Agatha Christie – Die großen Vier

Das geschieht:

In der Londoner Wohnung des berühmten Ermittlers Hercule Poirot taucht verwirrt der englische Geheimagent Mayerling auf, der vor fünf Jahren spurlos in Russland verschwunden ist. Ihm bleibt nur die Zeit für die undeutliche Ankündigung großer Gefahr, bevor er ermordet wird: Die „großen Vier“ haben wieder zugeschlagen.

Es handelt sich um eine kopfstarke, ausgezeichnet vernetzte und auf allen Kontinenten präsente Organisation, deren vier Anführer die Weltherrschaft anstreben. Schon seit einiger Zeit haben sie es vor allem auf das britische Empire abgesehen, das sie durch Sabotageakte und internationale Intrigen zur Umsturzreife schwächen wollen.

An der Spitze der „Vier“ steht der Chinese Li Chang Yen, der mit einem US-Amerikaner und einer Französin zusammenarbeitet. Vierter im Bund ist der „Zerstörer“, ein ehemaliger Schauspieler, der in jede nur denkbare Verkleidung schlüpft, um die Gegner der Organisation auszuschalten. Auch Poirot, der wieder einmal von seinem alten Freund Captain Hastings begleitet wird, kreuzt mehrfach den Weg dieses Mannes, der praktisch unter den Augen des Detektivs mehrere wichtige Zeugen ermordet.

Die Jagd nach den „Vier“ nimmt viele Monate in Anspruch und führt den reisefaulen Poirot nicht nur zu immer neuen Tatorten in England, sondern auch auf den Kontinent. Erschwert werden die Ermittlungen durch Attacken der „Vier“, die sich durch die Ermittlungen zunehmend gestört fühlen. Mehrfach werden Poirot und Hastings in Todesfallen gelockt, denen sie nur dank der weisen Voraussicht des Detektivs entkommen, der seine „kleinen grauen Zellen“ dieses Mal besonders stark beanspruchen muss, bis es in den norditalienischen Dolomiten zur finalen Konfrontation kommt …

Gehfauler Agentenschreck im Sondereinsatz

1927 war Agatha Christie eine bereits erfahrene und erfolgreiche, gleichzeitig noch experimentierwillige und -fähige Autorin. Weit entfernt lagen jene Jahre, in denen sie geschickt aber auch zunehmend routinierter den Publikumsgeschmack bediente und Krimis präsentierte, die eher durch vertrackt unterhaltsame Plots als durch (rasante) Handlungen gefielen.

Gerade Hercule Poirot kann sich der erfahrene Christie-Leser nicht als Vorgänger von James Bond vorstellen. Dennoch setzt die Autorin ihn, der schon von seiner Figur der Prototyp eines „armchair detective“ ist, in „Die großen Vier“ als Actionhelden ein. Zwar lässt sie Poirot mehrfach tüchtig stöhnen über die Anstrengungen, denen er – angeblich ein alter, jeglicher Aufregung abholder Mann – zum Wohle des Abendlandes ausgesetzt wird. Nichtsdestotrotz erleben wir einen Poirot, der eilig von Tatort zu Tatort reist, tückischen Entführern und Attentätern entwischt und schließlich in der sprengstoffgespickten Höhle den schurkischen Löwen entgegentritt.

Alfred Hitchcock dürfte diesen Roman gekannt haben. Trotzdem griff er 1939 lieber auf eine Buchvorlage von John Buchan („Die 39 Stufen“) zurück, der das Thriller-Genre definitiv besser beherrschte als Christie. Sie hatte bemerkt, dass es ein Publikum für handlungsrasante Geschichten gab, die sich um Geheimagenten, Verschwörungen und Masken rankten. Auf diesen Zug wollte Christie aufspringen. Das Ergebnis ist „Die großen Vier“, ein ‚Buch‘ als Paradebeispiel dafür, wie man einen Thriller besser nicht konzipiert.

