vier Millionen Jahren konserviert ist. Und natürlich auch fremdweltliches, Chaga-basierendes Leben. Nachdem er zwei der fünf Kammern des GDO-Torus erforscht hatte und es zu Zwischenfällen kam, verschwand Shepard mit seinen engsten Mitarbeitern in Kammer vier.

Teil 2: „Zerbrechlich“

Gaby, Oksana und Serena sind wie so viele von der Chaga Berührte „Isopathen“, das heißt, sie sind durch die Nanoteilchen der Fullerene-Moleküle aus der Chaga geistig miteinander verbunden. Anders als Telepathen und Empathen nehmen sie nicht lediglich Gedanken oder lediglich Gefühle eines in der Nähe befindlichen Partners wahr, sondern dessen gesamte Wahrnehmung und Gefühlswelt – überall auf dem Planeten. Dieser Zusatzsinn verlangt nach einem Hilfsgehirn, um alle Eindrücke schnell verarbeiten zu können.

Gaby und Serena sind gerade beim Speerfischen, als ein unbekanntes Luftschiff landet. Es gehört der politischen Organisation Harambee, von der Oksana bereits gehört hat (s.o.) Es handelt sich um einen „Consensus“, einen Zusammenschluss von Interessengruppen. Gaby staunt, als sie Faraway Mugu, ihren früheren schwarzen Lover und Retter, wiedererkennt. Sie schließt ihn in die Arme. So fällt es ihr nicht allzu schwer, seiner Bitte zu folgen, mit ihm am Erfolg von Harambee an der ostafrikanischen Küste zu arbeiten. Denn das Königreich Madagaskar will diese herrenlosen Länder alle unterjochen.

Die Übergabe

Im Aldabra, einem Archipel von Korallenriffen, kommt es zur ersten, friedlichen Konfrontation zwischen den Agenten des Harambee und den Leuten aus Madagaskar, den Merina. Gaby und Serena haben viel Zeit, um die Interaktion der Merina mit den großen Walen zu beobachten. Sie erkennt, dass die Wale, die von der Chaga intelligent gemacht worden sind, Berechnungen anstellen und in ihrer Gesamtheit eine Art Analog-Computer darstellen. Die Interessensvertreter von Aldabra entscheiden sich für die Merina. Bevor Gaby & Co. abreisen, trifft sie sich heimlich mit einem Schamanen der Aldabraner. Sie gibt Constanz ein Kästchen mit geheimnisvollem Inhalt und er gibt ihr auch etwas. Aber was? Schon wenige Tage später windet sich Gabys Körper in schrecklichen Krämpfen. Sie ist auf kaltem Entzug…

Diamantflügel

Serena hält es nicht mehr bei Gaby aus. Soll sie etwa ihre eigene Mami bemuttern? Ausgeschlossen! Sie reist heimlich zu Oksana, die sie beinahe als vermeintlichen Einbrecher über den Haufen schießt. Oksana hat gerade eine große Sache am Laufen, illegal natürlich. Während Serena die internationale Schule besucht (eine seltsame und neue Erfahrung für sie), züchtet ein einheimischer Magnat namens Anansi (= Spinnengott) für Oksana ein Flugzeug aus gewachsenen Diamantkristallen, ein wahres Wunderwerk. Im Austausch bezahlt sie ihn mit Weisheiten aus ihrem Wissen als sibirische Schamanin. Kein schlechter Tausch, wie er findet. Die Analogien zwischen schamanischer Sprache und Nanotechnologie liegen für ihn auf der Hand: Beide verändern die Realität mit der Macht des Geistes.

Missionen

Oksana nimmt ihre Missionsfüge für den Harambee wieder auf. Serena kritisiert das, was sie tut und wessen Gehilfin sie wird, als „Gequatsche“. Reden, immer nur reden! Aber die Leute, die da miteinander reden, sind die Agenten des Harambee-Consensus und den UNHCR, also Leute aus dem Süden und Leute aus dem Norden. Geschichte wird geschrieben: Erstmals erkennen manche der Nordstaaten, vertreten durch das UN-Hilfswerk UNHCR, das Existenzrecht des südlichen Consensus an! Nur noch die USA, Russland sowie die Araber wollen den „Monstern“ südlich der Sahara eine Atombombe auf den Kopf werfen und sie niederbrennen.

