Eigel Wiese – Das Geisterschiff. Die wahre Geschichte der Mary Celeste

Darum geht’s:

1872 treibt das Frachtschiff „Marie Celeste“ unbeschädigt aber besatzungsleer im Meer; die Fragen nach dem Geschehen werden einerseits nie wirklich geklärt, während sie andererseits vor allem in den Medien ein Eigenleben annehmen, bis die Logik im Strudel kunterbunter Mythen versinkt … – Autor Wiese geht zurück an die Quellenbasis, entwickelt eine glaubhafte Erklärungstheorie und berichtet vom „Geisterschiff“, in dessen Schatten die Geschichte der „Marie Celeste“ längst nebensächlich geworden ist.

Inhalt:

Die Ereignisse sind gut belegt, die Geschichte ist so bekannt, dass kein Mensch wirklich weiß, was eigentlich geschehen ist: Was sich hier reichlich paradox liest, ist einem kardinalen Rätsel der Seefahrtgeschichte wohl angemessen. Selbst im Hirn der eingefleischten Landratte lässt der Name „Mary Celeste“ ein Signal aufleuchten.

Zwar gingen in den Jahrtausenden, die der Mensch nun schon die Weltmeere durchkreuzt, weitaus größere Schiffe unter noch seltsameren Umständen verloren. Dass gerade die kleine „Mary Celeste“ ihren Ruf als DAS Geisterschiff bekam, ist eine faszinierende Geschichte, die beinahe noch interessanter ist als das, was sich im Winter des Jahres 1872 auf dem Atlantik zwischen den Azoren und Gibraltar ereignete.

Die amerikanische Brigg „Dei Gratia“ unter ihrem Kapitän David Reed Morehouse sichtet am 5. Dezember kurz nach 13 Uhr die ebenfalls unter US-Flagge segelnde Brigantine „Mary Celeste“, die steuerlos dahintreibt. Morehouse kennt das Schiff und seinen Kapitän Benjamin Spooner Briggs. Daher weiß er, dass dieser gemeinsam mit seiner kleinen Familie reist. Doch von den Passagieren fehlt ebenso jede Spur wie von der Besatzung, als Morehouse die „Mary Celeste“ untersuchen lässt. Das Schiff ist völlig intakt, wurde aber von seinen Insassen erkennbar in großer Hast verlassen.

Kapitän Morehouse lässt die „Mary Celeste“ bemannen. An der Seite der „Dei Gratia“ segelt sie nach Gibraltar. Dort brodelt es bald heftig in der Gerüchteküche. Die „Mary Celeste“ ist als Unglücksschiff berüchtigt, seit sie im Jahre 1860 die Werft noch unter dem Namen „Amazon“ verließ. Seltsame Unfälle, Reeder-Pleiten und Frachtschiebereien begleiteten ihren Weg; tatsächlich stellte die Umbenennung einen verzweifelten Versuch der aktuellen Eigner dar, überhaupt noch eine Besatzung für die „Mary Celeste“ zu finden, denn das Schiff wurde von den notorisch abergläubischen Seeleuten gemieden.

Rätselraten und hässliche Verdachtsmomente

Was ist im Dezember 1872 auf der „Mary Celeste“ geschehen? Eigel Wiese, Journalist und Sachbuchautor mit dem Spezialgebiet historische Seefahrt, präsentiert das Rätsel als kriminalistisches Rätsel. Er untersucht den Tatort, sammelt Indizien, klärt die Vorgeschichte und zieht anschließend seine Schlüsse. Das ist durchaus nicht so selbstverständlich wie man meinen sollte: Das Mysterium der „Mary Celeste“ ist – Wiese weiß es sehr deutlich zu machen – auch ein Lehrstück menschlicher Dummheit und ein trauriger Exkurs über Macht und Manipulationen der Medien.

Kapitän Morehouse und seine Leute werden in Gibraltar nicht etwa für ihre Tatkraft gelobt, sondern sogleich vor Gericht gestellt. Die britische Admiralität – hier verkörpert durch den chronisch und womöglich krankhaft misstrauischen Generalstaatsanwalt Frederik Solly Flood – schätzt keine Rätsel und würde gern den Männern der „Dei Gratia“ ein Betrugs- und Mordkomplott anhängen. Nur mühsam können sich die überrumpelten Zeugen dagegen wehren, plötzlich zu Schuldigen erklärt zu werden.

