Agatha Christie – Mord im Orientexpress

Auf der Zugfahrt von Istanbul nach Calais wird Mr. Ratchett erstochen. Sein Mörder muss sich unter den Passagieren befinden. Meisterdetektiv Hercule Poirot ist an Bord, beginnt die Anwesenden zu verhören und deckt ein unglaubliches Rachekomplott auf … – Zu Recht ein großer Klassiker der Kriminalliteratur, in dem kaum etwas geschieht, sondern viel geredet und spannend gelogen wird, bis Schicht um Schicht das eigentliche Geheimnis offengelegt ist.

Das geschieht:

Graf Rudolph und Gattin Helena Andrenyi aus Ungarn. Colonel Arbuthnot, britischer Kolonialoffizier in Indien. Mary Debenham, Erzieherin in Bagdad. Prinzessin Dragomiroff, russische Herrscherin im französischen Exil. Hildegarde Schmidt, ihre deutsche Zofe. Antonio Foscarelli, italienischer Kaufmann. Cyrus B. Hardman, US-amerikanischer Privatdetektiv. Seine Landsfrau Mrs. Hubbard, eine reiche Witwe. Samuel E. Ratchett, vermögender Geschäftsmann im Ruhestand. Hector MacQueen, sein Privatsekretär. Edward Masterman, Ratchetts Kammerdiener. Greta Ohlsson, schwedische Missions-Lehrerin. Im Winter des Jahres 1934 reisen 13 nach Herkunft und Gesellschaftsschicht höchst unterschiedliche Passagiere im Orientexpress, der die Strecke Istanbul-Calais in drei luxuriösen Tagen zurücklegen soll.

Für Pierre Michel, den altgedienten Schaffner, und seinen Chef, Monsieur Bouc, werden Albträume wahr, als sich der Zug in einer Schneewehe irgendwo in der jugoslawischen Wildnis festfährt und Mr. Ratchett von zwölf Messerstichen durchbohrt tot in seinem Bett entdeckt wird. Während der zufällig anwesende griechische Arzt Dr. Constantine den Todeszeitpunkt feststellen kann, müssen die Mordermittlungen improvisiert werden. Wenigstens in diesem Punkt ist das Glück M. Bouc hold: Hercule Poirot, der berühmte Kriminalist, ist ebenfalls an Bord.

Er übernimmt den Fall, obwohl die Indizien widersprüchlich sind und auf bewusste Täuschungsmanöver hindeuten. Dennoch steht bald fest, dass Ratchett selig niemand anderer als der berüchtigte Gangster Cassetti gewesen ist, der vor einigen der Entführung und Ermordung der dreijährigen Daisy Armstrong beschuldigt wurde. Poirot stellt fest, dass alle Verdächtigen, die mit Ratchett das Abteil teilten, den Armstrongs nahe gestanden haben. Trotzdem dauert es einige Zeit, bis Poirot begreift, dass er unfreiwillig Mitspieler in eines ausgefeilten Komplotts wurde, welches der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen sollte …

Die Spannung des Dialogs

Einer der größten Klassiker des Kriminalromans, verfasst von Agatha Christie, der Königin des „Landhaus-Krimis“. Auch wenn diese Geschichte zur Abwechslung auf Schienen spielt, ist die Konstellation bekannt: In einem abgeschlossenen Raum geschieht ein Mord; der Täter oder die Täterin muss sich unter den Anwesenden befinden, denen eine Flucht unmöglich ist. Ein schlauer Detektiv dröselt den verwickelten Fall gemächlich auf, bis er ihn im großen Finale vor allen Verdächtigen und andächtig Lauschenden löst; gemeuchelt hat stets jene/r, dem/der man es am wenigstens zutraute.