Der Horror

Im Dorf Sotori soll ein weiterer Handel mit UNHCR, Rotem Kreuz, Rebellen und Harambee abgeschlossen werden. Oksana hat Serena wieder mitgenommen, um wie eine zweite Mutter auf sie aufzupassen und ihr die eine oder andere (illegale) Sache beizubringen. Während Oksana verhandelt, gerät Serena ins Dorf, wo viele Flüchtlinge ihr Herz rühren. Da hört sie auf einmal ein seltsames Brummen. Sie greift mit ihren Isopathensinnen aus, erhält aber kein Echo.

Mehrere Helikopter aus US-Produktion feuern mit US-Raketen auf die schutzlose Bevölkerung und die beiden NGO-Lager am Dorfrand! Alle geraten in Panik, und Serena muss sich durchkämpfen, um in der Menschenlawine nicht zertrampelt zu werden. Diamantene Messer von zehn Zentimetern Länge durchbohren menschliche Körper neben ihr. Da erreicht sie Oksanas dringender Hilferuf, und sie verschränkt ihre Isopathenwahrnehmung mit der von Oksana, um sie zu finden. Ein Jeep rauscht heran und gabelt sie auf, doch einer der Helikopter dreht um und nimmt sie ins Visier…

Teil 3: „AK47-Stunde“

Die Jägerin

Serena hat das Massaker von Sotori als einzige Weiße überlebt, und das auch nur, weil sich Oksana für sie opferte – und weil sie in einen der Betontunnel am Fluss flüchten konnte. Ihre Seele schmerzt, denn sie hat Oksanas letzte Lebensmomente hautnah geistig miterlebt. Als sie in den 12-Millionen-Moloch von Kirinja zurückkehrt, wirft sie ihr mentales Isopathennetz aus, um ihre Schulfreundin Sarah wiederzufinden. Doch die hat sich den Schwarzen Simbas angeschlossen. Von diesen Kriegern lässt sich Serena zur Jägerin ausbilden, im Tausch für ihr ganz besonderes Isopathenblut. Ihre Mission besteht nun darin, die Mörder von Sotori ihrer gerechten Strafe zuzuführen.

Doch genau damit kommt sie ihrer genesenen Mutter Gaby in die Quere, die sich Faraway Mugu, dem Botschafter des Harambee, angeschlossen hat. Eines Nachts beschließt Serena, ihre Mutter zu warnen…

Mein Eindruck

Serena gerät in Teufels Küche, weil sie als Isopathin lieber ihrem Gewissen als ihren Befehlen gehorcht. So vermasselt sie einen heiklen Auftrag als Hackerin in einer indischen IT-Firma. Nun wird sie selbst zu Gejagten. Nur die neue Mission der Merina-Staaten rettet sie vor ihrer gnadenlosen Jägerin: Sie soll mit einem Raumschiff zum GDO fliegen und dort ein ganz bestimmtes Chaga-Nanopaket abliefern.

Der nervenzerfetzende letzte Teil des Romans beschreibt die riskante Raummission der Merina-Leute: Serena ist mit ihrem lebendigen Raumschiff live verbunden, muss aber dennoch ständig mit ihren Crewmitgliedern und anderen Raumschiffen Kontakt halten. Da erhält sie die Nachricht, dass die Amerikaner auf Abfangkurs gehen und eine Abwehrfront am GDO aufgebaut haben. Nur weil sich Serena nicht an die „Regeln“ hält, sondern ihrer Intuition – danke, Oksana! – folgt, entgeht sie der Vernichtung, die alle anderen außer einem Begleitschiff ereilt. Doch im Inneren der Hohlwelt des GDO geht das Abenteuer erst richtig los…

Humane Politik durch Taten

Es ist die große Stärke des Nordiren Ian McDonald zu zeigen, wie einzelne Individuen – darunter viele Frauen – die Gesellschaft beeinflussen und das Schicksal der Menschheit verändern können. Gaby McAslan hat ihren Teil als Reporterin in der Chaga getan, nun ist ihre Tochter an der Reihe, etwas zu bewirken. Gaby versucht zwar als Botschafterin des Harambee-Consensus der Sudhalbkugel eine Stimme zu geben, doch es muss einen Verräter in den eigenen Reihen geben: Eine US-Journalistin stellt ihre Vergangenheit ebenso bloß wie die kriminelle Vergangenheit ihrer Tochter. Serena ist weitaus erfolgreicher, aber ob sie überlebt, darf hier nicht verraten werden.

