Jo Nesbö (Nesbø) – Doktor Proktor verhindert den Weltuntergang. Oder auch nicht … (Lesung)

Doktor Proktor:

1) „Doktor Proktors Pupspulver“
2) „Doktor Proktors Zeitbadewanne“
3) „Doktor Proktor verhindert den Weltuntergang. Oder auch nicht …“

Skurril, aber gefährlich: Invasion der Mondchamäleons

Ganz Norwegen ist von einem bösen Kapellmeister hypnotisiert worden. Ganz Norwegen? Nein, Lise und Bulle nicht. Sie haben aber das bestimmte Gefühl, dass ihr Kunstlehrer, der mit Vorliebe Insekten verspeist, in die rätselhafte Sache verwickelt ist.

Die wenden sich ratsuchend an ihren Freund Doktor Viktor Proktor. Doktor Proktor ist ein verrückter Professor. Na ja, beinahe vielleicht – eigentlich ist er ja ein genialer Erfinder. Er berichtet, dass es sich um Mondchamäleons handeln muss – über ihre Existenz gab es schon 1969 Gerüchte. Sie tarnen sich wie Chamäleons, kommen aber vom Mond. Ja, um was zu tun? Sie klauen Socken, naja. Aber was haben sie vor? Und wieso will der Kapellmeister, der nun Präsident geworden ist, unbedingt Dänemark und den Rest der Welt angreifen? Da hat Bulle (wieder mal) eine seiner „Ideen“. O nein, denkt Lise.

Der Verlag empfiehlt das Hörbuch ab 8 Jahren.

Der Autor

Jo Nesbø, geboren 1960, ist Ökonom, Schriftsteller und Musiker und gilt in seiner Heimat Norwegen als das neue Multitalent. Sein erster Roman „Das Fledermausmuseum“ wurde in Norwegen 1997 mit dem Riverton-Preis als bester Krimi des Jahres ausgezeichnet. Mit „Rotkehlchen“ gelang ihm der Durchbruch und seit der Veröffentlichung von „Die Fährte“ ist er ein Bestsellerautor. Inzwischen erscheinen seine Bücher in 14 Sprachen. (Verlagsinfo)

Der Sprecher

Andreas Schmidt, geboren 1963 im Sauerland, spielte bereits mit elf seine erste Titelrolle in dem TV-Film „Alwin auf der Landstraße“. Er studierte zunächst Germanistik und Philosophie, wandte sich aber doch lieber der Schauspielerei zu und besuchte diverse Seminare. Sein Kinodebüt gab er 1987 in der überdrehten Komödie „Peng! Du bist tot!“. Für seine Leistung in „Pigs will fly“ wurde Schmidt 2003 für den Deutschen Filmpreis als Bester Hauptdarsteller nominiert. Erneut wurde er 2006 für „Sommer vorm Balkon“ vorgeschlagen. Seine jüngste Hauptrolle spielte er 2008 in der viel beachteten Tragikomödie „Fleisch ist mein Gemüse“. (Verlagsinfo) Schmidt liest eine von Tanja Weimer erstellte Lesefassung.

Regie führte Ralf Ebel, die Technik steuerten Ahmed Chouraqui und Max von Werder.

Handlung

Lise und Bulle bemerken merkwürdige Dinge in ihrer Straße und in der Schule. Alle glotzen die TV-Schau „Konkurrenz“ und wählen per Telefon den schwedischen Kapellmeister Halvard Tenoressen und seinen Chor „Funny Voices“ zum Sieger des Wettbewerbs. Sie haben am besten Songs von ABBA, pardon: BABA, dargeboten. Und was tut der Kerl? Er will Präsident von Norwegen werden …

In der Schule haben die Menschen Probleme mit Doppelkonsonanten und schreiben „Welltkrieg“, wie Lise verdrießlich feststellt (und korrigiert). Die beiden dicken Trane-Zwillinge fügen ein J in fast jedes zweite Wort ein: Kajaffe, Schujele. Was soll das? Und wohin verschwinden all die Socken? Bulle verfolgt eine Spur im Schnee: eine Sockenspur. Nur dass aus der Socke des Spurverursachers lange Zehen herausstehen. Seltsam in der Tat.

