Agatha Christie – Und dann gab’s keines mehr. Rätsel-Krimi

Das geschieht:

Wer ist Ulick Norman Owen? Diese Frage stellen sich zehn Männer und Frauen, die von Herkunft und Lebensart verschiedener nicht sein könnten. Besagter Mr. Owen hat sie auf ein Wochenende am Meer eingeladen. Vor einiger Zeit erwarb er „Nigger Island“, eine Insel vor der Küste der englischen Grafschaft Devon, die von einem feudalen Landsitz gekrönt wird. Sehr schön und luxuriös ist es hier, aber leider auch recht abgeschieden. Es gibt keine Fährverbindung zum Festland. Das wird fatal für unsere zehn Gäste, die eben doch eine Gemeinsamkeit aufweisen: Sie alle hüten ein düsteres Geheimnis. In ihrer Vergangenheit haben sie sich diverser Verfehlungen und Verbrechen schuldig gemacht, die unentdeckt und folglich unbestraft blieben.

Der mysteriöse Mr. Owen hat davon erfahren. Er, der weiterhin unsichtbar bleibt, kündigt Gerechtigkeit an. Ohne die Möglichkeit der Flucht sollen die Zehn ihre Strafe erwarten, die stets mit dem Tod identisch ist. Auf Nachsicht können die ‚Gäste‘ nicht zählen. Einen nach dem anderen ereilt das Ende, das perfide vom alten Kinderreim der „Zehn kleine Negerlein“ inspiriert ist, der gut sichtbar in jedem Zimmer aushängt.

Verzweifelt und vergeblich suchen die Verfolgten nach einer Fluchtmöglichkeit. Also ergreift man die Flucht nach vorn und durchsucht die Insel nach dem Versteck, in dem Owen sich zwischen seinen Untaten verborgen halten muss. Als dies ohne Ergebnis bleibt, dämmert der Gruppe die schreckliche Wahrheit: Owen muss einer von ihnen sein! Als potenzielles Opfer hat er die beste Tarnung. Fortan belauert und verdächtigt man einander, während die Zahl der „Negerlein“ weiter abnimmt …

Rätsel-Krimi auf die Spitze getrieben

Seit jeher wird gegen den Whodunit, jene Variante des Kriminalromans, der sich dem Wettkampf zwischen Autor und Leser auf der Suche nach dem Täter verschrieben hat, der Vorwurf erhoben, er vernachlässige die schlüssige psychologische Zeichnung seiner Figuren und ihrer Motive zugunsten einer ausgetüftelt konstruierten, aber letztlich mechanischen Handlung, die nur den Fall und dessen Lösung in den Vordergrund stelle. Dem kann grundsätzlich zugestimmt werden, bloß: Was ist eigentlich dagegen einzuwenden? Gar nichts, wie uns Agatha Christie mit dem hier vorliegenden Werk belegt. Sie gibt niemals vor, mit „Und dann gab‘s keines mehr“ eine realistische Geschichte zu erzählen, sondern füllt ein reizvolles Gedankenspiel mit literarischem Leben.

Ein isolierter Ort, eine überschaubare Gruppe, keine Möglichkeit zur Flucht oder zum heimlichen Eindringen der Außenwelt. Trotzdem ereignen sich diverse Morde. Wie kann das angehen? Die Zahl der Möglichkeiten ist begrenzt, sie werden von der Autorin konsequent durchgespielt. Christies Kunst besteht nun darin, dem Leser die Möglichkeiten schlüssig vor Augen zu führen. Sieh genau hin, keine Tricks, du kannst meine Hände sehen, und trotzdem werde ich dich täuschen! So gelingt es auch Agatha Christie: Sie überzeugt uns, dass „Nigger Island“ ein Ort ohne geheime Kammern und Verstecke ist. Trotzdem sterben die Besucher.

Wie kann das geschehen? Ganz einfach: Christie versteckt eben doch ein As im Ärmel. Sie beherzigt die höchste Pflicht des Whodunit: Verkaufe dein Publikum niemals für dumm, aber sei stets schlauer als deine Leser! Folgerichtig gibt es noch eine Lösung, an die möglichst niemand gedacht hat. Sie ist gelinde gesagt kompliziert und verrückt, aber sie ist gleichzeitig absolut logisch (und soll hier selbstverständlich nicht verraten werden).

