Algis Budrys – Das verlorene Raumschiff. SF-Roman

Das vergessene Mars-Experiment

In einer Oase um einen dornartigen Turm, der ihnen Atemluft und Wasser liefert, leben Menschen in einer kleinen Gemeinschaft aus Bauern und Jägern. Die Wüste ringsum wird von feindseligen Amsiren durchstreift, seltsamen geflügelten Geschöpfen, die den Menschen als Nahrung dienen. …

Als der weiße Jackson seinen ersten Amsir erlegt, macht er eine bestürzende Entdeckung. Und bei seiner nächsten Begegnung mit einem der drachenähnlichen Wesen begibt er sich in dessen Gewalt und gelangt in die Siedlung der Amsire, wo Jackson zu seiner Verblüffung ebenfalls einen dornartigen Turm vorfindet…

Aber das Rätsel der Existenz von Menschen und Amsiren auf dem seltsamen Wüstenplaneten ist größer als allgemein erwartet. Das Geheimnis wird nur Stück für Stück im Verlauf der aktionsreichen und dramatischen Erzählung entschleiert. (Verlagsinfo)

Der Autor

Algirdas Jonas Budrys wurde 1931 in Königsberg als Sohn litauischer Eltern geboren, die 1936 in die USA einwanderten. Dort war Budrys’ Vater Abgeordneter der Exilregierung Litauens. Budrys arbeitete nach der Schule einige Zeit für seinen Vater, danach bei American Express. 1952 wurde er Herausgeber bei Gnome Press, einem der ersten Verlage, die SF im Hardcover veröffentlichten. Ab 1963 war er Herausgeber bei Playboy Press. In den sechziger und siebziger Jahren verlegte er sich auf Kritiken, die er ständig in Zeitschriften wie dem „Magazine of Fantasy and Science Fiction“ veröffentlichte. Zwischen 1975 und 1992 war Algis Budrys der führende Buchrezensent.

Seine literarische Karriere begann 1952 mit der Erzählung „The high purpose“, denen weitere Stories folgten, die ihn als ideenreich und stilistisch gewandt auswiesen. Er wurde neben Philip K. Dick zu einem der führenden Nachwuchsautoren der fünfziger Jahre. Die Stories waren komplex, tiefgründig und manchmal leider auch etwas schwer verständlich. Aber er baute auf ihnen auf, um 1958 den Roman „Who?“, 1960 den Kurzroman „Rogue Moon“ und 1961 „Some will not die“ zu veröffentlichen.

„Who?“ wurde sehr textnah verfilmt, und 1977 erschien mit „Michaelmas“ eine harsche Textkritik. Der Ansatz wird aber dadurch verwässert, dass die Aliens, die die Medien manipulieren, unter uns sind und natürlich bekämpft werden müssen. Spätere Romane wie „Harte Landung“ (1993) reichen längst nicht an Budrys’ Klassiker heran.

Handlung

Der weiße Jackson lebt auf einer fremdartigen Welt im eisernen Dorn. Dieser Sitz seines Stammes ragt aus der umgebenden Wüste heraus, in der die Amsire leben. Heute zieht Jackson in der Morgendämmerung aus, um eines dieser drachenähnlichen Lebewesen zu erlegen. Viele Legenden ranken sich um die gefährlichen Räuber der Lüfte, die mit ihren ledrigen Schwingen gute Segler sind. Jackson legt sich auf die Lauer. Um sich vor der ungesunden Luft zu schützen, atmet er durch seinen Helm.

Als schließlich seine Beute direkt vor ihm auftaucht, greift er an. Doch niemand hat ihn darauf vorbereitet, dass so ein Amsir sprechen und zudem einen gefährlichen Speer handhaben kann. Er wird mehrfach verwundet, doch schließlich kann er das Wesen überwältigen und mit einem seiner Wurfpfeile töten. Wer hätte gedacht, dass die Amsirjagd so nervenaufreibend sein kann! Und wieso können die Viecher die Menschensprache sprechen? Der Amsir rief immerzu: „Gib auf! Gib auf, du nasser Teufel!“

Der weiße Jackson bringt seine Beute zum Turm zurück. Am Morgen kommt sein älterer Bruder zu ihm, der schwarze Jackson, der ihm alles beigebracht hat, was er über die Amsirjagd weiß. Nicht nur das Wesen interessiert seinen Bruder, sondern vor allem der metallene Speer. Der weiße Jackson weist auf die Lücken und Widersprüche hin, aber sein Bruder stellt sich entweder dumm oder will nichts dergleichen entdeckt haben. Er bringt den weißen Jackson zum Ältesten.

