Carr, J. Revell – 13 Millionen Tonnen, 2500 Schiffe, 50000 Leben

Im August des Jahres 1940 erzwingt die deutsche Kriegsmaschine auf dem europäischen Kontinent erschreckende Fortschritte. Niemand kann die Nazis offenbar aufhalten. Auch auf den Meeren versuchen sie die Oberhand zu bekommen. Vor allem die Nachschubtransporte zwischen den noch neutralen USA und dem hartnäckigen Kriegsgegner Großbritannien sind ihnen ein Dorn im Auge. Deshalb haben deutsche Kreuzer und U-Boote die Anweisung, britische Frachter mit ihrer Ladung zu versenken.

Das Trampschiff „Anglo-Saxon“, 130 Meter lang, ist im Nordatlantik unterwegs, als ein gefährlicher Gegner seinen Kurs kreuzt. Hellmuth von Ruckteschell, der ehrgeizige Kommandant des Hilfskreuzers „Widder“, hat schon im I. Weltkrieg Feindschiffe gejagt und ist Marinesoldat bis ins Mark. Er hat den Auftrag, die Frachtschiffe des Gegners zu stoppen, und den verfolgt er unerbittlich. Ohne 41 ahnungslosen Seeleuten eine Warnung zukommen zu lassen, schießt die „Widder“ die fast wehrlose „Anglo-Saxon“ und ihre Besatzung zusammen.

Von Ruckteschell gestattet sich kein Erbarmen. Nur sieben zum Teil schwer verletzte Briten entkommen in einem angeschlagenen Beiboot dem Gemetzel. Ohne Lebensmittel und Wasser treiben sie zehn Wochen hilflos im Nordatlantik. Grauenvolle Szenen spielen sich an Bord ab. Der Tod hält reiche Beute. Als die Jolle endlich entdeckt wird, stehen die Retter erschüttert vor zwei Männern, welche die Entbehrungen fast wahnsinnig werden ließ.

Damit ist die Geschichte der „Anglo-Saxon“ nicht zu Ende. Roy Widdicombe und Robert Tapscott, die beiden Überlebenden, werden zu Schlüsselfiguren eines Prozesses, der nach dem II. Weltkrieg geführt wird. Angeklagt wird Hellmuth von Ruckteschell. Ist er ein Kriegsverbrecher, oder hat er einfach nur seine „Pflicht“ erfüllt? Gerechtigkeit ist ein Geschäft, das von jenen betrieben wird, die selbst nie betroffen sind. Ein Happy-End gibt es ohnehin nicht – die „Helden“ der „Anglo-Saxon“ nehmen ein trauriges Ende. Zurück bleiben zerstörte Familien, für welche die Ereignisse von 1940 noch heute Auswirkungen haben …

Ein namenloses Grauen in den Griff bekommen, indem man es auf Einzelschicksale reduziert: Das ist ein probates Mittel, bedient sich jemand seiner, der sein Handwerk versteht. Der Marinehistoriker J. Revell Carr gehört ganz sicher in diesen Kreis. Seit 1945 sind unzählige Bücher erschienen, die sich mit dem II. Weltkrieg im Atlantik beschäftigen. Das Geschehen an sich ist denkbar leicht verständlich: Nazideutschland versuchte die Nachschublinien zwischen den USA und Großbritannien zu kappen.

Was das im Detail bedeutete, gerät im großen Zusammenhang leicht außer Sicht: Vor allem in den ersten Kriegsjahren attackierten gut ausgebildete deutsche Soldaten mit schwer bewaffneten Schiffen und U-Booten über und unter Wasser simple Handelsschiffe, auf denen zivile Seeleute fuhren, die sich kaum oder überhaupt nicht wehren konnten. Entschlossen, sich von Hitlers Truppen nicht in die Knie zwingen zu lassen, harrten sie an Bord ihrer dünnhäutigen Frachter aus, die ihnen vom Feind unweigerlich „unter dem Hintern weggeschossen“ wurden, wie ein zeitgenössischer Spruch es drastisch verdeutlicht.

Wenn sie Glück hatten, gerieten die Handelsschiffer an einen Gegner, der ihnen die Flucht in die Rettungsboote ermöglichte, bevor er das Feuer eröffnete. Hatten sie Pech, trafen sie Männer wie Hellmuth von Ruckteschell, der seine persönliche, aber beileibe nicht untypische Auffassung von Pflicht und Kriegführung besaß.

Wobei dieser von Ruckteschell keinesfalls der gerade von den Briten gern verteufelte „typische“ Deutsche der Nazi-Ära ist. Bemerkenswert wertneutral bemüht sich Verfasser Carr, die Biografie dieses Mannes zu rekonstruieren. Er fördert Erstaunliches zu Tage – die schwer verständliche Geschichte eines Mannes von hoher Intelligenz, der künstlerisch hoch begabt ist, zwischen den Kriegen als Handwerker arbeitet, überaus gläubig ist – und sehr wahrscheinlich psychisch krank durch den Stress, dem er auf See während des I. Weltkriegs ausgesetzt war.

