Ketchum, Jack – Beutezeit

Privat und beruflich arg gestresst, beschließt die Lektorin Carla eine Auszeit und mietet sich in Dead River – einem kleinen Ferienort an der Ostküste des US-Staates Maine – eine ruhig und abseits gelegene Holzhütte. Damit die Eingewöhnung nicht so schwerfällt, lädt sie ihre Schwester Marjie, ihren Freund Jim und ihren Ex-Freund Nick ein. Marjie bringt ihren momentanen Lebensgefährten Dan mit, während Nick mit Laura zusammen ist.

Des Nachts kommt sich Carla manchmal beobachtet vor, doch sie schiebt dies auf die Nervosität der ehemaligen Großstädterin. Das wird sich rächen, denn an anderer Stelle erkennt Sheriff Peters, dass Ungutes in Dead River umgeht. Eine Touristin wird halbtot aus dem Meer gezogen. Sie gibt zu Protokoll, von einer Gruppe verwilderter, in Tierfelle gehüllter Kinder und Jugendlicher überfallen worden zu sein, die sie buchstäblich gejagt und über eine Klippe getrieben haben.

Sollte etwas dran sein am Fluch von Catbird Island, einer vor der Küste gelegenen Insel, auf der im 19. Jahrhundert einige Menschen spurlos verschwunden sind? Haben diese etwa eine von Zeit, Zivilisation und Gesetz vergessene Kolonie gegründet, auf deren Speiseplan nicht nur die Wildtiere des Waldes, sondern auch die Touristen von Dead River stehen? Peters recherchiert und muss feststellen, dass in seinem Revier schon lange mehr Menschen verschwinden, als die Statistik es gestattet. So beschließt er, der Sache auf den Grund zu gehen.

Für Carla und ihre Gäste ist es da leider schon zu spät. Sie müssen feststellen, dass ihre Hütte inmitten des ‚Jagdreviers‘ der Wilden steht, die sich hocherfreut über die frische Beute hermachen …

Im Zeitalter brachialer Horrorfilme wie „Saw“, „Wrong Turn“ oder „Seed“ ist es kaum zu glauben, aber dennoch wahr: Als Jack Ketchum 1980 seinen Roman „Off Season“ vorlegte, erhob sich ein Sturm der Entrüstung. Viel zu explizit sei seine Geschichte vom Überlebenskampf einer in der Wildnis gefangenen Touristengruppe mit einer Rotte vertierter Menschenfresser, mahnte bereits der Verlag, der das Manuskript immerhin angekauft hatte. (Die Irrfahrt des Manuskripts beschreiben Horror-Experte Douglas E. Winter in einem Vorwort und Autor Ketchum in einem Nachwort zur Ausgabe von 1999.)

Diese Reaktion überrascht, markieren die Jahre um 1980 doch eine Ära, in der wahrlich schonungslose Filme wie „The Texas Chainsaw Massacre“ (1974; Regie: Tobe Hooper), „The Hills Have Eyes“ (1977; Regie: Wes Craven) oder „Mother’s Day“ (1980; Regie: Charles Kaufman) entstanden, die auf ähnlichen Plots basierten. Aber Ketchum beging eine Sünde, die ihm nicht verziehen wurde: Er lotete nicht nur allzu schonungslos die Abgründe aus, die sich in der menschlichen Seele auftun können, sondern verweigerte seinen Lesern ein Happy-End. Das ist nach Ansicht politisch korrekter Vordenker und selbsternannter Tugendbolde freilich zu meiden; das reale Grauen muss nach ihrer Auffassung symbolhaft durch Umschreibungen getarnt werden, hinter denen sich empfindsame Leser verschanzen können, und im Finale hat ‚das Gute‘ zu siegen (wobei das Niedermetzeln der ‚Bösen‘ dazu keinesfalls im Widerspruch steht).

