Agatha Christie – Hercule Poirots Weihnachten

Das geschieht:

Über Gorston Hall in der englischen Grafschaft Middleshire herrscht Simeon Lee. Auf den Diamantenfeldern Südafrikas hat er sein Vermögen auf die harte Tour gemacht. Schwäche ist ihm verhasst, seine Gattin hat er durch ständige Affären früh ins Grab gebracht, die meisten seiner zahlreichen Kinder sind im Streit gegangen. Nur der gutmütige Alfred ist mit Ehefrau Lydia beim Vater geblieben, der ihnen das Leben mit boshaftem Vergnügen zur Hölle macht.

Zum diesjährigen Weihnachtsfest lädt Simeon zum allerseits großen Erstaunen seine sämtlichen Nachkommen ein. Nicht nur der Maler David Lee und Gattin Hilda sowie der Abgeordnete George Lee und seine deutlich jüngere Ehefrau Magdalena reisen an, sondern sogar Harry, der vor Jahren den Vater bestahl und ins Ausland verbannt wurde. Erstmals gekommen ist Pilar Estravados, Tochter von Jennifer, der verstorbenen einzigen Tochter des alten Lee. Ein Zufallsgast wird der junge Stephen Farr aus Südafrika, mit dessen Vater Simeon einst in Südafrika geschürft hat.

Schon kurz nach ihrer Ankunft wird den Lees bewusst, dass Simeon sie keineswegs eingeladen hat, um sich mit ihnen zu versöhnen. Stattdessen verhöhnt der alte Mann am Heiligen Abend seine Familie und kündigt ein neues Testament an. Kurz darauf wird Simeon in seinem von innen verschlossenen Schlafzimmer die Kehle durchgeschnitten.

Polizeichef Colonel Johnson überträgt Inspektor Sugden den Fall. Da er den Beamten für etwas fantasiearm hält, bittet er einen alten Freund um beratende Unterstützung: Meisterdetektiv Hercule Poirot sagt zu – und gerät in ein Wespennest: Auf Gorston Hall belauern die Familienangehörigen einander. Sie wissen so gut wie die Polizei, dass einer der ihren den Mord begangen haben muss. Poirot beschäftigt weniger der klassische ‚unmögliche‘ Mord. Er sieht den Schlüssel zur Lösung des Falls in der psychologisch kruden Familiengeschichte der Lees …

Friede auf Erden, Krieg auf Gorston Hall

Böse, alte Familientyrannen sind im klassischen Rätselkrimi eine Institution. Sie lassen ihre Launen an denen aus, die ihnen ausgeliefert sind. Die Strukturen einer vergangenen Ära verschaffen ihnen das notwendige Werkzeug: ein großes Vermögen sowie die alleinige Verfügungsgewalt darüber. Wer wie Simeon Lee seinen Reichtum mit harter Arbeit und auf krummen Wegen erwarb, hockt mit besonderer Intensität auf seinem Schatz. Der Sozialkodex ist auf seiner Seite: Für seine Kinder sorgt man, aber wenn dies geschieht, herrscht man auch über sie und jene Unglücklichen, die durch Heirat in die Familie geraten sind.

Simeon Lee hat seine Kinder charakterlich gewogen und sämtlich für zu leicht befunden. Er ist ein Raubritter und ein Rabenvater; er weiß es und kann ausgezeichnet damit leben. Die Enttäuschung über eine Brut, die ihm trotz ihrer Kopfstärke keine Enkel bescherte, schürt seine Wut, die er vor allem an Alfred auslässt, der doch nur ein guter Sohn sein will und nicht versteht, dass Simeon sich einen vor allem starken Sohn wünscht.

Das Weihnachtsfest auf Gorston Hall wird so zum weiteren Glied in einer langen Kette von Familienstreitigkeiten, die in Wut, Demütigung und Streit enden. Simeon genießt das, aber dieses Mal hat er den Bogen überspannt. Endlich findet er ein Familienmitglied, das ihm Paroli bietet. Da Vernunft oder Mäßigung nie zum Verhaltensrepertoire der Lees gehörten, überlebt Simeon seinen Triumph nicht.

Krimi-Mysterium und Familien-Psychologie

Scheinbar legt Agatha Christie einen typischen „Whodunit“ vor. Simeon wird der Hals in einem von innen verschlossenen Raum durchgeschnitten. Es gibt nur eine Tür, das Fenster fällt als Fluchtweg des Mörders ebenfalls aus, und Geheimgänge existieren selbstverständlich nicht; Christie hat solche faulen Tricks nicht nötig.