Das war schon 1934 kein originelles Handlungsgerüst mehr. Niemand wusste dies besser als Agatha Christie, die sich seiner seit ihrem Debüt als Schriftstellerin 1920 selbst mehrfach bedient hatte (und dies bis zu ihrem Tod 1976 noch oft wiederholte). Deshalb versuchte sie etwas Neues, Originelles. (Das konnten ihr die notorisch innovationsfeindlichen Hardcorefans später nur noch selten vorwerfen.) Was Christie sich ausgedacht hat, dürfte auch dem nur einigermaßen krimifesten Leser oder Filmfreund kein Geheimnis mehr sein. Falls es aber doch – zumal unter den jüngeren Krimifreunden – einige gibt, welche die (zumindest 1934) erstaunliche Auflösung noch nicht kennen, soll ihnen hier der Spaß nicht verdorben werden.

Abgesehen von seiner erstaunlichen (und trotz seiner Kompliziertheit sogar überzeugenden) Auflösung ist „Mord im Orientexpress“ ein erstaunlich statisches Vergnügen mit den üblichen Verdächtigen, falschen Alibis und Verwirrungen. Es geschieht im Grunde nichts; die Verdächtigen und der Detektiv sitzen im zur Unbeweglichkeit verdammten Luxuszug fest – und reden. Die Kunst der Agatha Christie manifestiert sich darin, trotzdem eine spannende und vor allem auch witzige Kriminalgeschichte zu Stande gebracht zu haben. Ihr Erfolg basiert auf der Figurenzeichnung. Die Protagonisten wurden sorgfältig so gestaltet, dass sie einerseits als Individuen interessant wirken, die andererseits möglichst wenig miteinander verbindet. Da Christie uns bald darauf informiert, dass dies ganz gewiss nicht zutrifft, bleiben wir Leser am Ball und werden mit dem bereits erwähnten Schlussgag reich belohnt.

Die Verlockung der Herausforderung

Mit Hercule Poirot stellt uns die Autorin trotz auffälliger Charakterzüge oder Macken eigentlich einen Mann ohne Eigenschaften vor – eine Denkmaschine, der man ein Privatleben nur zutraut, so lange es sich um feines Essen oder Bartpflege dreht. Aber ganz so einfach ist es nicht. Dieser M. Poirot ist ein durchaus manischer Zeitgenosse. Er löst seine Kriminalfälle primär um des eigenen Vergnügens wegen, wähnt sich über dem Gesetz stehend bzw. definiert Gerechtigkeit nach seinem Gusto: Wer der Täter ist, bestimmt vor allem und allen anderen Hercule Poirot. Das hat er mit Sherlock Holmes und den meisten anderen genialen aber psychisch wenig alltagstauglichen Privatdetektiven gemeinsam.

Auf den treuen Captain Hastings – Poirots Watson – müssen wir dieses Mal verzichten. Kein Wunder, denn ein Chronist hätte diesen einzigartigen Fall an die Öffentlichkeit gebracht, was schlecht für die Beteiligten gewesen wäre. Hastings wird vertreten durch den stürmischen M. Bouc, der sogar noch begriffsstutziger als Poirots üblicher Steigbügelhalter ist, aber des Detektives eigenwilliges Verständnis von Gerechtigkeit teilt. Dasselbe gilt für Dr. Constantine, dessen moralische Anpassungsfähigkeit Christie schon dadurch signalisiert, dass sie ihn von seiner Geliebten träumen lässt.

Ansonsten spielen die Figuren unserer Geschichte jeweils Rollen: steifer Brite; feuriger Ungar; aristokratisch verblühte Russin; heißblütiger Italiener; robuste Deutsche etc. Wie wir erfahren, tun sie dies nicht nur zu des Lesers Erbauung, sondern auch aus deutlich finsteren Motiven. Unter ihnen ragt die trügerisch geschwätzige Mrs. Hubbard hervor, die im Film (s. u.) kongenial von Lauren Bacall verkörpert wurde.