Vor einem Vierteljahrhundert war ein Verstoß gegen diesen Kodex dem Debütanten Ketchum unmöglich. Also erschien eine zusammengestrichene und entschärfte Fassung, die nichtsdestotrotz für Aufsehen sorgte, obwohl sie der Verlag rasch und unauffällig aus dem Verkehr zog. Die Story ließ sich zum Verdruss der „moral majority“ einfach nicht ihrer Widerhaken berauben, während liberal denkende Zeitgenossen auch im kastrierten Text noch die moralische Sprengkraft erkannten.

„Off Season“ wurde zum Mythos, und 1999 war die Zeit endlich für eine „Unexpurgated Edition“ gekommen. Allerdings hatte der Verfasser das Original zwei Jahrzehnte zuvor frustriert in den Abfall geworfen. Jack Ketchum musste sein Buch quasi aus dem Gedächtnis rekonstruieren. „Off Season“ von 1999 ist deshalb nicht identisch mit dem ursprünglichen Text, zumal der Verfasser die Gelegenheit nutzte, die Geschichte zu überarbeiten.

Bissig ist sie nun wieder. Im 21. Jahrhundert kann „Off Season“ freilich keine Offenbarungen mehr bieten. Die Zeit hat diesen Roman eingeholt. Wer begreifen möchte, welchen Schock er den Lesern von 1980 zumuten sollte, muss entweder die Existenz von Filmen wie „Wrong Turn (1 u. 2)“, „The Hills Have Eyes“ (gemeint sind die Neuverfilmungen, Teil 1 u. 2) oder „Texas Chainsaw Massacre“ bzw. „TCM: The Beginning“ vergessen oder sich bewusst machen, dass „Beutezeit“ eine der Hauptquellen ist, aus denen die jungen Wilden des aktuellen Horrorfilms ihre Inspiration schöpfen.

Dennoch geht es knochenknackend hart und blutspritzend eklig zu. Ketchum redet nie um die Dinge herum – er schildert sie detailgetreu und weigert sich abzublenden. Er lässt uns keine Möglichkeit zum Entkommen, wir müssen mit ihm und den gequälten Figuren den blutigen Weg bis zu seinem Ende gehen.

Dabei schwelgt Ketchum nicht in Metzeleien um der Metzeleien willen, sondern verfolgt einen Zweck mit der Darstellung expliziter Scheußlichkeiten. Das erkennt der Leser schon an einem Gefühl, das sich in den oben genannten Filmen nur selten oder gar nicht einstellt: Unbehagen. In „Beutezeit“ wird nicht zur gruselvergnüglichen Unterhaltung gemordet. Der Tod und vor allem das Sterben sind bei Ketchum schmutzig, ekelhaft, erschreckend. Nicht einmal die im Horrorfilm beliebte ‚Erlösung‘ – das Monster tötet, deshalb ‚dürfen‘ seine Opfer noch gewaltsamer zurückschlagen – gönnt er uns. Der Verweigerung des Happy-Ends geht das Rühren an grundsätzlichen Tabus voran: Nachdem sie ausgiebig von ihren Peinigern geschunden wurde, entdeckt Marjie die eigene, bisher tief in ihrer Seele begrabene Ader für Grausamkeiten. Sie wehrt sich nicht nur, sondern gibt diesem Drang nach, verwandelt sich letztlich selbst in eine Wilde.

Diese Volte, die Ketchum zudem meisterlich in knappe aber eindringliche Worte zu fassen vermag, ist harter Tobak. „Beutezeit“ endet nach dem obligatorischen Gemetzel an den Außenseitern wie gesagt nicht mit einem Happy-End. Der Schrecken lebt in den Überlebenden fort, und niemand weiß, ob oder in welcher Gestalt er erneut ausbrechen wird: ein starkes Ende.

In drei Gruppen gliedert Ketchum seine Figuren, und die ihnen innewohnende Dynamik stellt er trotz der Kürze des Romans sorgfältig dar. Der Blickwinkel wechselt, die Gruppen bleiben bis zum Finale getrennt. Bis dahin machen ihre Mitglieder Erfahrungen, die sie physisch und psychisch zeichnen werden.

