Cherryh, C.J. – Das Kuckucksei

Der Mowgli-Mythos: Der Mensch als Alien

Dorn Haras ist zwar ein menschliches Wesen, wird aber wie weiland Mowgli unter Fremden aufgezogen, unter den Shonunin. Sein Ziehvater Duun hat als Hatani das Amt eines „Helfers der Welt“, eines unparteiischen Richters und Ratgebers, ist aber auch ein Krieger. Er formt Dorn nach seinem Ebenbilde und macht ihn ebenfalls zum Hatani. Das führt unter den Shonunin zu einer Spaltung der Gesellschaft – und schließlich zum Krieg … Erst da erfährt Dorn, wozu er geboren wurde.

Die Autorin

Caroline Janice Cherryh, geboren 1942 in St. Louis, ist von Haus aus Historikerin und lebt in Oklahoma. Sie erhielt schon 1980 ihren ersten Science-Fiction-Preis für ihre umwerfende Novelle „Kassandra“ [Die Story ist jetzt im Sammelband „The short fiction of C.J. Cherryh“ (Januar 2004) zu finden.] 1983 folgte der erste HUGO Award für „Pells Stern“, später ein weiterer für „Cyteen“. Beide Romane gehören zu ihrem Allianz-Union- bzw. PELL-Zyklus, der eine Future History darstellt, wie sie schon von anderen Größen des Science-Fiction-Feldes geschaffen wurde, darunter Robert A. Heinlein oder Isaac Asimov.

Handlung

Vorgeschichte

Das fremde Schiff ist ins System der Shonunin geflogen, und durch ein Missverständnis kommt es zu einem Schusswechsel. Zur Überraschung der Shonunin vernichtet es binnen zweier Jahre die halbe Raumflotte, bevor es endlich zerstört werden kann. Als man es untersucht, findet man fünf tote Raumfahrer an Bord. Was ist das für eine Rasse, wenn nur fünf Individuen ein derartiges Blutbad anrichten konnten? Was für eine überlegene Technik, die eine so verheerende Feuerkraft entfalten kann?

Die Shonunin wissen, dass die Aliens noch kurz vor ihrem Tod einen Funkspruch abgesetzt haben, der irgendwann ihre Heimatwelt erreichen wird. Und irgendwann werden rachsüchtig noch mehr dieser Killer mit überlegenen Schiffen auftauchen. Es gibt nur eine Möglichkeit, etwas über diese aggressiven Fremden zu erfahren und möglicherweise eine Verständigung mit ihnen zu erreichen: durch ein heikles, umstrittenes und gefährliches Experiment …

Gegenwart

Duun lebt als Hatani, als richtender „Helfer der Welt“, im gesellschaftlichen Abseits, entstellt an Gesicht und Händen, besitzlos und ohne Gattin. Eines Tages bringt ihm sein ältester Freund Ellud einen Säugling von einer Art, die nicht die der Shonunin ist, sondern von jener der Eindringlinge (siehe oben). Duun beschließt, dieses Wesen zu seinem Ebenbild zu formen, um zu sehen, was die andere Rasse vermag. Wird der Hatani-Krieger, den er an Leib und Seele formen wird, ebenso stark sein wie ein Hatani der Shonunin? Und wird er Kontakt aufnehmen können mit den Fremden, bevor sie wiederkehren?

Damit die Ausbildung dieses jungen Alexanders ungestört verlaufen kann, zieht sich Duun mit dem Säugling in seine Berghütte zurück. Doch erblickt der junge Dorn mit seinen ungewöhnlichen blauen Augen erstmals den Pelz eines Shonun, den blauen Himmel und den steilen Berg, die Sterne, die Tiere und beißendes Feuer. Aber die Tricks, die Duun, sein Ziehvater, mit ihm spielt, vergällen ihm die unschuldige Freude an dieser unbevölkerten Natur.

Es dauert nur wenige Jahre, bis der junge Dorn die Unterschiede zwischen seinem glatten, haarlosen Körper und dem pelzigen seines „Vaters“ bemerkt. Duun erklärt ihm nicht, was Dorn ist, wohl aber, dass er, Duun, ein Shonun ist. Als Teenager nagen zunehmend Zweifel an Dorn: klauenlos, pelzlos, großäugig, doch er muss sich den Jagdübungen Duuns stellen. Ein „Ich kann nicht“ gibt es nicht für Duun, und falls es Dorn doch wagen sollte, diesen Satz zu sagen, so erhält er Hiebe. Es ist wahrlich nicht einfach, sich die Achtung seines Vaters zu erwerben.

