Byron, Lord / Polidori, John William / Gustavus, Frank – Vampyr, Der – oder Gespenstersommer am Genfer See

1816 ereignete sich in der Villa Diodati am Genfer See ein Geschehen, das auch heute noch als literarische Anekdote in Vampiranthologien und Frankenstein-Nachwörtern regelmäßig Eingang findet. Damals nämlich verbrachte eine illustre Gesellschaft den verregneten Sommer in der Villa: Der englische Dichter Percy Shelley, seine spätere Frau Mary Wollstonecraft, deren Stiefschwester Claire (wohl die Einzige in der Runde ohne literarischen Nachruhm), der englische Dichter und Lebemann Lord Byron und dessen Leibarzt John William Polidori. Die Gruppe verbrachte einen angeregten Abend beim Lesen deutscher Gespenstergeschichten und aus einer Laune heraus schlug Byron vor, die Anwesenden sollten sich jeweils selbst an einer Geistergeschichte versuchen. Was aus Percy Shelleys Beitrag geworden ist, bleibt unbekannt. Mary Wollstonecraft jedoch begann ihre Arbeit am weltberühmten „Frankenstein“, Byron verfasste eine Fragment gebliebene Kurzgeschichte und Polidori, nicht nur Mediziner, sondern auch aspirierender Schriftsteller, trug sich mit einer Geschichte über eine Frau, der ein Totenkopf auf den Schultern sitzt.

Nun war die Beziehung zwischen dem exzentrischen Byron und seinem Leibarzt Polidori keineswegs eine harmonische. So kam es, dass Polidori bald aus Byrons Diensten entlassen wurde, doch die in der Villa Diodati geschriebenen Geistergeschichten ließen ihn scheinbar nicht in Ruhe. Er baute auf Byrons „Fragment“ auf und verfasste seine eigene Novelle: „The Vampyre, A Tale“ (dt. „Der Vampyr“). Sie erschien 1819 unter dem Namen Lord Byrons, der sofort die Urheberschaft bestritt. Doch der Siegeszug des „Vampyr“ war nicht mehr aufzuhalten, es folgten Übersetzungen, mehrere Auflagen und sogar Bühnenadaptionen. Mit „Der Vampyr“, so mittelmäßig die Novelle in ihrer literarischen Qualität auch sein mag, brach eine neue Ära für die Vampirliteratur an. Sicher, es hatte schon vorher Vampire in der Literatur gegeben (sogar große Namen wie Goethe waren sich nicht zu schade, sich mit den Untoten zu beschäftigen). Doch Polidoris Vampir, der aristokratische Lord Ruthven, war kein in Lumpen gehüllter Zombie mehr, der auf Friedhöfen lauerte. Stattdessen sucht er die Salons der Großstädte heim und macht sich an holde Jungfrauen heran, um sie ins Unglück zu stürzen. Er ist schön, blass, kaltherzig, reich, weltgewandt, grausam, aber auch charmant – das genaue Ebenbild Lord Byrons. Die Bedeutung von Polidoris Erfindung für spätere literarische Vampire lässt sich kaum unterschätzen, ist die Anziehungskraft des Byronschen Vampirs doch auch heute noch ungebrochen (man denke nur an Anne Rices Lestat oder Laurell K. Hamiltons Jean-Claude).