Sozialer Wandel durch Wissen

Die zweite Stärke des Autors ist die Schilderung von Gesellschaften, die einen radikalen Umbruch durchlaufen. Dies ist das ureigenste Territorium, das die „Science Fiction“ bzw. „Speculative Fiction“ seit ihren Anfängen 1927 beackert: Sie zeigt unvoreingenommen, wie sich die Auswirkung äußerer Kräfte und neuen Wissens auf die inneren Strukturen einer Gesellschaft und Kultur auswirken. Während sich die Kulturen Afrikas und des Indischen Ozeans der Chaga-Technologie öffnen (es bleibt ihnen nichts anderes übrig), gehen die USA und ihren Alliierten wie etwa die Araber auf Konfrontationskurs.

Am klarsten zeigt sich dies im blutigen Kampf um die Oberherrschaft über das GDO: Die Hohlwelt birgt nicht nur zahlreiche Stämme, aber auch ein Geheimnis. Es muss sich in der vierten oder fünften Kammer des Torus befinden. Dort verschwand nicht nur der Astronaut Shepard, dort, so nehmen die Amis an, befinden sich auch ein Sternentor. Und wem die Sterne gehören, der beherrscht das Universum. Völlig logisch. (Der GDO-Teil des Romans ist offensichtlich von Greg Bears Roman „Äon“ und von Arthur C. Clarkes Roman „Rendezvous with Rama“ (beide dt. bei Heyne) inspiriert, die beide in GDO-Hohlwelten spielen.)

Wandel durch Opfer

Serenas Merina-Mission bezweckt die Veränderung der Großen Dummen Objekts (eine Fehlübersetzung, denn „Big Dumb Object“ bedeutet „Großes STUMMES Objekt“). Verfolgt von amerikanischen Soldaten, besteigen sie und ihre Crewmitglieder einen zunehmend steiler werdenden Horizont (siehe dazu Christopher Priests Roman „Der steile Horizont“, dt. bei Heyne). Je steiler die Wand, desto beschwerlicher der Aufstieg, insbesondere für eine Schwangere, die ein ganz besondere Art von Leibesfrucht zur Welt bringen wird… Dramatischer kann die Mission kaum werden. Ob jemand von dieser Mission zurückkehrt, darf hier nicht verraten werden.

Die Übersetzung

Die Übersetzung mag ja inhaltlich und stilistisch einwandfrei sein, doch sie ist gespickt mit Druckfehlern. Eine ellenlange Liste aller Fehler würde den Leser nur langweilen, daher picke ich nur die gröbsten Fehler heraus.

S. 8: „Der Augenblick dehnte sich, der Augenblick schnappte zu“: Die 1:1-Übersetzung aus dem Englischen ist falsch, weil „to snap“ hier nicht „schnappen“, sondern „reißen“ bedeutet.

S. 12: „Ich Tochter blinzelte zum Himmel hinauf.“ Gemeint ist wohl „ihre Tochter“.

S. 38: „Chechnya“: besser bekannt als Tschetschenien.

S. 61: „im Herzen des Dorfes entspann[t]en sich zwei ernsthafte Debatten.“ Da sich Debatten entspinnen, ist das T überflüssig.

S. 72: „mittels neu[t]ral verteilter Klapse ins Genick steuerte.“ Die Klapse sind nicht neutral, sondern neural, verbreiten sich also auf Nervenbahnen. Das T ist überflüssig.

S. 73: „Mopes“ statt „Mopeds“. Solche kleinen Auslassungen finden sich häufig.

S. 94: „Sie haben die Grenzzyklus-Katalatoren vergiftet.“ Hier fehlt wohl eine kleine, aber wichtige Silbe: -ys. Das Wort “ Katalysatoren“ ist durchaus verständlich.

S. 130: „königsfischerblau“: Ein „kingfisher“ ist aber im Deutschen ein Eisvogel.

S. 165: „sie tanzen, sich striegeln“. Aus „sich“ muss „sie“ werden.

S. „166: „Das Wissen siegte über den schwebenden Unglauben“. Dieser Begriff ergibt erst dann einen Sinn, wenn man ihn ins Original zurückübersetzt: „suspended disbelief“ ist, seit Samuel T. Coleridge ihn prägte, ein wichtiger Begriff für jeden Geschichtenerzähler. Seine Aufgabe besteht nämlich darin, den natürlichen Unglauben (disbelief) seines Publikums aufzuheben (suspend). „Suspended disbelief“ ist also etwas Erstrebenswertes, wird aber nur dadurch errungen, dass man eine Szene möglichst glaubhaft ausschmückt (daher zeigen statt behaupten!).