Der Älteste lebt im Turm und begrüßt Jackson, lässt ihn von den Bauern bejubeln. Nun hat Jackson mehrere Rechte erworben: Er darf eine Frau nehmen, im Turm wohnen, den Namen „Secon Jackson“ und kurzes Haar tragen. Eine Frau, auf die er ein Auge geworfen hat, gibt es auch schon: Petra. Ob seine Kinder Bauern oder Jäger sein werden, hängt von seiner Schlauheit und seinem Jagdglück ab. Sein Vater Olson wurde von anderen Jägern getötet, seine Mutter heiratete einen anderen Jäger.

Abtrünnig

Das Gespräch mit dem Ältesten verläuft in Jacksons Augen ziemlich unbefriedigend. Der Älteste hat nicht vor, Jacksons Entdeckung publik zu machen, sondern vielmehr will er die Bauern, die die Jäger ernähren, weiterhin zu belügen und zu betrügen. Doch die Wahrheit muss irgendwie ans Licht. Jackson malt die Jagdszene mitsamt dem ungewöhnlichen Metallspeer auf die Tierhaut, die das Fenster seiner Hütte bildet, und übergibt die unauffällig seiner Verehrerin Petra. Während er links und rechts Leute zu seinem Mannbarkeitsfest einlädt, stapft er schnurstracks aus dem Lager bis zur Grenze der Äcker – und darüber hinaus.

Er legt sich auf die Lauer. Als die Jäger merken, was los ist, beginnen sie den Abtrünnigen zu jagen. Es ist der schlaue Filson mit dem schiefen Grinsen im Gesicht, der Jackson überrascht und ihn um ein Haar tötet. Nach dem Kampf ist es Filson, der verblutet. Schließlich lässt sich Jackson von einem Amsir gefangennehmen. Der Marsch ist weit, doch es gibt vergrabene Depots, die das Paar mit Wasser und Atemluft versorgen. Als die Stadt der Amsire in Sicht kommt, ist sie ein doppeltes Wunder: Auch in ihrer Mitte steht ein hoher Dorn. Und ringsherum blühen grüne Felder. Jackson glaubt, ins Paradies zu gelangen. Leider stellt sich heraus, dass er dieses Grünzeug nicht essen kann, ohne sich zu vergiften.

Der zweite Dorn

Allerdings sind die Ältesten in diesem Paradies keinen Deut besser als die in seinem eigenen Dorn. Die acht alten Knacker, die in der Spitze des großen Metalldorns leben, sind ebenso mager und dürr wie der Jäger, der Jackson hereingebracht hat. Sie würden Jackson, den sie sofort als ungewöhnlich einschätzen, kaum eine Verschnaufpause, denn er soll für sie arbeiten. Sie gewähren nur dem Arzt die Erlaubnis, die Wurfpfeil, den Jackson im Ellenbogen stecken hat, zu entfernen und die Wunde zu pflegen.

Die Aufgabe

Anschließend zeigen sie ihm seinen neuen Arbeitsplatz. Es gibt einen kleineren Dorn, der neben dem großen steht. Eine Sprossenleiter führt zu einer Luke hinauf, die verschlossen ist. Schon viele gefangene Nassteufel wie Jackson hätten versucht, diesen Eingang zu öffnen, aber sie seien alle gescheitert und verhungert. Jackson merkt schnell, warum es praktisch unmöglich ist, hier einzudringen. Knochen zeigen an, dass schon viele an dieser Aufgabe gescheitert sind.