Aber noch seltsamer und erschreckender ist der Hass, den die Bauern, die am Fuße des Berges leben, ihm entgegenbringen. Sie feuern auf ihn, so dass er am Arm getroffen, und sie feuern auch auf Duun, der ihn verteidigt. Nun ist beiden klar, dass die Jahre der Ausbildung auf dem Berg vorüber sind: Der Sechzehnjährige muss in die Stadt, um dort weiter ausgebildet zu werden. Nachdem sich die Meds um ihn gekümmert haben.

In Dsonan, der größten Stadt der Shonunin, lernt Dorn, dass seine Andersartigkeit irgendwie von Bedeutung ist. Während seiner zweijährigen Ausbildung erfährt Schritt für Schritt, dass andere Gruppen, die im Rat der Welt vertreten sind, sich gegen seine Kaste der hatani, gegen ihn, ja, gegen den Frieden auf der Welt zusammengetan haben. Als Duun ihn zur Gilfe der Hatani bringt, schafft es Dorn sogar, dort aufgenommen zu werden. Dies versetzt die Gegner Duuns in noch größere Aufregung und Angst. Ein Außenseiter soll über sie richten dürfen!

Und so kommt es, dass die Söldner des Feindes einen Angriff auf Dorn und Duun unternehmen. Duun muss seinen Schützling schleunigst in Sicherheit bringen, doch diese findet sich nur im Weltraum, genauer gesagt: auf der Station Gotag. Und dort eröffnet ihm Duun endlich den Grund, warum Dorn geboren wurde, als Experiment.

Denn dies sei seine Rolle, sagt Duun: die Zukunft von zwei Welten in Frieden zu sichern. Er muss zu den Menschen Kontakt aufnehmen und Frieden anbieten, selbst wenn dies gegen seine innersten Überzeugungen geht. Aber werden ihn die Menschen, die neun Lichtjahre entfernt leben, ihn überhaupt hören wollen, als einen von ihnen?

Mein Eindruck

Die ersten zwei Drittel des Romans schildern die Jugendjahre des Helden und sind keineswegs von Action geprägt, sondern vielmehr von einer psychologischen Ausbildung zum Krieger. Diese besteht in einer systematischen Zerstörung von Unschuld und vorbehaltloser Zuneigung, wie sie jedes Kind gegenüber seinen Eltern empfindet. Daraus schmiedet Duun Misstrauen, Paranoia und die Intelligenz eines Jägers. Im zweiten Drittel bewährt sich diese Art der Intelligenz während Dorns zweiter Ausbildung, so dass es zur Enttarnung einer Spionin kommt.

Erst das letzte Drittel schlägt nach Dorns Aufnahme in die Hatani-Gilde unvermittelt in Action um. Diese endet zur Freude des Lesers nicht mehr, bis Dorn schließlich im Besitz der ganzen Wahrheit ist. Erst dann erkennt er wirklich seine Stellung in der Welt, auf der er aufgewachsen ist.

In „Kuckucksei / Cuckoo’s Egg“ greift die Autorin ein Standardthema der Science-Fiction auf: den seiner Rasse entfremdeten Menschen, der wie Mowgli im „Dschungelbuch“ bei einer fremden Rasse aufwächst und dann wieder zu den Menschen zurückgelangt. Robert A. Heinlein hat das Thema mit großem Erfolg in seinem dicken Kultroman „Fremder in einer fremden Welt“ verarbeitet (der leider auch Charles Manson als Inspiration diente). Caroline J. Cherryh gelingt etwas weit Besseres: Der Leser nimmt intensiven Anteil an dem Mowgli-Charakter und lernt dadurch etwas über sein eigenes Menschsein.

Die Shonunin wissen nicht, mit welcher aggressiven Rasse ihre Raumpatrouille es zu tun hat. Und als die Antworten auf die Funksprüche der toten Astronauten eintreffen, müssen sich die Shonunin vergegenwärtigen, dass unvermittelt eine fremde Flotte mit Überlichtgeschwindigkeit in ihr Sternsystem eindringt. Auch wenn diese Rufe von der Erde nur bedeuten: „Hallo, wer da?“, so muss sich die Welt der Shonunin auf eine Invasion vorbereiten.