Zum Mysterium eines ‚unmöglichen‘ Mordes kommen Indizien, die nicht einmal Poirot einordnen kann. Trotz intensiver Bemühungen misslingt eine Kartierung der in der Tatnacht im Haus Anwesenden, von denen eine/r ein/e Mörder/in sein muss. Normalerweise würde Poirot den gordischen Knoten dennoch durchschlagen und im Finale mit einer unerwarteten aber genialen Entschlüsselung der seltsamen und lückenhaften Beweise und Spuren aufwarten. Stattdessen wartet Christie mit einer wesentlich wirkungsvolleren Auflösung auf: Poirot arbeitet nicht mit den Indizien, sondern ignoriert sie irgendwann, um zu einer effektiveren Methode überzugehen: Der Detektiv wird zum Psychologen.

Mord ist ein zutiefst menschliches Verbrechen. Es wurzelt im Hirn des Täters, und es wird ausgelöst durch Handlungen und Äußerungen des Opfers. Diese können verschwiegen aber nicht getilgt werden. Indizien lassen sich dagegen fälschen. Ein Sherlock Holmes ließe sich auf diese Weise wahrscheinlich täuschen. Hercule Poirot hat sich dagegen als Detektiv weiterentwickelt. In seinem 19. Fall stellt er den menschlichen Faktor über den Beweis.

Familie plus Weihnachten: eine teuflische Mischung

Jene sachte aber präsente Spannung, die der Freund des Rätselkrimis sucht, leidet darunter erstaunlicherweise nicht. Christie ergänzt den klassischen „Whodunit“, indem sie ihn über die üblichen Ermittlungsroutinen bzw. -mechanismen erhebt, ohne zu langweilen und damit jenen Schritt zu viel zu machen, den allzu viele Autoren für erforderlich halten, um einen profanen Krimi zu ‚richtiger‘ Literatur zu adeln.

Natürlich überspitzt sie. Die Lees von Gorston Hall sind eine allzu vorbildlich schreckliche Sippe. Jedes Mitglied repräsentiert exemplarisch aber sorgfältig herausgearbeitet menschliche Schwächen. Auf diese Weise wird das Versagen als Familie umso deutlicher. Geschickt und – wie aus dem Geschehen eindeutig hervorgeht – keineswegs zufällig gewählt ist das Datum der unheilvollen Zusammenkunft: Weihnachten, das Fest der Liebe, ist dort gefürchtet, wo es keineswegs versöhnungsfreudige Zeitgenossen zusammenführt. Dennoch gehen die jüngeren Lees dem alten Simeon in die Festtags-Falle.

Allerdings hat der diabolische Alte die Temperatur in dem Kessel unterschätzt, unter dem er das Feuer kräftig angeheizt hat. Unterdrückte Emotionen suchen sich ihren Weg. Gibt es kein Ventil, bahnen sie ihn sich gewaltsam. Christie beschreibt kein geniales Verbrechen, sondern eine geschickt eingefädelte Rache. Letztlich geht es auf Gorston Hall nicht um Geld, sondern um verletzte Gefühle.

Ein Ende mit vielen Überraschungen

Christie lässt es ihrer Geschichte an Spannung niemals fehlen, Leerlauf gibt es nicht. Der Leser wird immer neugieriger, je eindeutiger wird, dass sich die Indizien beim besten Willen nicht zu einer Rekonstruktion der Mordnacht fügen. Gleichzeitig sorgt Christie dafür, dass sich unter den zahlreichen Verdächtigen niemand als Täter herauszukristallisieren beginnt. Im Gegenteil: Sie reiht der Schar weitere potenzielle Mörder ein – den undurchsichtigen Kammerdiener, die spanische Schönheit, den ‚zufälligen‘ Besucher aus Südafrika.

Das große Finale stellt sich zunächst als übliche Versammlung sämtlicher Beteiligter dar, vor denen sich Poirot aufbaut, um den Anwesenden = dem Leser zu berichten, was sich tatsächlich ereignet hat, um dies dramatisch mit der Entlarvung des Mörders zu krönen. Der Leser erwartet Überraschungen, doch er wird mit einem wahren Wechselbad erstaunlicher Enthüllungen konfrontiert. In rascher Folge werden falsche Identitäten gelüftet, unter denen sich weitere Lügen verbergen.

Schließlich gelingt es Christie, mit dem wahren Täter ein weiteres As aus dem Ärmel zu zaubern. Diese Auflösung überrascht wirklich. Der Leser mag sich zwar stärker als sonst manipuliert fühlen, muss aber nachträglich zugeben, dass Christie genrekonform entsprechende Hinweise in die Handlung eingestreut hat. Man hat sie wie üblich nicht entdeckt oder verstanden.