Inspirieren ließ sich der Verfasserin übrigens von zwei realen Ereignissen. Im Vordergrund stand die auch heute weiterhin diskutierte Entführung des Lindbergh-Babys. Vater Charles hatte 1927 im Alleinflug den Atlantik überquert und war zum amerikanischen Nationalhelden geworden. 1932 wurde sein Sohn gekidnappt und trotz der Zahlung eines hohen Lösegeldes ermordet. Die Tat wird dem deutschen Einwanderer Bruno Hauptmann zugeschrieben, der dafür auf dem Elektrischen Stuhl endete. Zum anderen war Agatha Christie bekannt, dass der Orientexpress 1929 tatsächlich einmal an der türkischen Grenze eingeschneit wurde und sechs Tage auf offener Strecke liegen blieb.

Die Filme zum Buch

„Mord im Orientexpress“ wurde 1974 verfilmt. Das Ergebnis war kein cineastisches Meisterwerk, aber mit Stars des alten (u. a. Ingrid Bergman, Richard Widmark, Lauren Bacall) und (damals) aktuellen Hollywood (Sean Connery, Jacqueline Bisset, Michael York) gespicktes, zeitloses Ausstattungskino der Sonderklasse, dazu mit einem wie immer bemerkenswerten Albert Finney als Hercule Poirot.

Der amerikanische Fernsehsender CBS ließ die Geschichte 2001 mit Alfred Molino in der Poirot-Rolle neu in Szene setzen; der Erfolg hielt sich in Grenzen. Selbstverständlich ermittelte auch David Suchet als Poirot im Orientexpress – in Staffel 12 (Folge 4) der seit 1989 laufenden englischen TV-Serie „Agatha Christie’s Poirot“.

Autorin

Agatha Miller wurde am 15. September 1890 in Torquay, England, geboren. Einer für die Zeit vor und nach 1900 typischen Kindheit und Jugend folgte 1914 die Hochzeit mit Colonel Archibald Christie, einem schneidigen Piloten der Königlichen Luftwaffe. Diese Ehe brachte eine Tochter, Rosalind, aber sonst wenig Gutes hervor, da der Colonel seinen Hang zur Untreue nie unter Kontrolle bekam. 1928 folgte die Scheidung.

Da hatte Agatha (die den Nachnamen des Ex-Gatten nie ablegte, da sie inzwischen als „Agatha Christie“ berühmt geworden war) ihre beispiellose Schriftstellerkarriere bereits gestartet. 1920 veröffentlichte sie mit „The Mysterious Affair at Styles“ (dt. „Das fehlende Glied in der Kette“) ihren ersten Roman, dem sie in den nächsten fünfeinhalb Jahrzehnten 79 weitere Bücher folgen ließ, von denen die Krimis mit Hercule Poirot und Miss Marple weltweite Bestseller wurden.

Ein eigenes Kapitel, das an dieser Stelle nicht vertieft werden kann, bilden die zahlreichen Kino und TV Filme, die auf Agatha Christie Vorlagen basieren. Sie belegen das außerordentliche handwerkliche Geschick einer Autorin, die den Geschmack eines breiten Publikums über Jahrzehnte zielgerade treffen konnte (und sich auch nicht zu schade war, unter dem Pseudonym Mary Westmacott sechs romantische Schnulzen zu schreiben).

Mit ihrem zweiten Gatten, dem Archäologen Sir Max Mallowan, unternahm Christie zahlreiche Reisen durch den Orient, nahm an Ausgrabungen teil und schrieb auch darüber. 1971 wurde sie geadelt. Dame Agatha Christie starb am 12. Januar 1976 als bekannteste Krimi Schriftstellerin der Welt. (Wer mehr über Leben und Werk der A. C. erfahren möchte, wende sich hierher.)

Taschenbuch: 256 Seiten
Originaltitel: Murder on the Orientexpress (London : William Collin’s Sons & Co. 1934)
Übersetzung: Otto Bayer
http://www.atlantikverlag.de

eBook: 936 KB
ISBN-13: 978-3-455-17016-0
http://www.atlantikverlag.de

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