Er kann nicht kneifen oder den Ältesten als Geisel nehmen. All diese Varianten wurden bereits vorhergesehen. Nicht nur Speerwerfer beschützen den Ältesten, sondern auch ein deformierter Amsir, der vor Fettschichten nur so schwabbelt. Ahmuls ist ein geschickter Speerwerfer und Kletterer, aber er gehorcht nur dem Ältesten. Allmählich nagt der Hunger an Jacksons Nerven, also muss er sich beeilen und gleichzeitig Ahmuls überlisten. Aus der Luke dringt eine verzerrte, maschinenhafte Stimme. Der Älteste hat sie von seinem „Instrukteur“ (= Ingenieur) entzerren lassen: Es handelt sich um eine Warnung vor unbefugtem Zutritt, der mit Zerstörung geahndet werde..

Die Lösung

Die Einschränkung „unbefugt“ bringt Jackson auf eine Idee. Denn „unbefugt“ sind offenbar nur die Amsire, nicht aber Menschen. Was würde er also tun, wenn er eine intelligente Tür wäre? Ganz einfach: Er gibt ihr den Befehl, sich zu öffnen und nennt sie einen Idioten! Die Tür gleitet zur Seite und gibt den Weg in eine Art Luftschleuse frei. Diese ist offensichtlich das Produkt einer überlegenen, technischen Kulturstufe. Gerade als sich die Tür wieder schließt, saust Ahmuls herein, der Jackson sofort töten will. Da öffnet sich die innere Luke, und eine Maschinen-Stimme ertönt.…

Mein Eindruck

Der Dorn ist also ein vollautomatisches, von Robotern und einer KI bedientes Raumschiff. Das Raumschiff bringt den genesenen und mental aufgerüsteten Jackson sowie Ahmuls vom Mars zur Erde zurück. So langsam kapiert Jackson, wozu es diese Dorne auf dem Mars gibt: Es handelt sich um ein anthropologisches Experiment. Jacksons Volk ist die Kontrollgruppe, die mit der mutierten Gruppe, den Amsiren, verglichen wird. Dieser „Anbeginn der Welt“ ist vielen Jahrhunderten bis auf wenige mythologische Legenden in Vergessenheit geraten.

Der Zynismus und die Arroganz, die hinter dem Experiment stehen, endet bei der Landung auf der Erde keineswegs. Denn auch dort weiß man nichts mehr von jenem in ferner Vergangenheit gestarteten Experiment. Nackte, schöne Menschen begrüßen Jackson und Ahmuls mit Wohlwollen und Interesse. Denn der Zentralcomputer und seine fleißigen „Bienchen“ haben das Dutzend Menschen bereits darüber informiert. Der Mann Kringle scheint der Wortführer zu sein.

Jackson verrät wieder mal kaum etwas über seine Gemütsverfassung, aber Ahmuls wird von Kringle mit Käsestückchen beworfen. Er hält Ahmuls nicht für ein menschliches Wesen: Er ist ein Rassist. Doch Ahmuls ist schlauer als erwartet: Wenn Kringle ihn zu Gewalt anstacheln will, so kann er sich diesem Versuch mit Leichtigkeit durch eine Wanderung über diese grüne Welt – die sogar das richtige Futter für ihn bereithält – entziehen.

Die Erdlinge sind ebensowenig in der Lage, die Situation Jacksons zu verstehen. Vielmehr wollen sie seine „Geschichte“ als ein Filmdrama inszenieren, mit Comp, der Zentral-KI, als Regisseur, Produzent, Cutter und Projektor in einem. Ein Amsir ist von den fleißigen Bienchen schnell aus Gras konstruiert, und auch Jackson bekommt einen fast originalgetreuen Wurfpfeil. Der inszenierte Jagderfolg haut die Erdlinge um, und die Damen interessieren sich sehr für den großen Jäger. Als Durstine ihm jedoch Avancen macht, zeigt Kringle auch seine chauvinistische Seite.