Weltverschwörung mit Supertechnik

Dass Hercule Poirot als Held eines solchen Garns denkbar ungeeignet ist, wurde bereits erwähnt. Die Zeit hat dem Plot zusätzlichen Schaden zugefügt. Was 1927 womöglich spannend und schlüssig wirkte, ist heute nur noch Klischee und nicht selten lächerlich. Dazu gehört vor allem die Annahme einer Multikulti-Superschurken-Bande, die sich den gesamten Globus untertan machen will, dabei aber so subtil vorgeht wie Ali Babas 40 Räuber aus 1001 Nacht. Tatsächlich spielen die angeblich so großen „Vier“ die Feinde der freien Welt nur; angesichts der unendlich umständlichen Tücken, mit denen sie sich Poirot entgegenstellen, dürften sie eigentlich keine Zeit haben, den Rest der Welt an sich zu reißen.

Der Geheimdienstalltag soll sich dem Leser nach Christies Willen als das „Große Spiel“ darstellen, wie u. a. Rudyard Kipling es in seinem Roman „Kim“ 1901 entworfen hatte. Agatha Christie kann diesbezüglich freilich nicht mithalten. Ungeschickt greift sie einschlägige Elemente auf, ohne sie anscheinend wirklich verstanden zu haben. Stattdessen pimpt sie den Thriller-Aspekt und übertreibt es dabei, indem sie – für das Geschehen völlig unerheblich – von Todesstrahlen, Super-Magneten und anderen Wunderwaffen fabuliert.

Gleichzeitig greift Christie mindestens so tief wie Edgar Wallace in die Mottenkiste zeitgenössischer Grusel-Klischees. So ist Li Chang Yen ein vorgeblich hochintelligenter Mann, wird aber als Bruder von Fu-Manchu vorgestellt, der schlitzäugig-sinister die „gelbe Gefahr“ repräsentiert und vollendete Manieren mit der Lust an exotischen Foltern und Morden kombiniert. Seine Handlanger haben Londons Hafenviertel buchstäblich unterwandert: Auch Christie mag nicht auf jene Vorstellung verzichten, nach der chinesische Strolche ameisenhaft ganze Stadtviertel unterminieren, um ihre Schlupfwinkel mit einem Gewirr unterirdischer Gänge zu verbinden. Dort, wo stets ein Dolchstoß aus dem Hinterhalt möglich ist, gehen sie ihrem exotischen und bereits deshalb per se verdächtigen bis gefährlichen Nachtwerk nach.

Krise als Vorwand

Solche Stummfilm-Tücken möchte Christie mit realpolitischen Ereignissen verknüpfen. Statt ihnen dadurch Leben einzuhauchen, macht sie sich erst recht lächerlich, indem sie ungelenk „Kommunisten“ = Diktatoren/Anarchisten = Revolutionäre/Umstürzler ins Spiel bringt und dabei entweder eine bemerkenswerte Naivität an den Tag legt oder die Realität allzu skrupellos in den Dienst scheinbarer Unterhaltung stellt. Tolerierbar ist dagegen die Glorifizierung der britischen Ordnungsmacht, wozu hier neben Scotland Yard ausdrücklich der Geheimdienst tritt: Der insulare Imperialismus hat in der populären Unterhaltung ein Eigenleben entwickelt, der ihn der wenig schmeichelhaften historischen Realität enthebt. „Polizisten“ und „Agenten“ stehen stellvertretend für „Piraten“, Musketiere“ oder „Cowboys“, wie es sie ebenfalls nur in der Trivialkultur gegeben hat.

Keinen Gefallen tut Christie ihren Lesern mit einem ‚dramatischen‘ Finale, das Poirot und Hastings ohne echte Begründung in eine Art Alpenfestung führt, die sich die „Vier“ irgendwie, irgendwann in den Fels haben hauen lassen. Die theatralische Kulisse dient einer eher kümmerlichen als aufregenden Konfrontationsszene; in der Inszenierung finaler Täterentlarvungen in Anwesenheit sämtlicher Verdächtiger legte Christie später wesentlich mehr Geschick an den Tag.