S. 185: „Sie muss der Nabe, ASAP, Bericht erstatten.“ Die Nabe heißt nicht ASAP. ASAP = as soon as possible = so bald wie möglich. Was uns heute völlig geläufig ist, muss im Jahr 2000 der Übersetzerin noch unbekannt gewesen sein.

S. 214: „Statten“ statt „Staaten“.

S. 260: „D[e]schellaba“. Das E ist überflüssig. Eine Dschellaba ist überall im arabisch geprägten Raum ein leichtes Gewand, meist für Männer.

S. 266: „eines Satzes, eines Worte[s]…“ Das S fehlt.

S. 272: „Da[s] Ei stand allein da.“ Schon wieder fehlt das S.

S. 442: „Wandung“ statt „Wanderung“.

S. 446: „preschen wir [mit] acht Ge los.“ Mal abgesehen von der halsbrecherischen Beschleunigung fehlt hier eindeutig ein wichtiges Wörtchen.

Und viele weitere, bis zur Seite 599: „Piont“ statt „Point“, also einer von vielen Buchstabendrehern.

Fazit: Bei diesem Text hätte eindeutig ein Korrektur Hand anlegen sollen. 30 Druckfehler (plus Stilfehler) sind einfach zuviel.

HINWEIS

Beim Titelbild sollte man darauf achten, dass die Fingernägel der abgebildeten Dame (die rothaarige Gaby McAslan?) zwei verschiedene Farben tragen und miteinander verschränkt sind. Die grüne Farbe gehört dem Chaga, das den Hintergrund dominiert, die weiße Farbe dem Menschen. Das erinnert mich an das Symbol von Yin und Yang. Die Dame ist also offensichtlich bereits ein Mischwesen.

Unterm Strich

Ich habe mehrere Jahre für diesen Roman gebraucht. Dreimal habe ich geraume Zeit verstreichen lassen, weil mir zuwenig zu passieren schien. Mein Fehler war, mich zu sehr auf Gaby McAslan zu konzentrieren, die Heldin des hervorragenden Romans „Chaga“. Nach Teil 1 und nach Teil 2 legte ich eine Pause ein, denn was konnte nach Oksana Opfertod noch viel kommen? Da kam noch eine ganze Menge, so etwa Serenas Abenteuer bei den Schwarzen Simbas und ihre finale Mission zum und im GDO. Hätte ich mich von Anfang an auf Serena „Ren“ McAslan konzentriert, hätte mir der Roman viel mehr Spaß gemacht und mein Interesse geweckt.

Faktoren des Wandels

Zweiundzwanzig Jahre nach seiner ersten Veröffentlichung wirkt der Roman in den Schilderungen der global veränderten Gesellschaften immer noch frisch und interessant. Die Kräfte von Technik, Wissen und Politik, die heute am Werk sind, haben sich nur unwesentlich verändert, was den Hintergrund anbelangt, aber Faktoren wie Gentechnik (Chaga), Nanotechnik und Isopathie sind noch in ihrem Anfangsstadium, was ihren Einfluss anbelangt.

Was fehlt

Vor 22 Jahren hätte niemand von der durchdringenden Wirkung eines Mobiltelefons und der sozialen Netzwerke zu träumen gewagt. Heute sind sie unser Alltag. Nur der Klimawandel wird ausgespart. Obwohl bereits 1969 vor den Folgen gewarnt wurde, spielt das Thema anno 2032 keine Rolle. Es wäre wohl zuviel der Faktoren gewesen, um ihn auch noch zu berücksichtigen. Es fiel mir schon schwer genug, all die übrigen Veränderungen zu einem zusammenhängenden Bild zusammenzusetzen. Noch ein oder zwei Faktoren mehr, und ich wäre vollends verwirrt gewesen.

Agenten des Wandels: Frauen

Modern ist hingegen die Schilderung der Rolle der Frauen in dieser neuen Chaga-Welt. Gaby, Oksana und Serena sowie weitere, weniger nette Damen belegen, dass der Autor die Rolle der Frau für die Entwicklung der künftigen Welt sehr ernstnimmt und an keiner Stelle herunterspielt. Das fand ich sehr begrüßenswert. Mein Fehler war es, Serena zu unterschätzen, ebenso wie die große Zeitspanne, die für ihre Entwicklung nötig ist: von 2032 bis Mitte des 21. Jahrhunderts.

Taschenbuch: 605 Seiten
Originaltitel: Kirinya, 1998
Aus dem Englischen von Irene Bonhorst.
ISBN-13: 9783453170919

www.heyne.de

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