Schon die zeitgenössische Kritik reagierte positiv auf eine Agatha Christie in Bestform. „Hercule Poirots Weihnachten“ zählt im angelsächsischen Sprachraum zu den Meisterwerken der Autorin. In Deutschland genießt dieser Roman dagegen nicht die Wertschätzung wie „Mord im Orient-Express“, „Der Tod auf dem Nil“ oder „Die Morde des Herrn ABC“ u. a. Poirot-Krimis, was sich auch daran erkennen lässt, dass er erst 1961 übersetzt wurde. Die (Wieder-) Entdeckung ist überfällig und für den Leser ein Erlebnis: Nicht viele Klassiker haben gleichzeitig eine nostalgische Patina angenommen und sind darunter so frisch geblieben.

„Hercule Poirots Weihnachten“ im Film

Zwar wurde der Roman nie für das Kino verfilmt, fand aber selbstverständlich Aufnahme in die BBC-Serie „Agatha Christie’s Poirot“, in der David Suchet in der Rolle seines Lebens seit 1989 (!) den belgischen Meisterdetektiv spielt. „Hercule Poirot’s Christmas“ wurde als spielfilmlange Doppelfolge im Januar 1995 ausgestrahlt. Schauspiel-Veteran Vernon Dobtcheff gab wunderbar widerlich den alten Simeon Lee. Für diese TV-Version wurden einige Figuren gestrichen und andere verändert; so steht Poirot nicht Colonel Johnson, sondern der den Zuschauern aus anderen „Poirot“-Fällen bekanntere Inspektor Japp zur Seite.

2006 entstand für den französischen Sender „France 2“ die vierteilige Mini-Serie „Petits Meurtres en Famille“. Das Geschehen wurde in die Bretagne verlegt, wo 1939 der intrigante Patriarch Simon Le Tescou (Robert Hossein) zu seinem 70. (und letzten) Geburtstag einlädt. Poirot wurde durch das Polizei-Duo Commissaire Jean Larosière (Antoine Duléry) und Inspecteur Émile Lampion (Marius Colucci) ersetzt, die in ihren Rollen so erfolgreich waren, dass „France 2“ 2009 sie in zwölf weiteren Fällen nach Agatha Christie ermitteln ließ.

Autorin

Agatha Miller wurde am 15. September 1890 in Torquay, England, geboren. Einer für die Zeit vor und nach 1900 typischen Kindheit und Jugend folgte 1914 die Hochzeit mit Colonel Archibald Christie, einem schneidigen Piloten der Königlichen Luftwaffe. Diese Ehe brachte eine Tochter, Rosalind, aber sonst wenig Gutes hervor, da der Colonel seinen Hang zur Untreue nie unter Kontrolle bekam. 1928 folgte die Scheidung.

Da hatte Agatha (die den Nachnamen des Ex Gatten nicht ablegte, da sie inzwischen als „Agatha Christie“ berühmt geworden war) ihre beispiellose Schriftstellerkarriere bereits gestartet. 1920 veröffentlichte sie mit „The Mysterious Affair at Styles“ (dt. „Das fehlende Glied in der Kette“) ihren ersten Roman, dem sie in den nächsten fünfeinhalb Jahrzehnten 79 weitere Bücher folgen ließ, von denen vor allem die Krimis mit Hercule Poirot und Miss Marple weltweite Bestseller wurden.

Ein eigenes Kapitel, das an dieser Stelle nicht vertieft werden kann, bilden die zahlreichen Kino und TV Filme, die auf Agatha Christie Vorlagen basieren. Sie belegen das außerordentliche handwerkliche Geschick einer Autorin, die den Geschmack eines breiten Publikums über Jahrzehnte zielgerade treffen konnte (und sich auch nicht zu schade war, unter dem Pseudonym Mary Westmacott sechs romantische Schnulzen zu schreiben).

Mit ihrem zweiten Gatten, dem Archäologen Sir Max Mallowan, unternahm Christie zahlreiche Reisen durch den Orient, nahm an Ausgrabungen teil und schrieb auch darüber. 1971 wurde sie geadelt. Dame Agatha Christie starb am 12. Januar 1976 als bekannteste Krimi Schriftstellerin der Welt. (Wer mehr über Leben und Werk der A. C. erfahren möchte, wende sich hierher.)

Taschenbuch: 266 Seiten
Originaltitel: Hercule Poirot’s Christmas (London : Collins 1938/New York : Dodd, Mead & Company 1939)
Übersetzung: Michael Mundhenk
http://www.atlantikverlag.de

eBook: 923 KB
ISBN-13: 978-3-455-17062-7
http://www.atlantikverlag.de

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