Um sich die Aufgabe noch zu erschweren, aber auch um den Unterhaltungswert zu steigern, lässt Christie ihren Mr. U. N. Owen (= „Mr. Unknown“ = „Mr. Unbekannt“) nach Vorgabe eines alten Kinderreimes morden. Zehn Gäste = zehn kleine Negerlein, und wer besagten Reim kennt, weiß um die reichlich morbiden Todesarten, die hier fröhlich besungen werden!

Sie haben nichts gemeinsam – oder doch?

Wer ist’s gewesen? Diese Frage beschäftigt den Leser, dessen Neugier sich steigert, je mehr Gäste ins Gras beißen müssen. Die Mechanik der Handlung führt dazu, dass die Figuren als Individuen weniger wichtig sind denn als Gruppe von Verdächtigen. Christie zeichnet sie deshalb mit deutlichen, aber flüchtigen Strichen: Die Männer und Frauen auf „Nigger Island“ bleiben uns fremd. Wir müssen und sollen sie auch gar nicht näher kennen lernen. So verharren wir in derselben Unsicherheit wie sie selbst: Jede/r ist verdächtig! Obwohl Agatha Christie in ihrer langen Karriere vielleicht zu viele Whodunits schrieb oder sogar produzierte, ist sie auch dafür berühmt geworden, mehrfach mit den Regeln dieses Genres gespielt und sie mehrfach in ihr Gegenteil verkehrt zu haben. „Mord im Orient-Express“ („Murder on the Orient Express“, 1934) und „Tod in den Wolken“ („Death in the Clouds“/„Death in the Air“, 1935) zählen zu den bekannten Beispielen, aber auch und ganz besonders der vorliegende Roman gehört dazu.

Hier steckt nicht eine Gruppe Unschuldiger in Schwierigkeiten. Die Zehn sind in der Tat Mörder oder haben durch Leichtsinn oder Pflichtvergessenheit den Tod anderer Menschen verursacht. Sie alle leugnen es zunächst, gestehen es später aber ein. Diese Offenheit geht einher mit dem allmählichen, dann immer rascher ablaufenden Verfall gesellschaftlicher Etikette. Was zunächst eine zugeknöpfte Schar fremder Menschen war, zerfällt archaisch in ums Überleben ringende, einander misstrauende, Bündnisse knüpfende und wieder verwerfende, zunehmend jede Maske fallen lassende Einzelkämpfer. Dieser Prozess wird von Christie überzeugend und nie zimperlich inszeniert und macht den Reiz aus, den „Und dann gab‘s keines mehr“ nicht nur auf Generationen von Krimilesern, sondern auch auf Theater- und Filmschaffende ausübte: Hier bieten sich einem Schauspielerensemble reizvolle Herausforderungen!

So wurde aus dem Roman bereits 1943 ein Bühnenstück – Agatha Christie hat es selbst verfasst – und 1945 ein Kinofilm. Regisseur René Clair schuf mit „And Then There Were None“ (dt. „Das letzte Wochenende“) die erste und wohl beste Fassung. Mindestens viermal (1965, 1975, 1989) wurde der Roman seitdem verfilmt. Weitaus größer ist die Zahl der Filme, die sich der Plot-Konstellation mehr oder weniger deutlich bedienen; u. a. deklinierte Renny Harlin es mit seinem Thriller „Mindhunters“ (2004) durch.

Exkurs: Lady Agathas zweifelhafter Nachruhm als „Rassistin“

„Und dann gab‘s keines mehr“ gehört zu den Klassikern des Kriminalromans und wird auch in Deutschland seit sechs Jahrzehnten ständig neu aufgelegt. Außerhalb des Genres wurde dieses Buch vor einigen Jahren aufgrund seines anrüchigen Titels bekannt. „Ten Little Niggers“ betitelte Christie ihr Werk 1939. So hatte Frank Green 1869 seinen unsterblich gewordenen Kinderreim genannt, welcher der Verfasserin als Grundlage für ihr streng konstruiertes Mordrätsel diente.

1869 durfte man das Wort „Nigger“ noch verwenden. 1939 war dies schon nicht mehr so selbstverständlich. Christie wurde das bewusst, als sie ihren Roman in die USA verkaufen wollte. Dort hätten die schwarzen Leser – zwar politisch und gesellschaftlich diskriminiert, aber als zahlende Kunden durchaus gern gesehen – womöglich verärgert reagiert. Also titelte man das Werk in „Ten Little Indians“ um – und stieß damit eine weitere ethnische Minderheit vor den Kopf. Kein Wunder, dass man mit dem nächsten Neu-Titel auf Nummer Sicher ging: „And Then There Where None“.