Ratlos besuchen sie ihren einzigen Freund, Dr. Proktor, den genialen Erfinder. Aber wo ist er? Da, auf dem Dachfirst! Er balanciert darauf und weil er seine Doppeldämpfer trägt, hört er sie nicht. Als Lise einen Schneeball wirft und ihn trifft, stürzt er ab – direkt in eine Schneewehe. Er trägt neue Balancierschuhe, verkündet er stolz. Aber sie müssen noch perfekt gemacht werden, deshalb darf Bulle, der rothaarige Zwerg, keine Tests damit durchführen, sehr zu Bulles Frust. Zum Trost gibt es für alle Karamellpudding.

Dr. Proktor hat eine ungewöhnliche Erklärung für die sonderbaren Phänomene: ein Mondchamäleon. Das heißt, ein Chamäleon, das vom Mond kommt. Das war zwar 1969, als er noch in Paris studierte und die ersten Menschen vom Mond zurückkehrten (und vielleicht etwas mitbrachten), nur ein Gerücht, aber mittlerweile hat er den Eindruck, dass die Chamäleons in Oslo umgehen. Sie sind scharf auf Socken und selbstredend können sie sich tarnen, aber mit Doppelkonsonanten haben sie massive Probleme. In seinem Buch über „Tiere, denen du nie begegnen willst“, kann Bulle Mondchamäleons nicht finden.

Die größte Gefahr, so Dr. Proktor, gehe jedoch von ihrer Fähigkeit aus, Menschen zu hypnotisieren. Der Hypnotisierte ist wehrlos und entwickelt einen Sprachfehler. Das fällt Lise wieder ein, als sie ihre Eltern sprechen will. Sie wollen auf keinen Fall von der Ansprache des neuen Präsidenten Halvard Tenoressen abgelenkt werden. Lise sieht kein Fernsehen, und Bulle auch nicht, ebenso wenig Dr. Proktor, denn der hat noch eine alte, nutzlose Antenne. Werden Menschen also mit Hilfe des Fernsehens hypnotisiert?

Aber wie merkt man den Unterschied, fragen sich die drei Freunde. Gibt es überhaupt noch Nichthypnotisierte? Lise und Bulle begeben sich auf eine gefährliche Mission, um ihre beiden Lehrer Rosemarie Strobe (die so gerne aufs Katheder haut) und den höchst seltsamen Kunstlehrer Gregor Galvanius zu beschatten. Denn der verspeist für sein Leben gern Insekten…

Mein Eindruck

Ja, es ist schon eine höchst seltsame Verschwörung, der Lise, Bulle und Dr. Proktor auf die Spur kommen. Die Mondchamäleons haben die Herrschaft über die „Vereinigten Staaten von Norwegen“ übernommen und den König ins Exil nach Südtröndelaar getrieben. Allerdings sind sie durch ihre Hypnosefähigkeiten und das Geschick, sich vor jeglichem Hintergrund unsichtbar zu machen, sehr schwer zu bekämpfen.

Die einzigen Anzeichen, wie man sie erkennen kann, sind geklaute Socken, ihre Unfähigkeit, Doppelkonsonanten auszusprechen – und riesige Hämorrhoiden. Besonders merkwürdig ist, dass sie fast alle schwedische Namen haben und die Weltherrschaft übernehmen wollen – zusammen mit ihren Verwandten vom Mond.

Der Widerstand

Aber bei der Ermittlung kann es ja nicht bleiben, darüber sind sich die Widerständler einig. Aber was können sie wirklich unternehmen? Da haben sie eine glorreiche Idee: Wenn die Chamäleons vom Mond das TV nutzen, um die norwegischen Bürger zu hypnotisieren, so ist jemand vonnöten, der über gleiche hypnotische Fähigkeiten verfügt. Wer wäre dafür besser geeignet als der König? Denn dessen Weihnachts- und Neujahrsansprache lullen regelmäßig jeden Zuschauer unweigerlich in den Schlaf, der das Pech hat, sie sich anzusehen.

Die Expedition

In einer wagemutigen Expedition, die sie auf abenteuerlichen Wegen (und in Anwendung des genialen Pupsonautenpulvers aus Abenteuer 1) ins verbotene Ausland von Südtröndelaar führt, begeben sich die norwegischen Untergrundkämpfer um Dr. Proktor zum König. Doch der löst lieber Kreuzworträtsel, als sich um seine eroberten norwegischen Untertanen zu kümmern. Jedenfalls solange, bis Frau Strobe mal ordentlich auf den Tisch haut und ihm die Leviten liest.

