Hoch in der Luft wird eine unbeliebte Dame ins Jenseits befördert. Mit an Bord des Fliegers: Detektiv Hercule Poirot, der auf bewährte Weise seine kleinen grauen Zellen strapaziert, um die scheinbar unmögliche Tat aufzuklären … – Agatha Christies Variation des klassischen „Whodunit“ versammelt erneut eine überschaubare Schar von Verdächtigen in einem verschlossenen Raum. Keiner kann’s, doch einer muss es gewesen sein, und gemeinsam mit Poirot ermittelt der Leser bis zum überraschenden Finale: Krimi Vergnügen der sowohl altmodischen als auch zeitlosen Art.
Das geschieht:
Vom Flugplatz Le Bourget in Frankreich hebt eine mit illustren Passagieren besetzte Maschine gen Croydon in England ab. Das Flugzeug „Prometheus“ hat 21 Plätze, zwei Stewards kümmern sich um das leibliche Wohl der Gäste, und zwei Piloten sorgen dafür, dass diese heil ihr Ziel erreichen. Daraus wird dieses Mal allerdings nichts, denn im hinteren Abteil kommt es zu einem unangenehmen Zwischenfall: Marie Morisot alias Madame Giselle, eine professionelle Geldverleiherin, wurde mit einem Blasrohr beschossen. Da der Pfeil in Schlangengift getaucht war, bleibt die Wirkung nicht aus. Der Mord geschah unauffällig und wäre womöglich gar nicht bemerkt worden, hätte es sich bei einem der Passagiere nicht um den berühmten Detektiv Hercule Poirot gehandelt, der natürlich sofort die Ermittlungen aufnimmt. Einen Mord quasi unter seinen Augen kann und will er nicht dulden; außerdem hat der Mörder – oder die Mörderin? – besagtes Blasrohr ausgerechnet unter seinem Sitz versteckt, was Poirot als dreiste Herausforderung betrachtet.
Mit seinem Freund Inspektor Japp, dem dieser Fall übertragen wird, ist Poirot sich einig, dass die Tat von einem der 11 Passagiere des hinteren Abteils begangen worden sein muss. Die Ermittlungen gestalten sich delikat, denn befragt werden müssen zwei Damen des Adels, die sehr ungnädig auf diese Zumutung reagieren, zwei Ärzte mit zumindest theoretischer Kenntnis tödlicher Gifte, zwei Archäologen, die mit primitiven Waffen vertraut sind, ein Kriminalschriftsteller, der sich als Plot für eines seiner Bücher jüngst einen Mord per Blasrohr ausgedacht hat, ein Geschäftsmann in Geldnöten und eine reizende junge Engländerin. Sie alle leugnen selbstverständlich, Madame Giselles Ende herbeigeführt zu haben.
Poirot aktiviert seine kleinen grauen Zellen und beginnt die Verdächtigen geschickt aus der Reserve zu locken. Er ermittelt ungeahnte, weil sorgfältig geheim gehaltene Fakten, die sie alle mit der Verstorbenen in Verbindung bringen, und lädt schließlich zu einer finalen Gesprächsrunde ein, in deren Verlauf er nicht nur das Verbrechen rekonstruiert, sondern auch den Täter entlarvt …
Perfekter Mord in exotischer Umgebung
„Whodunit“ – Wer hat’s getan? Diese Frage in möglichst spannender Form zu beantworten, bedeutete für Agatha Christie eine lebenslange Herausforderung, die sie bekanntlich überzeugend zu meistern wusste. „Tod in den Wolken“ gehört nicht nur zu den Werken aus einer Zeit, als die Autorin mit noch frischen Kräften ihr Garn spann, sondern ist auch in einer Ära entstanden, die generell als Glanzzeit des Genres gilt.
Die Kunstfertigkeit, mit der Christie zu unterhalten weiß, beeindruckt um so mehr, führt man sich vor Augen, wie eng sie selbst die Grenzen zieht: Der Täter muss aus dem Kreis der uns vorgestellten Personen stammen, so erfordert es die Fairness, die uns zudem ein Miträtseln gestattet. Damit der Plot überzeugt, muss die Gruppe der Verdächtigen zumindest zum Zeitpunkt der Tat isoliert bleiben: Es darf nicht geschehen, dass der Mörder von außen ins Geschehen drängt. Der Schauplatz muss übersichtlich sein, doppelte Böden und geheime Gänge wären ausgesprochen unsportliche Tricks. (Christie bekräftigt diesen Standpunkt, indem sie in einer amüsanten Passage Poirot zeigt, der sich vom in den Fall involvierten Schriftsteller einen ‚logischen‘ aber absurden Tathergang schildern lässt, der so übernommen ausgesprochen unfair wäre.)