In Deutschland gab es lange keinen Grund zu solchem Tun: Hier hieß der Roman seit jeher neutral „Letztes Weekend“. Erst 1985 wurde er neu übersetzt und erhielt den Titel „Zehn kleine Negerlein“: korrekt, aber auch eine tickende Zeitbombe, die 2002 als deutsches Lehrstück explodierte. In diesem Jahr sollten die „Zehn kleinen Negerlein“ in Hannover als Theaterstück aufgeführt werden. Ein Verein namens „African Action“ monierte den Titel, was zunächst höchstens die immer dankbaren Medien interessierte. Aber genannter Verein alarmierte die „Antidiskriminierungsstelle“, die es in der niedersächsischen Landeshauptstadt gibt. Mit deutscher Gründlichkeit nahm sie ihre Arbeit auf, informierte die erstaunten Christie-Erben in London (wo sich bisher offenbar kein Protest erhoben hatte) und ließ nicht eher locker, bis diese einer Umtitelung des Theaterstücks für Deutschland zustimmten.

Weil man schon einmal dabei war, erweiterte man diese Zustimmung auf die Neuauflage des Buches, das seither ebenfalls „Und dann gab‘s keines mehr“ heißt. Leider konnte man handlungsintegrale Elemente wie „Nigger Island“, den Ort des Geschehens, nicht politisch korrigieren. Auch das alte Kinderlied „Zehn kleine Negerlein“ findet weiterhin mehrfach Erwähnung. Deshalb gab’s einleitend vorsorglich eine weitschweifige Entschuldigung an möglicherweise erregte Zeitgenossen. Und so ist diese Welt wieder ein besserer Ort geworden …

Autorin

Agatha Miller wurde am 15. September 1890 in Torquay, England, geboren. Einer für die Zeit vor und nach 1900 typischen Kindheit und Jugend folgte 1914 die Hochzeit mit Colonel Archibald Christie, einem schneidigen Piloten der Königlichen Luftwaffe. Diese Ehe brachte eine Tochter, Rosalind, aber sonst wenig Gutes hervor, da der Colonel seinen Hang zur Untreue nie unter Kontrolle bekam. 1928 folgte die Scheidung.

Da hatte Agatha (die den Nachnamen des Ex Gatten nicht ablegte, da sie inzwischen als „Agatha Christie“ berühmt geworden war) ihre beispiellose Schriftstellerkarriere bereits gestartet. 1920 veröffentlichte sie mit „The Mysterious Affair at Styles“ (dt. „Das fehlende Glied in der Kette“) ihren ersten Roman, dem sie in den nächsten fünfeinhalb Jahrzehnten 79 weitere Bücher folgen ließ, von denen vor allem die Krimis mit Hercule Poirot und Miss Marple weltweite Bestseller wurden.

Ein eigenes Kapitel, das an dieser Stelle nicht vertieft werden kann, bilden die zahlreichen Kino und TV Filme, die auf Agatha Christie Vorlagen basieren. Sie belegen das außerordentliche handwerkliche Geschick einer Autorin, die den Geschmack eines breiten Publikums über Jahrzehnte zielgerade treffen konnte (und sich auch nicht zu schade war, unter dem Pseudonym Mary Westmacott sechs romantische Schnulzen zu schreiben).

Mit ihrem zweiten Gatten, dem Archäologen Sir Max Mallowan, unternahm Christie zahlreiche Reisen durch den Orient, nahm an Ausgrabungen teil und schrieb auch darüber. 1971 wurde sie geadelt. Dame Agatha Christie starb am 12. Januar 1976 als bekannteste Krimi Schriftstellerin der Welt. (Wer mehr über Leben und Werk der A. C. erfahren möchte, wende sich hierher .)

Taschenbuch: 224 Seiten
Originaltitel: Ten Little Niggers or The Last Weekend/Ten Little Indians/And Then There Was None (London : HarperCollins 1939)
Übersetzung: Sabine Deitmer
http://www.atlantikverlag.de

eBook: 851 KB
ISBN-13: 978-3-455-17024-5
http://www.atlantikverlag.de

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