In dieser verzweifelten Lage war es, wie Dorn am Schluss erfährt, der Hatani Duun, der als oberster Ratgeber Gehör fand und entschied, ein Raumfahrtprogramm ins Leben zu rufen, das schließlich alle Ressourcen des Planeten aufs Äußerste anspannte. Aber das beseitigte noch nicht die Frage, wie man es mit den aggressiven Wesen aufnehmen könnte. Wieder fällte Duun ein Urteil.

Die Lösung zum Problem der Shonunin bestand darin, einen Klon der toten Menschen so aufzuziehen, als sei es das eigene Kind, in der Hoffnung, dass der andere, der Feind, nicht nur in seinen Fähigkeiten erkannt werde, sondern die Dorn erwiesene Liebe erwidern oder zumindest respektieren würde. Schließlich erkennt Dorn seine von Duun von vornherein geplante Aufgabe: Er soll als „Helfer der Welten“ vermitteln und so schlimmen Schaden abwenden. Auch gegen Widerstand aus den Reihen der Shonunin.

Die Welt der Shonunin ist glaubwürdig entworfen, erinnert aber in seinen strengen moralischen und sittlichen Maßstäben an das mittelalterliche japanische Shogunat und seine historischen Sitten und Bräuche. Hier kann die Historikerin ihr Wissen wirkungsvoll einbringen. Die Hatani erinnern mich an japanische Sensei (Kampfsportlehrer, Weiser) oder chinesische Wandermönche und -richter, wie sie in historischen Romanen geschildert werden. Aber die Autorin kennt auch die Mechanismen der Macht und berücksichtigt sie in Form der Spaltung der Shonunin-Gesellschaft – bis hin zum Bürgerkrieg.

Unterm Strich

Das Vergnügen, das mir das Buch bereitet hat, liegt nicht nur am Erforschen der fremden Welt der Shonunin, sondern auch weil es eine spannende Handlung – mit einem ironischen Schluss – und bemerkenswerte Charaktere aufweist. Diese bestehen natürlich in erster Linie in Duun und Dorn, dem rätselhaften Lehrmeister und Ziehvater sowie seinem verzweifelten Ziehsohn.

In dieser ungewöhnlichen Eltern-Kind-Beziehung nimmt der Roman schon das Leben von Ariane Emory in „Cyteen“ vorweg. Ariane ist ebenfalls ein Klon, wächst in einer undurchsichtigen und fremdartigen Umgebung auf – den gigantischen Biotechniklaboren von Reseune – und darf ebenfalls niemandem vertrauen. So gesehen, bildete „Kuckucksei / Cuckoo’s Egg“ 1985 eine Fingerübung für den 1990 mit mehreren Preisen ausgezeichneten SF-Klassiker „Cyteen“.

Weil sich die Autorin für die zwei Phasen von Dorns Ausbildung so viel Zeit lässt, scheint ihr am Schluss der Platz ausgegangen zu sein. Die Action nimmt das letzte, ziemlich atemlose Drittel ein, ohne viel Platz auf psychologische Feinheiten zu verschwenden. Auf diese Weise entsteht der Eindruck, als habe die Autorin ihren Roman schlecht geplant. Sie musste sozusagen ihren Lesern (oder vielmehr ihrem Verlag DAW Books) einen Grund liefern, diesen Roman überhaupt kaufen und lesen zu wollen – und all das packte sie ins letzte Drittel. Wenigstens hat sie aus diesem Fehler gelernt und dann „Cyteen“ bis ins letzte Detail durchgeplant. Mit dem bekannten Erfolg.

Hinweis

Das Jugendbuch eignet sich für Leser ab 15 Jahren. Die deutsche Übersetzung erschien im Heyne-Verlag.

Taschenbuch: 320 Seiten
Originaltitel: Cuckoo’s Egg
ISBN-13: 9780886773717

www.heyne.de

Der Autor vergibt: (4.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (1 Stimmen, Durchschnitt: 4,00 von 5)

_C. J. Cherryh bei |Buchwurm.info|:_
[„Kauffahrers Glück“ 1195
[„Stein der Träume“ 1539
[„Der Baum der Schwerter und Juwelen“ 1540
[„Das Tor von Ivrel (Morgraine 1)“ 3407
[„Pells Stern“ 4887
[„Brüder der Erde“ 4887