Freilich gibt es gar nicht so viele Orte, an denen sich Mordverdächtige plausibel zusammensperren lässt. Als Christie 1935 „Tod in den Wolken“ schrieb, hatten das einsam gelegene Landhaus, die Insel oder der Ozeandampfer schon weidlich Verwendung gefunden. Die Verfasserin hatte zwei Jahre zuvor eine noble Variante gefunden und einen „Mord im Orientexpress“ stattfinden lassen. Nunmehr verhalf ihr ein weiterer Geistesblitz zu einem ‚frischen‘ Schauplatz. Mitte der 1930er Jahre war es noch keineswegs selbstverständlich mit dem Flugzeug zu reisen. Zwar gehen die Anfänge des britischen Passagierflugs bereits auf das Jahr 1919 zurück, doch für Christie war die Existenz eines Großraumflugzeugs unerlässlich, denn nur dort konnte sie mehr als zwei oder drei Verdächtige zusammenbringen. Solche Maschinen gab es erst kurze Zeit, und Christie gehörte zu den ersten, die sie auf ihre Tauglichkeit als Tatort überprüften.
Der Zauber einer versunkenen Ära
Die Inszenierung des Mordes an seinem exotischen Schauplatz bildet Auftakt und Höhepunkt des Romans. Der eigentliche Plot, der das Verbrechen begründet und von Poirot zusammengepuzzelt wird, wirkt dagegen reichlich vage bzw. umständlich. Das mag jedoch vor allem uns Lesern des 21. Jahrhunderts so erscheinen; „Tod in den Wolken“ spielt im Rahmen eines zwar literarisch verfremdeten, doch auf historischen Tatsachen ruhenden Zeit und Gesellschaftsbildes, das fremd ist und ein kriminelles Vorgehen, wie es hier beschrieben wird, womöglich nicht so seltsam wirken lässt.
Wie es für den „Whodunit“ typisch ist, unterscheiden sich die Verdächtigen in Herkunft und Stellung möglichst stark, was die Zahl der möglichen Motive erhöht und die Ermittlungen reizvoll erschwert. Poirot bzw. Christie ergehen sich großzügig in vagen Andeutungen und decken Informationen auf, die uns immer wieder auf den Täter oder die Täterin tippen lassen, bis Detektiv und Autorin das Ruder erneut herumreißen. Dieses Spiel beherrscht Christie perfekt, und sie erhöht seinen Reiz, indem sie ihre Figuren und deren Charaktere überzeichnet. Ihr Gebaren dient als Maske und als Muster: Hinter ersterer verbergen sie sich, während die klare Abgrenzung der Rollen diese für die Leser leicht identifizierbar und unterscheidbar macht und der Verfasserin weitere Täuschungsmanöver ermöglichen.
Madame Giselle, unser Opfer, ‚arbeitete‘ beispielsweise als private Geldverleiherin. Zu ihr ging man, wenn man die Banken scheute und Diskretion mit der Zahlung deutlich höherer Zinsen erkaufte. Kam man mit diesen in Verzug, setzte Madame die Daumenschrauben an. Muss Poirot also nur herausfinden, wer so tief bei der Ermordeten in der Kreide stand, dass es eine Verzweiflungstat provozierte? So einfach macht es Christie Poirot und den Lesern nicht. Viele zunächst viel versprechende aber falsche Fährten werden gelegt und argumentative Nebelkerzen gezündet, bis nur noch einer die Übersicht behält: Hercule Poirot.
Flugkranker Detektiv behält die Übersicht
Der tritt seine Flugreise ohne seinen ‚Watson‘ Hastings an; der wird ersetzt durch die (täuschend?) naive Unschuld Jane Grey und den bewährten, braven und notorisch vernagelten Inspektor Japp, dem dieses Mal der steife Monsieur Fournier von der Pariser Sûreté zur Seite steht. Dieses Trio ist primär für dumme Fragen, deduktive Fehler und übereifrige Schlussfolgerungen zuständig, die Poirot geduldig (und selbstgefällig) korrigiert. Das streckt die Handlung und sorgt für Ablenkung, hinter der sich der Mörder verstecken kann.
