Richard Morgan – Heiliger Zorn

„Heiliger Zorn“ ist ein sehr treffender Titel für Richard Morgans dritten Roman rund um den Ex-Envoy Takeshi Kovacs. Nach den Ereignissen in „Gefallene Engel“ kehrt Kovacs an den Ort seiner Geburt zurück, Harlans Welt. Dort wird er mit seiner Vergangenheit konfrontiert: einem jüngeren Doppelgänger seiner Person sowie der in den Vorgängern oft zitierten Quellcrist Falconer und seiner Envoy-Ausbilderin Virginia Vidaura.

Er wird in den Strudel einer Revolution hineingerissen, die er schon einmal erlebt hat: Sylvie, Kommandantin eines DeCom-Trupps, der Jagd auf intelligente Militärmaschinen macht und sie vernichtet, wird bei einem Einsatz nicht nur körperlich verletzt, ihr kortikaler Stack nimmt Schaden durch vermeintlichen Virenbefall. Kovacs Geliebte kann zwar gerettet werden, aber ihre Persönlichkeit ist gespalten – sie erinnert sich an geheime Details des ersten Aufstands der Quellisten und aus dem Leben Quellcrist Falconers (ebenfalls eine Frau).

Noch lebende Quellisten träumen noch immer ihren revolutionären Traum, und mit Hilfe ihrer scheinbar wiedergeborenen Anführerin revoltiert man erneut gegen die absolutistisch herrschende Harlan-Familie. Diese hat jedoch ein Ass im Ärmel: einen Kämpfer und Killer, der sich einen Namen gemacht hat – ein illegales, jüngeres Backup Takeshi Kovacs. Reaktiviert und von den Harlans in ihre Dienste gepresst, in einem jenen des älteren Kovacs weit überlegen moderneren Sleeve. Ein jüngeres Spiegelbild aus einer Zeit, die Kovacs gehasst und verdrängt hat.

Doch nicht nur die Harlan-Familie und die Revolutionäre um Sylvie/Falconer machen Kovacs zu schaffen. Zu seinem Entsetzen ist auch seine ehemalige Ausbilderin und Ikone Virginia Vidaura eine überzeugte Quellistin, was nach ihren eigenen in der Envoy-Ausbildung gelehrten Doktrinen gar nicht möglich sein dürfte. Er hat zudem noch eine ganz private Rechnung offen mit Fundamentalisten, die in ihrem religiösen Wahn den kortikalen Stack seiner Jugendliebe in den Meeren von Harlans Welt versenkt haben …

Zurück zu den Wurzeln

Laut Richard Morgan stellt „Heiliger Zorn“ vermutlich den letzten Roman um Takeshi Kovacs dar, seine Entwicklung wird abgeschlossen. In „Das Unsterblichkeitsprogramm“ standen das faszinierende Konzept der Speicherung einer menschlichen Persönlichkeit in den sogenannten „kortikalen Stacks“ im Nacken, die weit über das Gesetz hinausgehende Macht uralter, reicher „Meths“ (kurz für Methusalem) sowie religiöse und menschliche Probleme mit dieser Technologie im Mittelpunkt. „Gefallene Engel“ zeigte eine kalte und traurige Zukunft, die Sinnlosigkeit und besonderen Grausamkeiten eines Krieges mit Wegwerf-Körpern, in der nur wichtige Spezialisten auf einen neuen Sleeve hoffen können, der Rest der Stacks gestapelt und beiseite gelegt wird aufgrund ökonomischer Überlegungen der im Hintergrund die Fäden spinnenden Konzerne.

Jetzt steht Kovacs selbst im Mittelpunkt. Seine lange Lebenserfahrung hat ihn die erste Revolution auf Harlans Welt – und ihr Scheitern – miterleben lassen sowie zahllose andere auf anderen Welten. Nun greift eine junge Generation exakt dieselben Ideen auf, mit einer auf seltsamste Weise anscheinend wiederauferstandenen Anführerin. Kovacs hilft Sylvie/Falconer, er weist sie aber auch auf die Gefahren der Revolution hin: So korrupt und verachtenswürdig die Harlans auch sein mögen, unter ihrer Herrschaft geht es Harlans Welt heute besser als damals und je zuvor. Es könnte weitaus schlimmer sein, er weist die Quellisten auf die Mängel ihrer Revolution hin, Ideale stehen vor Inhalten, sie könnten eine Diktatur nur durch eine weitere, vermutlich ihre eigenen Pläne schließlich verratende ersetzen.

Die Veränderung einer Persönlichkeit im Laufe der Zeit nimmt ebenfalls viel Raum ein. Anstelle eines Doppelgänger-Duells zwischen dem jüngeren und dem älteren Kovacs zeigt Morgan, wie ähnlich sich die beiden sich sind – und doch so grundverschieden. Ein Kapitel am Anfang ist ganz aus der Sicht des jüngeren Kovacs geschrieben, der einiges weniger erlebt hat. Es zeigt auch, was Kovacs in den ersten beiden Romanen so hart und oft fast gleichgültig gemacht hat. Der alte Kovacs hingegen setzt sich in diesem Roman für eine Sache ein, lernt aus seiner Vergangenheit und kann sein altes Ich zwar verstehen, aber ganz und gar nicht ausstehen, er hasst und bemitleidet sich selbst. Eine ganz besondere Art, einen Spiegel vorgehalten zu bekommen. Kovacs kann nun viel besser begreifen, wie er sich damals den Hass vieler Menschen zugezogen hat.