Beides trifft natürlich in erster Linie auf die bedauernswerten sechs Urlauber zu, die sich genau dort einquartieren, wo sie fehl am Platze sind. Carla und Marjie, Jim und Nick, Laura und Nick repräsentieren durchschnittliche Männer und Frauen um die 30. Die ersten großen Stürme des Lebens liegen hinter ihnen, sie haben in der Gesellschaft ihre Plätze gefunden. Der Trip in den Wald bereitet ihnen nur insofern Sorgen, als sie die Fortsetzung alter Streitigkeiten fürchten.

Die Attacke der Kannibalen zerstört sämtliche Lebensregeln, die sie erlernt zu haben glauben. Sicherheit ist eine Fiktion, der Zufall dagegen ein mächtiger Faktor. Die starke Carla stirbt, ihre ‚kleine‘, als ’schwach‘ charakterisierte Schwester überlebt nicht nur, sondern entwickelt einen Selbsterhaltungstrieb, der nahtlos in Mordlust übergeht.

Die drei Männer dieser Gruppe ‚versagen‘ in ihrem ‚Auftrag‘, die Frauen zu ‚beschützen‘ – ein weiterer Affront gegen Leser, die eine traditionelle Rollenverteilung schätzen. Nick kommt ihm zwar nach, doch die ‚Belohnung‘ bleibt aus – er findet ein absurd überflüssiges Ende (das Ketchum aus Romeros Filmklassiker „Night of the Living Dead“ ‚übernommen‘ hat, wie er offen zugibt).

Die Gruppe der Polizisten wird dominiert vom Veteranen Peters. Er kennt und liebt seinen Job, obwohl ihm bewusst ist, dass er ihm zumindest körperlich nicht mehr gewachsen ist. ‚Seine‘ jungen Beamten sind noch nicht so weit, sagt er sich, und ahnt dabei nicht, dass auch er überfordert ist, als er das wahre Grauen trifft. Am Ende haben Peters und seine Leute voller Wut und Angst und nackter Mordlust unter den Kannibalen gewütet wie 1968 US-Soldaten im südvietnamesischen My-Lai – eine Anspielung, die Ketchums Leser 1980 sehr wohl registriert haben dürften. Peters bleibt seelisch zerstört zurück und gibt seinen Job auf.

Kannibalen sind es, die „off season“, d. h. außerhalb der offiziellen Urlaubs- oder Jagdsaison, Angst und Schrecken verbreiten. Ketchum gelingt es, sie gleichzeitig abstoßend und – es mag absurd klingen – ‚unschuldig‘ zu zeichnen. In ihrer isolierten Welt haben die Kannibalen nicht nur ihre Nische gefunden, sondern sich dort gemäß ihren Vorstellungen recht behaglich eingerichtet. Sie waren niemals Teil der menschlichen Gemeinschaft und kennen deshalb deren Gesetze und Regeln nicht. Sie haben eigene entwickelt, die wie eine Mischung aus Steinzeit und Ghetto anmuten. Was ihre Opfer als grausam empfinden, ist für sie normal. Das Leben in der Wildnis ist hart und kurz, und es hat diese Gruppe geprägt. Touristen sind für sie nur eine weitere Jagdbeute, die in ihrem Gepäck zusätzlich willkommene Gaben tragen. ‚Zeitvertreib‘ bedeutet Folter und Mord, doch würde man einer Katze solche Motive unterstellen, weil sie mit einer Maus spielt?