Mit „Der Vampyr“ hat |Ripper Records| in Zusammenarbeit mit |Lübbe Audio| nun ein liebevoll produziertes Hörspiel auf den Markt gebracht, das sich den Ereignissen am Genfer See widmet. Dass die beiden CDs den Titel von Polidoris Novelle tragen, zeigt gleich, wo die Sympathien von Frank Gustavus liegen, der für Buch und Regie zuständig war. Man folgt Polidoris Sicht der Dinge, wenn er am Totenbett einem namenlosen Journalisten seine Geschichte erzählt: Wie er von Byron angestellt wird und mit ihm auf den Kontinent reist. Wie er mit den anderen Schriftstellern in der Villa Diodati zusammentrifft und deren Spott über seine mittelmäßigen literarischen Werke ertragen muss. Wie er nur in Mary Shelley eine Freundin findet und schließlich den „Vampyr“ verfasst, nur um ihn unter Byrons Namen veröffentlicht zu sehen. Diese Katastrophe wird sich fatal auf sein Leben auswirken. Der Streit um die Urheberschaft ruiniert ihn, andere seiner Werke werden verrissen oder gar nicht erst verlegt. Desillusioniert nimmt er sich mit 26 das Leben, ohne je literarischen Ruhm erreicht zu haben. Ironischerweise hat sich sein im Hörspiel geäußerter Wunsch, seinen Namen einmal neben Byrons zu sehen, mittlerweile mehr als erfüllt. In Anthologien stehen die Erzählungen Byrons und Polidoris in der Regel nenebeneinander und literaturgeschichtlich markiert Polidoris Novelle die Geburt des modernen Vampirs.

Frank Gustavus verbindet gekonnt Teile der Erzählungen (man hört Auszüge aus Byrons „Fragment“, Polidoris „Der Vampyr“, Coleridges „Christabel“, aber auch Abschnitte aus Briefen und Tagebucheintragungen) mit überlieferten Tatsachen (so stimmt es tatsächlich, dass Shelley bei der Rezitation von „Christabel“ einen Nervenzusammenbruch erlitt) mit frei erfundenen Teilen (beispielsweise die Ausgangssituation des Hörspiels, in dem Polidori seine Geschichte einem Reporter erzählt). Sämtliche Sprecher erwecken ihre Charaktere überzeugend zum Leben, allen voran natürlich Andreas Fröhlich als Polidori und Joachim Tennstedt als Byron. Fröhlich, der seine Stimme auch schon Edward Norton lieh, lässt seinen Polidori zwischen dem jungen Naiven in der Gesellschaft von hochgebildeten Literaten und dem vom Leben enttäuschten und vollkommen desillusionierten Selbstmörder changieren. Joachim Tennstedt, der unter anderem auch John Malkovich synchronisiert, lässt Byron wie einen manischen Irren klingen und macht es dem Zuhörer damit leicht, diesen genialen, aber menschlich wohl unleidlichen Dichter leidenschaftlich zu hassen. Unterstützt werden beide von atmosphärischer Musik und überzeugenden Soundeffekten.

Wer die jeweiligen Erzählungen von Byron und Polidori kennt, der wird im Hörspiel von |Ripper Records| eine engagierte und lohnende Bearbeitung der Ereignisse um die Entstehung der Geschichten finden. Allen anderen wird „Der Vampyr“ garantiert Lust auf mehr machen: mehr Hörspiele, mehr Vampirgeschichten, vielleicht ein wenig „Frankenstein“. |Ripper Records| ist ein kleines Juwel mit hohem Unterhaltungswert gelungen, in dem eine bekannte Anekdote zu neuem Leben erweckt wird. Die Geschichte zieht den Hörer sofort in ihren Bann und man mag keine Sekunde von Polidoris Erzählung verpassen. Die Handlung ist spannend, unterhaltsam, gruselig, aber auch mit Witz aufgearbeitet worden, deswegen gibt es eine ganz klare Empfehlung: Kaufen, hören, genießen!

(p.s.: Falls nun jemand nach dem Hören auf die beiden Geschichten von Byron und Polidori neugierig geworden sein sollte, so kann demjenigen natürlich geholfen werden. Beide Erzählungen finden sich in einer hervorragenden Anthologie von Dieter Sturm und Klaus Völker, die sich bereits seit Jahrzehnten als Standardwerk behauptet: „Von denen Vampiren oder Menschensaugern“ enthält zahlreiche Gedichte und Kurzgeschichten, aber auch historische Dokumente. Im Dezember erscheinen übrigens bei |Ripper Records| die kompletten „Vampyr“-Erzählungen als Hörbuch, gelesen von A. Fröhlich und J. Tennstedt.)