Allerdings leider haben alle die Rechnung ohne den Butler des Königs gemacht. Dieser ist ein Spion der Mondchamäleons und soll alle Rebellen töten und FRESSEN. Doch da haben die Rebellen und eine kleine siebenbeinige peruanische Saugespinne namens Perry noch ein Wörtchen mitzureden!

Finale

Am Schluss kommt es zu einem dramatischen Finale im Schloss, nachdem Bulle bei Gregor Galvanius eingekerkert worden ist. Allerdings gestaltet sich der Kampf gegen unsichtbare Okkupatoren erwartungsgemäß schwierig. Da kommt es auf gute Ideen an, bevor Bulle und Gregor in einem glühenden Waffeleisen hingerichtet werden!

Gefahr von rechts

Unglaublich, von welcher Fiesheit Halvard Tenoressen ist, der eigentlich Jodolf Stahler heißt – und offensichtlich kein Norweger ist. Tatsächlich erinnert sein Name an einen gewissen Adolf Hitler alias Schicklgruber. Und so wird die eigentliche Botschaft der Geschichte deutlich: Der wachsende Rechtspopulismus in Europa und Norwegen macht es ist denkbar, dass die Nazis die Macht übernehmen.

Da ihr Ziel die Weltherrschaft ist, machen sie als Erstes gegen Dänemark mobil. Das muss verhindert werden, klar. Dass die Gefahr von Rechts, vor der Nesbö hier verschlüsselt warnt, real ist, zeigten die Massenmorde des Anders Breivik vom 22. Juli dieses Jahres. Er ist beileibe nicht der einzige Rechtsextreme in Norwegen oder Schweden, es gibt noch viele Gleichgesinnte.

Der Sprecher

Andreas Schmidt macht sich und dem jungen Zuhörer (ab 8 Jahren) einen Spaß daraus, die Figuren ein wenig zu überzeichnen. So klingt Bulle (sprich: bülle) tatsächlich wie ein kleiner Dreikäsehoch, der ein wenig größenwahnsinnig wirkt, will er doch in der Schulkapelle die erste Trompete spielen. Tatsächlich ist Bulle der liebenswerteste Charakter des ganzen Stücks. Daneben verblassen selbst Dr. Proktor und vor allem Lise, die stets recht vernünftig wirkt, ebenso wie Gregor, der Froschmensch.

Dr. Viktor Proktor soll ja absichtlich wie ein „verrückter Professor“ wirken. Folglich darf er auch ein wenig durchgeknallt daherreden. Außerdem weist er einen leichten Akzent auf, der möglicherweise aus seinem Heimatland Frankreich stammt. Der König redet tatsächlich immer so einlullend, dass allein schon das Zuhören einlullend wirkt.

Am wichtigsten sind allerdings die Mondchamäleons. Allein schon die Unfähigkeit, Doppelkonsonanten auszusprechen und die Eigenart, deshalb ein J einzuschieben („Kajeffe“ statt „Kaffee“) sorgt für ein paar Lacher, besonders beim Auftritt der hohlköpfigen Trane-Zwillinge, die deshalb kaum zu verstehen sind.

Nein, die eigentlichen Mondchamäleons können auch kein SCH aussprechen, weshalb sie immer „Menssen“ statt „Menschen“ sagen. Sie zischen, wie es bei Reptilien eigentlich erwarten ist. Jodolf Stahler redet immer ausnehmend gehässig und hinterlistig. Das macht ihn wirklich furchteinflößend. Allerdings bekommt er dafür die gerechte Strafe.

Gesang

Geräusche und Musik gibt es keine, so dass ich hier keine Worte darüber verlieren muss. Allerdings spielt Musik auf andere Weise eine zentrale Rolle. Gregor Galvanius ist einer von den Guten, doch weil er 1969 ein Versuchsgebräu von Dr. Proktor trank, ist er zum Froschmensch mutiert – was viele Nach-, aber auch einige Vorteile hat.