Kompromisslos bis in den Tod wehren sich die Kannibalen gegen ihre Angreifer. Sie können gar nicht anders, haben es nie anders gelernt. Schon die Kinder haben den alltäglichen Kampf ums Überleben verinnerlicht. (Übrigens begegnete man „Off Season“ auch deshalb so feindselig, weil Ketchum Kinder als Killer darstellte und sie bestialische Tode sterben ließ.) Deshalb fliehen selbst im Angesicht der finalen Übermacht nicht, obwohl sie die Möglichkeit haben, sondern greifen an. (Gleichwohl ist Jack Ketchum auch nur ein Mensch: Gegen gute Bezahlung wrang er sich 1991 mit „Offspring“ eine Fortsetzung zu „Off Season“ aus dem Hirn: Einige gefräßige Kannibalen-Kinder haben überlebt und terrorisieren eine neue Generation von Touristen …)

Letztlich ist es die Normalität des monströsen Geschehens, die beeindruckt: Das Aufeinandertreffen der drei Gruppen fällt so aus, wie es außerhalb Hollywoods ausfallen musste. Tod und Verderben trifft sie alle, die Grenzen zwischen Tätern und Opfern verschwimmen. Das wollte Jack Ketchum seinen Lesern begreiflich machen, und das ist ihm – zuverlässig unterstützt von Übersetzer Friedrich Mader – wahrhaftig gelungen! Dass womöglich ein schaler Geschmack zurückbleibt, ist gewollt: Manche Medizin schmeckt bitter, aber sie wirkt.

Dass „Jack Ketchum“ ein Pseudonym ist, daraus machte Dallas William Mayr (geb. 1946) nie ein Geheimnis. Er wählte es nach eigener Auskunft nach dem Vorbild des Wildwest-Outlaws Thomas „Black Jack“ Ketchum, der es Ende des 19. Jahrhunderts sogar zum Anführer einer eigenen Bande – der „Black Jack Ketchum Gang“ brachte, letztlich jedoch gefangen und aufgehängt wurde.

Im Vorwort zur deutschen Erstausgabe von „The Girl Next Door“ (dt. [„Evil“) 2151 weist Stephen King außerdem darauf hin, dass „Jack Ketch“ in England der Spitzname für den Henker war und sich als Pseudonym für Mayr wesentlich besser anbietet, denn: „Immer klappt die Falltür auf, immer zieht sich die Schlinge zusammen, und auch die Unschuldigen müssen baumeln.“

Als Jack Ketchum durchlief Mayr diverse ‚Karrieren‘ als Schauspieler, Sänger, Lehrer, Literaturagent, Handlungsvertreter usw. – die typische Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Laufbahn à la USA, nur dass Mayr nie wirklich seinen Durchbruch schaffte, da er sich als reichlich sperriger Schriftsteller erwies, der lieber im Taschenbuch-Ghetto verharrte als der Bestsellerszene Mainstream-Zugeständnisse zu machen – kein Wunder für „ein früheres Blumenkind und früheren Babyboomer, der erkannte, dass 1956 Elvis [Presley], Dinosaurier und Horror sein Leben retteten“. (So liest es sich jedenfalls in Mayrs ‚Biografie‘ auf seiner Website http://www.jackketchum.net.) Noch heute ist der Autor stolz auf eine Kritik der „Village Voice“, die sein Romandebüt „Off Season“ 1980 als „Gewaltpornografie“ verdammte.

Die Literaturkritik musste Mayr alias Ketchum inzwischen als unkonventionellen, aber fähigen Schriftsteller zur Kenntnis nehmen. 1994 gewann seine Story „The Box“ einen „Bram Stoker Award“, was Ketchum 2000 mit „Gone“ wiederholen konnte. Zudem wurde Ketchum mehrfach nominiert. Längst wurde auch Hollywood aufmerksam auf sein Roman- und Kurzgeschichtenwerk, das indes ob seiner Kompromisslosigkeit vor allem im plakativ Sexuellen prüden US-Amerika vor Problemen steht. Nach „The Girl Next Door“ entstand 2007 unter der Regie von Gregory Wilson und nach einem Drehbuch von Phil Nutman und Daniel Farrands ein eindrucksvoller, nicht leicht zu goutierender Spielfilm.

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