Kann es also eine lebenswerte Zukunft für Jackson geben, die nicht inszeniert und vorn bis hinten gezähmt und gefälscht ist? Zu seiner Überraschung entdeckt Jackson auch diesen Weg…

Die Übersetzung

Die Übersetzung ist stilistisch einwandfrei gelungen, weist aber etliche Druckfehler auf. Nicht so toll fand ich zudem, dass der deutsche Buchtitel praktisch das Geheimnis der eisernen Dorne verrät.

S. 13: „wo er von [n]un an anders leben würde…“: Das N fehlt.

S. 21: „Schar ju[n]gendlicher Jäger-Anwärter“: Das N ist überflüssig.

S. 22: Buchstabendreher: „Urpsrung“ statt „Ursprung“.

S. 69: „Was eine[s] Tages für alle Wirklichkeit sein wird“: Das S fehlt.

S. 75: „Oben wurden hornige Stimmen laut…“: Gemeint sind jedoch „zornige Stimmen“.

S. 102: „Diätv[o]rschriften“: Das O fehlt.

S. 127: „Die Kamer[e]a“: Das E ist überflüssig.

S. 140: „wirbel[t]e das duftige Material um ihre Hüften und Schultern und Arme“: Das T fehlt.

Unterm Strich

Ich habe diesen flott inszenierten Roman in wenigen Stunden gelesen. Denn das Buch bietet nicht nur einen sich ständig erweiternden Erkenntnishorizont, einige Actionszenen, sondern auch eine ungewöhnliche Hauptfigur. Jackson ist eine Art „Maverick“, der sich einfach nicht an die Regeln halten will. Er blickt und drängt ständig über das vorgegebene Wissen hinaus. Das sichert ihm zwar das Überleben bei der Amsirjagd, doch verbietet es ihm den Aufenthalt am angestammten Wohnsitz: Er wählt die grenze und die Begegnung mit den Andersartigen. Das erinnert stark an die Mentalität der amerikanischen Pioniere, die keine Grenze, die mit den Ureinwohnern vereinbart worden war, sondern alle Grenzen überschritten, bis ihnen der ganze Kontinent gehörte.

Der Trick, den der Autor anwendet, besteht darin, die Menschen und die Amsire miteinander zu Verwandten zu machen. Zwar lautet die Doktrin auf beiden Seiten, dass das eigene Volk automatisch „gut“ sei und das andere Volk automatisch „böse“. Dies ist ein theologisches Dogma. Die Logik-Argumentation führt sich in Jacksons Augen selbst ad absurdum, aber er hütet seine Zunge. Schließlich will er nicht gleich getötet werden. Durch die Hintertür kritisiert der Autor dogmatischen Starrsinn auch in seinem, dem amerikanischen Volk (er selbst kommt aus Litauen).

In der zweiten Hälfte des Buches, die auf der Erde spielt, offenbart sich die ganze Schizophrenie der Erdlinge und ihrer zentralen KI. Sie sind nicht in der Lage, Realität zu akzeptieren, sondern müssen sie stets – populär und effektiv aufbereitet – inszenieren. Das macht alle beteiligten zu Statisten. Und tatsächlich: Als die Erdlinge um Kringle auf dieses Ereignis reagieren wollen, machen sie sich selbst a) zu Schauspielern und b) zu Malern. Jackson wird immer wütender und kann kaum an sich halten. Seine zeichnerische Entgegnung auf das Gemälde ruft Verwirrung, Irritation und Befremden hervor. Mit ihm kann man sich ja nicht mal auf ästhetischer Ebene solidarisieren, lautet Comps Vorwurf. Wäre Jackson also ein Indianer, würde er mit jedem Kunstwerk Widerspruch hervorrufen. So überzeugt sind die Erdlinge von ihrer eigenen Überlegenheit und Tadellosigkeit.

Es gibt am Schluss nur einen Lichtblick für Jackson: Er soll und darf seine Geschichte gegenüber der einzigen mit Empathie gesegneten Frau erzählen. Das ist der einzige Grund, warum er eine Zukunft hat: Man werde sich an ihn und sein Volk erinnern.

Taschenbuch: 142 Seiten
Originaltitel: The Amsirs and the Iron Thorn, 1967
Aus dem Englischen von Walter Brumm.
ISBN-13: 978-3453310063.

www.heyne.de

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