Das leitet über zur düsteren Seite des Hellmuth von Ruckteschell, der seine inneren Sorgen und Ängste hinter einer Maske cholerischer Unnahbarkeit zu verstecken suchte, mehr als einmal hilflose Kriegsgefangene ermorden ließ und auf See eine völlig andere Persönlichkeit zu entwickeln schien. Diese Ambivalenz und die daraus entstehende Unberechenbarkeit macht von Ruckteschell zur eigentlichen Zentralfigur dieses Buches, wie Verfasser Carr selbst rasch erkannt hat.

Die Männer der „Anglo-Saxon“ sind dagegen längst nicht so „interessant“. Man begreift sie als die „brave sailors“, die tapferen Seeleute des Originaltitels. Als Gruppe bewundert man sie, die im vollen Wissen um die ständige Gefahr den zivilen Dienst für ihr Land leisten. Man ist entsetzt über die unsäglichen Leiden, denen die Männer ausgesetzt sind. Aber obwohl Carr sich bemüht, jedem Mann an Bord der Jolle ein Gesicht zu geben, bleiben die Überlebenden Menschen von nebenan, die man vergisst, sobald sie nicht mehr im Brennpunkt einer an sich faszinierenden Geschichte stehen. So ist es erneut Hellmuth von Ruckteschell, dessen Schicksal den Leser fesselt, als er vor Gericht steht: Wie im Film ist es halt auch im Leben der Bösewicht, der die Aufmerksamkeit des Publikums erregt.

„13 Millionen Tonnen, 2500 Schiffe, 50000 Leben“ – der deutsche Titel, welcher die alliierten Verluste an Fracht, Schiffen und Menschenleben im Verlauf des II. Weltkriegs beschreibt, soll offenbar Leser abschrecken statt sie zu locken … – ist unterm Strich ein musterhaftes Sachbuch. Minuziös hat Verfasser Carr die letzte Fahrt der „Anglo Saxon“ recherchiert. Er bleibt auch nach der Rettung der letzten Überlebenden „dran“. Die „Nachgeschichte“ bildet hier keinen knappen Epilog („Was machen sie heute …“), sondern ist untrennbar mit dem Geschehen von 1940 verbunden.

Überzeugend legt Carr dar, wie der Untergang der „Anglo-Saxon“ die Leben vieler Menschen auf Jahrzehnte prägte. Damit sind durchaus nicht nur die unmittelbar Beteiligten gemeint. Ob auf der britischen oder auf der deutschen Seite: Die Seeleute hatten Familien und Freunde, die sich mit dem Verlust geliebter Menschen oder mit der Tatsache vertraut machen mussten, einen Kriegsverbrecher und Mörder zum Ehegatten, Sohn, Bruder etc. zu haben.

Am Beispiel des Seemanns Robert Tapscott rekonstruiert Carr die psychischen Folgeschäden eines einschneidenden krisenhaften Erlebnisses. Dieser Mann, der bitter entschlossen entsetzliche körperliche Qualen erlitten und überlebt hatte, brachte sich zwanzig Jahre später um, weil er den seelischen Stress nie verkraften konnte. Er überlebte von Ruckteschell, dem die eigenen Kriegserlebnisse seine Gesundheit geraubt hatten, nur um wenige Jahre.

So wird aus einer Episode des Seekriegs ein Panorama, das sich nicht auf Aufzählung von Schlachten, Schiffen & Verlusten beschränkt, sondern dem Krieg Gesichter gibt. Noch einmal sei die Objektivität betont, mit welcher sich der Verfasser seinem Thema nähert. „All Brave Sailors“ nennt er sein Buch im Original. Er spielt damit nicht primär auf die unglücklichen Männer in der „Anglo-Saxon“-Jolle an, sondern erinnert an alle mutigen Seeleute, die trotz aller Gefahr und Furcht freiwillig ihrem Job nachgingen.

Dass einem die beschriebenen Schicksale so nahe gehen, liegt an J. Revell Carrs Talent, sie uns literarisch nahe zu bringen. In der deutschen Übersetzung ist der Verfasser verständlicherweise auf seinen Übersetzer angewiesen, der diese Qualität zu wahren versuchen muss. Mit Peter Torberg hat der Marebuchverlag erfreulicherweise einen Mann gefunden, der sein Handwerk vorzüglich beherrscht. Das ist – vor allem im Roman, aber auch im Sachbuch – heute leider keine Selbstverständlichkeit und sei deshalb an dieser Stelle eigens herausgestellt.

J. Revell Carr (geboren 1939 in Pennsylvania) lernte das Meer als Leutnant in der US-Navy kennen. Im Zivilleben wurde er Historiker mit dem Spezialgebiet Marine. Hier entwickelte er sich zu einem der weltweit wichtigsten Vertreter dieses Fachbereichs. Sein Wissen brachte ihn auf die Leiterstelle des größten Marinemuseums der Welt. Mehr als zwei Jahrzehnte leitete Carr das „Mystic Seaport“ in Connecticut. Heute lebt er als „Privatgelehrter“ und Autor in Maine.