Poirots Job ist es, uns im Finale zu erläutern, was gewesen ist. Er ist der Detektiv schlechthin – ein Kopfmensch ohne Empfindungen, die über sein kriminalistisches Handwerk hinausgehen. Genau so stilisiert muss er sein, damit sich der gewünschte Effekt einstellt, den die Freunde des Rätselkrimis so lieben: Poirot sorgt in seiner kleinen Welt für Ordnung und löst im Alleingang alle Probleme, was in des Lesers Realität leider nicht so reibungslos funktioniert. Poirot als buchstäblich menschliches Wesen ist dagegen uninteressant; die Darstellung des Detektivs oder Polizisten als Mensch mit Gefühlen und Schwächen ist dem klassischen „Whodunit“ fremd. Der Ermittler erledigt seinen Job und wartet anschließend ungeduldig auf den nächsten Fall.
So hält Agatha Christie, „professional writer“ der Oberklasse, das Steuer einmal mehr fest in ihrer Schreibhand. Mit „Tod in den Wolken“ setzt sie die Regeln des „Whodunit“ lehrbuchmäßig um und präsentiert ein wendungs und temporeiches Buch, das ebenso altmodisch wie zeitlos, d. h. nostalgisch ist und nicht grundlos zu den ‚großen‘ Werken dieser Autorin gezählt wird.
Autorin
Agatha Miller wurde am 15. September 1890 in Torquay, England, geboren. Einer für die Zeit vor und nach 1900 typischen Kindheit und Jugend folgte 1914 die Hochzeit mit Colonel Archibald Christie, einem schneidigen Piloten der Königlichen Luftwaffe. Diese Ehe brachte eine Tochter, Rosalind, aber sonst wenig Gutes hervor, da der Colonel seinen Hang zur Untreue nie unter Kontrolle bekam. 1928 folgte die Scheidung.
Da hatte Agatha (die den Nachnamen des Ex Gatten nie ablegte, da sie inzwischen als „Agatha Christie“ berühmt geworden war) ihre beispiellose Schriftstellerkarriere bereits gestartet. 1920 veröffentlichte sie mit „The Mysterious Affair at Styles“ (dt. „Das fehlende Glied in der Kette“) ihren ersten Roman, dem sie in den nächsten fünfeinhalb Jahrzehnten 79 weitere Bücher folgen ließ.
Besagtes Debütwerk von 1920 markierte zugleich den ersten Auftritt des verschrobenen belgischen Meisterdetektivs Hercule Poirot. Er war seiner geistigen Mutter liebstes Kind, begleitete sie durch 33 Romane und unzählige Kurzgeschichten bis ins Grab: „The Final Curtain“ (1976, dt. „Vorhang“) erschien kurz nach dem Tod von Agatha Christie.
Ein eigenes Kapitel, das an dieser Stelle nicht vertieft werden kann, bilden die zahlreichen Kino und TV Filme, die auf Agatha Christie Vorlagen basieren. („Death in the Clouds“ wurde übrigens 1992 im Rahmen der Serie „Poirot“ mit David Suchet in der Titelrolle für das britische Fernsehen verfilmt.) Sie belegen das außerordentliche handwerkliche Geschick einer Autorin, die den Geschmack eines breiten Publikums über Jahrzehnte zielgerade treffen konnte (und sich auch nicht zu schade war, unter dem Pseudonym Mary Westmacott sechs romantische Schnulzen zu schreiben).
Mit ihrem zweiten Gatten, dem Archäologen Sir Max Mallowan, unternahm Christie zahlreiche Reisen durch den Orient, nahm an Ausgrabungen teil und schrieb auch darüber. 1971 wurde sie geadelt. Dame Agatha Christie starb am 12. Januar 1976 als bekannteste Krimi Schriftstellerin der Welt. (Wer mehr über Leben und Werk der A. C. erfahren möchte, wende sich hierher.)
Taschenbuch: 224 Seiten
Originaltitel: Death in the Clouds (London : Collins for The Crime Club 1935)
Übersetzung: Sabine Herting
http://www.atlantik-verlag.de
eBook: 1126 KB
ISBN-13: 978-3-455-17118-1
http://www.atlantik-verlag.de
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