Dies gilt auch für die Handlung, die sich hier auf eine episodische, endlose, zunehmend mechanische Abfolge immer neuer, recht plumper Fallen, scheinrasanter Verfolgungsjagden und grotesk perfekter Masken beschränkt. Wen wundert’s, hat doch die geschäftstüchtige sowie in Geldnöte geratene Christie für „Die großen Vier“ zwölf Kurzgeschichten verschmolzen, die 1924 in „The Sketch Magazine“ (Ausgabe 1614-1625) separat erschienen waren. Sie wusste selbst um die Schwächen dieses Werkes, auf das sie selbstkritisch – zumal im Vergleich zum brutal deutlich besser geratenen Poirot-Vorgänger „The Murder of Roger Ackroyd“ (1926; dt. „Alibi“) – zu Recht nie stolz war. Ungeachtet dessen wurde „Die großen Vier“ ein beachtlicher Erfolg. Das Buch erschien, nachdem Agatha Christie im Dezember 1926 zehn Tage spurlos verschwunden gewesen und dann wieder aufgetaucht war, ohne Presse und Publikum über den Grund in Kenntnis zu setzen. Es profitierte von dem darum entfachten Rummel und löste Christies Finanzprobleme.

„Die großen Vier“ auf Sendung

Es lag wahrscheinlich an der ungewöhnlichen Story, dass „Die großen Vier“ erst 2013 und dann bereits in der 13. Staffel der englischen Erfolgsserie „Agatha Christie’s Poirot“ adaptiert wurde. Die Titelrolle spielte (in der Rolle seines Schauspielerlebens) zum 67ten Mal David Suchet; als Captain Hastings kehrte Hugh Fraser nach zwölfjähriger Abwesenheit in die alte Rolle zurück. Der altmodische Plot wurde um seine absurden Elemente erleichtert bzw. zu einem typischen Poirot-Fall abgemildert und so in einen ‚typischen‘ Rätselkrimi à la Agatha Christie umgewandelt.

Autorin

Agatha Miller wurde am 15. September 1890 in Torquay, England, geboren. Einer für die Zeit vor und nach 1900 typischen Kindheit und Jugend folgte 1914 die Hochzeit mit Colonel Archibald Christie, einem schneidigen Piloten der Königlichen Luftwaffe. Diese Ehe brachte eine Tochter, Rosalind, aber sonst wenig Gutes hervor, da der Colonel seinen Hang zur Untreue nie unter Kontrolle bekam. 1928 folgte die Scheidung.

Da hatte Agatha (die den Nachnamen des Ex Gatten nicht ablegte, da sie inzwischen als „Agatha Christie“ berühmt geworden war) ihre beispiellose Schriftstellerkarriere bereits gestartet. 1920 veröffentlichte sie mit „The Mysterious Affair at Styles“ (dt. „Das fehlende Glied in der Kette“) ihren ersten Roman, dem sie in den nächsten fünfeinhalb Jahrzehnten 79 weitere Bücher folgen ließ, von denen vor allem die Krimis mit Hercule Poirot und Miss Marple weltweite Bestseller wurden.

Ein eigenes Kapitel, das an dieser Stelle nicht vertieft werden kann, bilden die zahlreichen Kino und TV Filme, die auf Agatha Christie Vorlagen basieren. Sie belegen das außerordentliche handwerkliche Geschick einer Autorin, die den Geschmack eines breiten Publikums über Jahrzehnte zielgerade treffen konnte (und sich auch nicht zu schade war, unter dem Pseudonym Mary Westmacott sechs romantische Schnulzen zu schreiben).

Mit ihrem zweiten Gatten, dem Archäologen Sir Max Mallowan, unternahm Christie zahlreiche Reisen durch den Orient, nahm an Ausgrabungen teil und schrieb auch darüber. 1971 wurde sie geadelt. Dame Agatha Christie starb am 12. Januar 1976 als bekannteste Krimi Schriftstellerin der Welt. (Wer mehr über Leben und Werk der A. C. erfahren möchte, wende sich hierher.)

Taschenbuch: 220 Seiten
Originaltitel: The Big Four (London : William Collins & Sons 1927/New York : Dodd, Mead & Company 1927)
Übersetzung: Giovanni und Ditte Bandini
www.atlantikverlag.de

E-Book: 1060 KB
ISBN-13: 978-3-455-17056-6
www.atlantikverlag.de

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