Seth Fried – Der Metropolist

Die Stadt der Zukunft – ideal ODER gerecht?

Metropolis ist die strahlende Stadt der Zukunft, der wahr gewordene amerikanische Traum. Henry Thompson, ein pflichtbewusster Beamter der Verkehrsbehörde, ist dafür zuständig, dass das auch so bleibt. Als die Tochter des Bürgermeisters verschwindet und Anschläge die Stadt erschüttern, beginnt Henry zu ermitteln – allerdings auf seine Art: korrekt und regelkonform.

Wäre da nicht OWEN, die Künstliche Intelligenz seiner Behörde, die man ihm zur Seite gestellt hat. OWEN säuft, raucht und schert sich einen Dreck um Vorschriften. Doch um Metropolis zu retten, müssen sich Henry und OWEN wohl oder übel zusammenraufen… (Verlagsinfo)

Der Autor

Der US-amerikanische Autor Seth Fried ist Autor und Humorist. Er schreibt für „The New Yorker“ und NPR. Seine Geschichten wurden bereits in verschiedenen Magazinen und einer Story-Sammlung veröffentlicht. Er ist Gewinner des Pushcart-Preises („Best of the Small Presses“) und des William-Peden-Preises (1000 US-Dollar für eine Kurzgeschichte, vergeben von der Missouri Review).

Handlung

Henry Thompson arbeitet als pflichtbewusster und penibler, allseits unbeliebter Beamter in der Behörde für kommunale Infrastruktur (BKI) der USA. Er arbeitet in Suitland. Maryland, also unweit von Metropolis, der idealen Stadt an der amerikanischen Ostküste. Der Sitz seiner Behörde, die im ganzen Land die Infrastruktur für Transport und Verkehr optimiert, liegt außerhalb der idealen Stadt., aber so mancher Kollege wünschte, er säße weit weg. Nur Garrett, Henrys Chef und Boss der Behörde, weiß, was er an Henry hat. Deshalb gibt er ihm einen Supersonderspezialauftrag, der es in sich hat. Ach ja: Und natürlich hängen Wohl und Wehe der Behörde, der Stadt und seines Chefs nur von ihm, Henry, ab. Es sieht ganz nach einem Himmelfahrtskommando aus.

Anschläge

Ein paar unschöne Dinge sind zuvor in der idealen Stadt geschehen. Sarah, die allseits beliebte und schöne und erfolgreiche Tochter von Bürgermeister Laury, ist spurlos verschwunden, doch man empfängt im Internet eine Botschaft, man solle nicht nach ihr suchen – sie sei mit Terrence Kirklin zusammen. Der Stadtplaner von Metropolis, ein geschasster Mitarbeiter des BKI, ist längst Garretts Intimfeind,. Ein Bespitzelungsversuch mithilfe eines gewissen Stuart Biggs wurde von Kirklin, der seine Mitarbeiter handverlesen hat, wenig später aufgedeckt. Garrett steckt in der Klemme. Seine Hoffnung ruht auf Henry.

OWEN

Steckt Kirklin hinter den Anschlägen, bei denen alle 70 Drohnen der Verkehrsbehörde abstürzten und Bürger verletzten? Auch davon ist Bürgermeister Laury nicht gerade erbaut. Die Zeit drängt, eine Lösung muss her. An dieser Stelle kommt Henry ins Spiel. Gehörig von Garrett unter Druck gesetzt, bleibt ihm keine andere Wahl als den Auftrag anzunehmen. Garrett steckt ihm zum Abschied unerwartet eine ziemlich dicke Krawattenklammer an. Sie erweist sich als Hologrammprojektor. Was sie projiziert, ist ein menschliches Ebenbild von OWEN, der Künstlichen Intelligenz der Verkehrsbehörde, die alles weiß – bis auf ein paar entscheidende Hinweise, versteht sich. Sonst wäre Henry ja arbeitslos. Henrys Freude hält sich in Grenzen.