Die Veränderung von Sylvie/Falconer ist noch umfassender: Ist der Geist in diesem Körper noch Sylvie? Oder Falconer? Ein Mix aus beiden oder etwas völlig Neues? Morgan spricht eine Urangst dieser Zukunftsgesellschaft an, in der körperlicher Tod keine Bedeutung mehr hat, solange der Geist überlebt: Wie bereits im „Unsterblichkeitsprogramm“, ist Virenbefall eines Stacks und damit des gespeicherten Geistes einschließlich des Backups ein Todesurteil. Hier wird diese Furcht multipliziert: Der Geist wird vollständig ersetzt oder verschmilzt mit einem anderen. Selbst Kovacs ist das nicht geheuer – die sexuelle Beziehung zu Sylvie leidet darunter.

Virginia Vidaura sowie Kovacs tragische Jugend stellen das i-Tüpfelchen seiner Persönlichkeitsanalyse dar: Die unfehlbare Virginia Vidaura, von Kovacs oft zitiert und ihre Worte als Maßstab verwendet, ist auch nur ein Mensch. Sein ganzes Weltbild droht hier in sich zusammenzufallen! Wir erleben, wie Kovacs in seiner Jugend noch blauäugig und naiv war, wie er schwere persönliche Verluste hinnehmen musste und sich schließlich dem Envoy Corps anschloss.

Filmreife Action wird auch in diesem Buch reichlich geboten – mit Grausamkeiten und auch im sexuellen Bereich hält sich Morgan jedoch verglichen mit den Vorgängern stark zurück. Wegen der Orbitalplattformen der Marsianer rund um Harlans Welt ist es unmöglich, sich über einer bestimmten Höhe oder Geschwindigkeit fortzubewegen, nur Helikopter werden geduldet – und selbst diese werden nur bei relativer leichter Bewaffnung verschont. Ansonsten droht ein vernichtender „Engelsfeuer“-Präzisionsschlag der Plattformen. So durchpflügen schwer bewaffnete Schnell- und Unterseeboote die Meere, auf denen aufgrund der fehlenden orbitalen Überwachung Piraterie herrscht und zahllose geheime Stützpunkte auf den zahllosen Archipeln versteckt sind. Aber das Engelsfeuer dient nicht nur dazu, Kriminellen und Revoluzzern eine Spielweise zu schaffen – am Ende wartet Morgan bezüglich der Marsianer-Plattformen mit einer Überraschung auf!

Fazit:

Richard Morgan hat es geschafft: Die Entwicklung von Takeshi Kovacs findet in diesem Roman ihren Höhepunkt. Zeigten die früheren Romane die Gesellschaft aus Kovacs Sicht, zeigt dieser Band zusätzlich, wie Kovacs zu Kovacs geworden ist. Rückblenden in seine Vergangenheit und der jüngere Doppelgänger zeigen, dass der vermeintlich unerschütterliche Ex-Envoy Kovacs auch nur eine Phase in seinem Leben war. Konfrontiert mit so vielen wichtigen Personen und Ereignissen seiner Vergangenheit, muss Kovacs eine Wahl treffen – sich für oder gegen jemanden entscheiden, er kann einfach nicht danebenstehen und sich ausschließlich um seine Belange kümmern. Der ehemals so berechnend reagierende Kovacs wird menschlicher.

Dieser wohl faszinierendste Aspekt des Romans wird leider sehr spät oder erst in der Retrospektive offensichtlich. Die Geplänkel mit den Harlans, seinem Doppelgänger und kriminellen Banden ergeben anfangs wenig Sinn, die Handlung dümpelt sehr lange vor sich hin. Ähnlich langsam und unzusammenhängend entwickeln sich auch die Revolution rund um Sylvie/Falconer und die Zweifel an ihrer Identität. Das Buch ist zweifellos das intelligenteste und beste der Reihe, die insgesamt sehr gut auf dieses Finale vorbereitet hat. Morgan hat allerdings schon besser unterhalten, in den Vorgängern war die Handlung an Krimi und Space Opera angelehnt, dieses Mal ist keine Rahmenhandlung oder ein Ziel klar erkennbar. Bis man erkennt, dass Kovacs selbst und tiefer schürfende, nahezu philosophische Gedanken im Mittelpunkt stehen, tappt man lange orientierungslos in Harlans Welt umher, die sich leider nicht so düster und stimmungsvoll wie die der Vorgänger präsentiert. Dafür allerdings auch weniger bedrückend und hoffnungslos.

Die lange hinhaltende Handlungsführung sorgt gelegentlich für Unverständnis und Langweile, was sehr schade ist. Davon abgesehen, ist „Heiliger Zorn“ in jeder Hinsicht der beste Band der Reihe, einfach ein Muss für Kovacs-Leser sowie ein blendendes Finale. Allerdings möchte ich nicht darauf wetten, dass Morgan mit Takeshi Kovacs wirklich fertig ist … aber sollte man nicht aufhören, wenn es am schönsten ist?

Taschenbuch: 688 Seiten
Als Übersetzer zeichnete wieder der bereits bei den Vorgängern bewährte Bernhard Kempen verantwortlich.
www.heyne.de
www.richardkmorgan.com