Nun gibt es zwei Musikarten, die Gregors Gemütslage direkt beeinflussen. Er war in Agneta verliebt, die ihn, als sie seine Mutation offenbart bekam, verließ und sich der Popgruppe BABA (vulgo: „ABBA“) anschloss. Deren größter Hit war bekanntlich „Waterloo“, neben vielen anderen. Sobald ein BABA-Song ertönt, gesungen vom Sprecher, verfällt Gregor daher in Trübsinn!

Das einzige Gegenmittel ist die Erinnerung an seinen schönsten Moment mit Agneta dar, und der war beim Konzert der Popgruppe DE BITEL (vulgo „The Beatles“), deren größter Hit bekanntlich „She Loves You“ war. Wann immer also „She Loves You“ erschallt, wird Gregor mit neuem Mut erfüllt, ganz einfach. Es ist ein eigenartiger Genuss, den Sprecher „Waterloo“ und „Yeah, yeah, yeah.“ singen zu hören – nicht schön, aber selten.

Das Booklet

… listet die Tracks auf und liefert ausführliche Informationen über den Autor und den Sprecher.

Unterm Strich

Dieses dritte Abenteuer um Dr. Proktor, den genialen Erfinder, und seine beiden besten Freunde Lise und Bulle ist mehrere Dinge in einem. Der Widerstandskampf gegen die Invasion der Mondchamäleons hat schon SF-artigen Charakter, ist aber so einfallsreich und lustig geschildert, dass es gar nicht auffällt, dass es sich hier um die Warnung vor einer Machtübernahme durch Neonazis handelt.

Diese Nazis unter einem Hitler-ähnlichen Anführer machen sich die modernen Massenmedien wie das Fernsehen ebenso zunutze wie die moderne Popmusik. Da Stahler und seine Schergen viele schwedische Eigenarten aufweisen (Norwegen war bis etwa 1900 ein Teil von Schweden!), gehört zu dieser Popmusik auch die Gruppe ABBA. Nesbö fährt hier eine doppelte Retourkutsche: Die ABBA-Musik ist so blödsinnig bzw. verblödend, dass die Nazis sie einsetzen – und sie macht einen der Guten trübsinnig.

Vor dem Hintergrund der rechtsextremen Anschläge vom 22. Juli in Oslo erhält diese Warnung eine geradezu unheimliche Aktualität. Das erkennt aber nur jemand, der den Faden weiterspinnt. Ansonsten ist das Hörbuch einfach eine lustige Sache, die in einem Triumph über diese außerirdischen „Paviane“ (wegen der durch Hämorrhoiden roten Hinterteile) gipfelt. Norwegische Kinder haben wegen der lokalen Anspielungen (hypnotischer König und dergleichen) vielleicht noch mehr Spaß daran als deutsche. Aber wenn das Pupsonautenpulver zum Einsatz kommt und Perry, die Spinne, eingreift, dann freuen sich auch alle andere Kids.

Das Hörbuch

Obwohl die zentralen Figuren immer noch die gleichen sind wie in den vorhergehenden zwei Abenteuern, ist diese Lesung kein „Kasperletheater“ mehr, wie ich noch zu „Dr. Proktors Pupspulver“ schrieb. Vielmehr hat die überkandidelte und wendungsreiche Handlung eine zweite Ebene erhalten, die zum Nachdenken anregt. Der Subtext besteht diesmal in einer Warnung vor der Hypnotisierung der Massen durch Fernsehen und Internet, das von Rechtsextremen bekanntlich bereits für ihre finsteren Zwecke missbraucht wird.

Beide Aspekte kann der Sprecher angemessen präsentieren. Er hat mich zudem durch seine Sprech- und Sangeskünste erfreut, sodass das Zuhören ein kurzweiliger Genuss wurde. Allerdings ist der gleiche Umfang von ca. 250 Minuten nicht mehr auf 4, sondern auf nur noch 3 CDs verteilt, sodass jede CD über 80 Minuten Vortrag bietet – danach brauchte ich erst einmal eine Pause.

3 Audio-CDs
Spieldauer: 254 Minuten
Aus dem Norwegischen von Maike Dörries und Günther Frauenlob
ISBN-13: 978-3867174053

http://www.hoerverlag.de

Der Autor vergibt: volle Punktzahl!

_Jo Nesbø bei |Buchwurm.info|:_
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