Metropolis

Ihre erste gemeinsame Anlaufstation ist naheliegenderweise Stuart Biggs, der Spion, der von Kirklin enttarnt wurde. Doch da in Metropolis noch ein paar Ü-Drohnen im Depot überlebt haben, fällt es Biggs leicht, die beiden Eindringlinge ausfindig zu machen. Sie denken, sie seien in Chinatown sicher? Falsch gedacht. Henry freut sich auf das Wiedersehen mit Biggs, doch OWEN ist anderer Meinung: Sein Schöpfer, der deutsche Prof. Klaus, ist ein Fan von Gangster- und Samurai-Filmen. Als Biggs mit einem axtschwingenden blonden Hünen aus dem Auto steigt, ahnt er Schlimmes und warnt Henry. Doch der hat die Nase voll von dem Besserwisser und sperrt die Krawattennadel in eine Schublade voller Socken.

Nahkampf

Daher ist Henry ziemlich schutzlos und überrascht, als sich das Blatt einer Axt durch seine Zimmertür bohrt. Auch seine Nahkampffähigkeiten lassen sehr zu wünschen übrig, aber zu einem Tritt an eine strategisch wichtige Körperstelle reicht es noch. Nachdem der Axtschwinger ausgeschaltet worden ist, wendet Henry sich Biggs zu. Der redet was auf Esperanto, das Henry nicht geläufig ist. Aber auf Englisch macht Biggs klar, dass Kirklin ihren Besuch in seiner Stadt für unerwünscht hält. Biggs ist ein Überläufer. Sobald Henry auch Biggs auf die gleiche Weise ausgeschaltet hat, befreit er OWEN. Der rät ihm, beide zu fesseln, Biggs mitzunehmen und das Weite zu suchen, bevor die Polizei eintrifft. Gesagt, getan.

Hinweis

Biggs zu verhören gestaltet sich schwierig. Der Mann scheint auf einmal geistig weggetreten zu sein. Plötzlich rappelt er sich auf und springt von der Kante des Hausdaches, auf dem sie sich befinden. Biggs ist sofort tot. Wie bedauerlich. Dafür ist seine zurückgelassene Aktentasche umso „gesprächiger“: Der Notizblock darin liefert Hinweise auf ein öffentliches Gebäude, für das sich Biggs offenbar sehr interessierte: das Geschichtsmuseum MetMoH (Metropolitan Museum of History). Klarer Fall, dass sie sich das MetMoH mal genauer anschauen sollten. Aber vorher müssen sie Henrys ramponiertes Äußeres restaurieren und die Holzsplitter aus seinem Rücken und seiner Wade entfernen…

Mein Eindruck

Schritt für Schritt nähert sich das dynamische Duo der Zentrale von Kirklin und Sarah Laury. Doch sie kommen weder als Sieger noch als Schnüffler, eher wie zwei sehr unkonventionelle Undercover-Agenten. Als hilfreich erweist sich, dass OWEN sein 3D-Hologramm in alle mögliche menschliche und nichtmenschlichen Gestalten verwandeln kann. Auf diese Weise gelingt es ihnen, sich an mehreren wichtigen Orten einzuschleusen, um wichtige Informationen zu erbeuten. Dazu gehört auch die Leseliste der Studentin Sarah Laury und der Text ihres einzigen Theaterstücks. Ja, sie ist eine überzeugte Klassenkämpferin geworden. Aber wer oder was hat sie überzeugt?

Eine Begegnung und Auseinandersetzung mit Sarah kommt früher oder später zustande. Wie es aussieht, ist es ausgerechnet die Schuld der BKI, an die Henry so glühend glaubt, die für das Elend der Armen und Unterdrückten verantwortlich ist. Dieser Vorwurf erscheint Henry absurd. Erst im Epilog erfährt er die schmutzige Wahrheit über die BKI und die Rahmenbedingungen für ihr Handeln.

Die Geschichte ist also kein Selbstzweck zur Unterhaltung des Lesers, sondern hat wirklich eine solide Grundlage und ein ehrbares Anliegen. Dieses Anliegen erscheint in Zeiten der Umwälzungen im Verkehrswesen, die durch autonome Fahrzeuge hervorgerufen werden, umso relevanter und dringlicher. Es gibt sogar ein Paradoxon, an dem der Leser zu beißen hat: Je attraktiver Infrastrukturmaßnahmen ein Armenviertel machen, desto ärmer wird es, weil mehr arme Leute dorthin ziehen. Oder der Wert ihrer Häuser und Grundstücke steigt, was wiederum die Immobilienhaie und Yuppies anlockt. Die Lösung: „einfrieren“, wie Garrett sagt. Dieser ominöse Begriff geistert durch die gesamte Erzählung, und Henry und der Leser müssen dieses kognitive Rätsel früher oder später knacken.