Aber der Schaden ist bereits angerichtet: Die Presse hat Blut gewittert. Mit der „Mary Celeste“ verdienen die Zeitungen auf der ganzen Welt viel Geld. Solly Floods schwer erklärbare Geheimniskrämerei führt außerdem dazu, dass handfeste Indizien, die während mehrerer ausgiebiger Untersuchungen des verlassenen Schiffes entdeckt wurden, niemals öffentlich gemacht werden. Daher bleibt unbemerkt, dass alle Erklärungen zur Klärung des Falles prinzipiell vorhanden sind.

Eine standfeste Hypothese

Auch Eigel Wiese durchschlägt in dieser Beziehung keine gordischen Knoten. Des Rätsels Lösung soll hier nicht verraten werden, aber es hat mit der Ladung der „Mary Celeste“ – 1700 Fässer Rohalkohol – und deren physikalischen Eigentümlichkeiten zu tun. Wieses Verdienst ist es, diesen von Historikern eher halbherzig beschrittenen Weg sachlich und gründlich zu beschreiten und die Theorie durch eigene Experimente zu untermauern.

Außerdem steigt er noch einmal in die Archive und beschäftigt sich mit den zeitgenössischen Quellen, bevor sie durch die Mühle sensationsheischender Zeitungsberichte und Bücher gedreht wurden, denen später natürlich auch das Kino und das Fernsehen folgten. (Wiese erwähnt sie nicht, aber es gibt u. a. eine trashige deutsche TV-Version der „Mary-Celeste“-Story mit Hans Joachim Kulenkampff in der Spooner-Rolle!) Sein Erklärungsvorschlag – zumal auch sachlich und ohne Spekulationen vorgetragen – kann überzeugen.

2006 wurde Autor Wiese von einer britischen Film-Produktionsgesellschaft kontaktiert, die das „Mary-Celeste“-Rätsel thematisierte und auf seine Theorie gestoßen war. Sie stellte die Mittel für ein Experiment zur Verfügung. Es resultierte in einem Ergebnis, das Wieses Hypothek bestätigte. (Der Verfasser berichtet darüber 2015 im „Mary-Celeste“-Kapitels seines Buches „Legendäre Schiffswracks. Von der Arche Noah bis zur Titanic“, S. 123-126.)

Liebgewonnene Mythen sind erklärungsresistent

Aber wünscht sich die Welt denn überhaupt eine Lösung des „Mary-Celeste“-Rätsels? Die Rezeptionsgeschichte des Unglücks lässt Zweifel aufkommen. Für selbsternannte Experten sowie die üblichen Spinner und Wichtigtuer war und ist eine vom Klabautermann geenterte „Mary Celeste“ viel wertvoller als ein Schiff, das einem schnöden Unfall zum Opfer fiel. Was wurde deshalb in die Ereignisse von 1872 hineininterpretiert! Mordlüsterne Piraten oder ebensolche Meeresungeheuer, giftige Gase aus dem Meer, Wasserhosen, kollektiver Wahnsinn oder ein misslungener Versicherungsbetrug – es wäre in der Tat nicht der erste Versuch gewesen – waren demnach über die „Mary Celeste“ gekommen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gesellten sich selbstverständlich die unvermeidlichen UFOs hinzu.

Solcher Unfug garantierte seinen Urhebern zu allen Zeiten die gewünschte Aufmerksamkeit des Massenpublikums. Hatte man den Bogen dabei überspannt, konnte man sich immer noch auf die Worte des englischen Schriftstellers J. H. Hornibrook berufen, den Wiese wie folgt zitiert: „Falls diese Version nicht akzeptiert wird, überlasse ich es der Einbildungskraft des Lesers, sich eine bessere auszudenken.“

Die eigentliche Geschichte der „Mary Celeste“ endete 1884. Da scheiterte die Brigantine auf den Klippen vor der Küste Haitis; ein letzter Versuch, die Versicherung zu überlisten, der aber – wie es für ein vom Unglück verfolgtes Schiff ziemt – bald entdeckt wurde. Doch die „Mary Celeste“ war zu diesem Zeitpunkt längst zum Mythos geworden, der weiterhin prächtig gedieh. Eigel Wieses „Das Geisterschiff“ ist ein knapper aber sachlicher und alle Aspekte des Rätsels erfassender Bericht, der in seiner Erstauflage zünftig in echtes Segeltuch gebunden erschien.

Taschenbuch: 191 Seiten
Originaltitel = dt. Erstveröffentlichung
http://www.luebbe.de

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