Doch die actionreiche Story endet nicht in Resignation. Der Grund dafür ist die innere Wandlung des Helden Henry Thompson. Nicht nur OWEN, sondern auch die Auseinandersetzungen mit den Gegnern, mit OWEN und mit seinem Chef (wg. „Einfrieren“) sorgen dafür, dass aus dem linientreuen Pedanten ein selbständig denkender und urteilender Bürokrat wird, der selbst eingreift. Beim ersten Mal sorgt er für eine gewaltige Explosion, die die Kirklin-Revolution ein klein wenig aufhält. Aber er kann dies ohne die geistige Krücke OWENs tun, und das ist viel wert. OWEN, so hat er erfahren, ist durch Kirklins Computervirus verseucht worden. Wie könnte er ihm noch trauen? Wird dies das Ende der sympathischen KI einläuten? Daumen drücken!

Die Übersetzung

Der Sprachstil befindet sich auf der Höhe der Zeit, indem er sich der aktuellen Umgangssprache bedient. Auch der ironische Humor ist up to date.

S. 192: „Dieser Feststellung ließ sie ein kontempl[a]tives Bekenntnis folgen…“ Das A fehlt.

Dies ist der einzige Druckfehler, der mir auffiel. Die Fehlerquote tendiert also gegen null.

S. 47: Hier findet sich die ausgeschriebene Version der Abkürzung OWEN: „Objektorientierte Datenbank und wirksames Ekistik-Netzwerk“. Der Begriff „Ekistik“ war mir bislang nicht bekannt. Vielleicht ist es eine Umschreibung für KI.

Unterm Strich

Der Roman liest sich recht flott und durchaus an manchen Stellen spannend, so etwa die lange Szene im MoMeH. Die Interaktionen zwischen Pedant Henry Thompson und flapsiger KI OWEN sind hingegen das Highlight der Geschichte. Sie sind so verschieden voneinander, wie man sich nur vorstellen kann. Um überhaupt zusammenarbeiten zu können, müssen sie sich aneinander anpassen bzw. angleichen. Mit anderen Worten: Sie werden „Freunde“, obwohl das keiner von beiden jemals zugeben würde.

Revolution #9

Es geht um nichts Geringeres als eine Revolution. Kann man sie aufhalten oder sollte man versuchen, sie zu verstehen, lautet die Frage, die sich der Leser stellen könnte. Das dynamische Duo will sie aufhalten, aber es ist unvermeidlich, die Doktrin des Feindes kennenzulernen – in Esperanto, versteht sich. Und diese Doktrin klingt gar nicht mal so übel oder absurd: Wie kann es sein, dass in einer idealen Stadt überhaupt Ghettos und Slums geduldet werden? Die Methode des gewalttätigen Kampfes ist zwar fragwürdig, aber die Doktrin entbehrt nicht der Berechtigung: Wenn etwas idealsein will, sollte es auch gerecht sein. Und wenn es das nicht sein will oder kann, dann darf es sich auch nicht ein „Ideal“ nennen.

Fortsetzung sicher?

Am Schluss seines langen Weges als Held wider Willen sieht sich Henry Thompson gezwungen, seine eigene Behörde zu bekämpfen, um der Gerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen, ganz gleich wo in den USA. Etwas hat die Löschung OWENs überlebt: sein Backup. Sind Henry und OWEN also bereit für eine Fortsetzung? Worauf der Leser wetten kann.

Noch was

Negativ fiel mir das Preis-/Leistungsverhältnis auf. 13 Euro soll man für knapp 320 Seiten berappen, die übermäßig große Schrift tragen. Der Text hätte vor zehn Jahren auf 220 Seiten gepasst und für höchstens acht Euro zu erstehen gewesen.

Taschenbuch: 318 Seiten
Originaltitel: The Municipalists, 2019
Aus dem Englischen von Astrid Finke.
ISBN-13: 9783453320147

www.heyne.de

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