Holt, Anne – norwegische Gast, Der

Der klassische Kriminalroman greift tendenziell in der Frage nach dem Täter nicht vor und identifiziert den Mörder damit bereits in der Einleitung. Nein, in einem Krimi alter Tradition steht formal die Aufklärung des Verbrechens im Mittelpunkt der Geschichte. Der Leser übernimmt die Rolle des Ermittlers und fühlt sich ähnlich wie der literarische Detektiv oder Kriminalbeamte dazu herausgefordert, den oder die Mörder zu ermitteln und zu überführen. Was war das Motiv des Mörders? Worin lagen seine Beweggründe? Welche Indizien und Beweise tauchen auf? Wer gilt als prädestinierter Verdächtiger?

Die britische Autorin Dame Agatha Christi schuf mit ihren beiden ermittelnden Figuren Miss Marple und dem belgischen Hercule Poirot zwei Charaktere der Kriminalliteratur, die noch immer als Vorbilder dienen und an Ruhm nichts eingebüßt haben. Die norwegische Autorin Anne Holt hat nun mit ihrem aktuellen Kriminalroman „Der norwegische Gast“ einen angehenden Klassiker dieses Stils für die |Piper|-Reihe „Nordiska“ verfasst.

_Inhalt_

Alles beginnt mit einem Zugunglück. Der Express von Oslo nach Bergen entgleist, und obwohl es viel schlimmer hätte ausgehen können, so gilt dieser Unfall dennoch als Katastrophe. In Anbetracht der Verhältnisse hatten die Passagiere ein sagenhaftes Glück im Unglück, denn es gab nur ein Todesopfer: den Lokomotivführer; die übrigen 269 Reisenden kommen mit einem Schrecken oder nur leichten Verletzungen wie Hautabschürfungen, Prellungen und dem einen oder anderen Knochenbruch davon.

Das Schlimmste an ihrer Lage ist aber die Geographie. Mitten im Gebirge von Bergen eingeschlossen, werden die verunglückten Passagiere des Zuges 601 von einem Orkan und heftigen Schneefällen festgehalten. Die nächste Ortschaft ist zu weit entfernt, die Straße und Wege sind völlig überschneit, so dass den Reisenden nur das nahe gelegene Berghotel „Finse 1222“ als alternativer Zufluchtsort zur Auswahl steht.

Abgeschnitten von der Umwelt und der Zivilisation, bleibt ihnen nichts anderes zu tun als abzuwarten, bis sich das Unwetter gelegt hat. Doch im Laufe der nächsten Stunden wird der Schicksalsgemeinschaft schnell klar, dass es länger als ein paar Stunden dauern wird, bis Hilfe aus der nächsten Stadt zu ihnen kommen kann.

Die Spannungen in der Gemeinschaft nehmen zu, ebenso die Gerüchte, dass sich vielleicht ein Mitglied der Königsfamilie, die in einem Extra-Wagen gereist sein soll, in den oberen Stockwerken des Hotels befinden. Bewaffnete Sicherheitsleute scheuchen jeden neugierigen Besucher freundlich, aber bestimmt fort. Die Ärzte, die auf einem Weg zu einem Kongress waren, kümmern sich um die Leichtverletzten, und die Hotelangestellten haben alle Hände voll zu tun, um die vielen Menschen auf engstem Raum zu versorgen und vor allem zu beruhigen.

Unter den Passagieren ist neben einem bekannten Fernsehprediger auch die ehemalige Kommissarin Hanne Wilhelmsen. Diese war vor Jahren in einer Schießerei geraten und eine Kugel zerfetzte ihr Rückenmark, so das sie seit mehreren Jahren von der Hüfte ab gelähmt und auf ihren Rollstuhl angewiesen ist. Durch ihre Behinderung ist die frühere Beamtin launisch, verbittert und recht eigensinnig und anstrengend geworden.

Die angespannte Situation spitzt sich weiter zu, als der bekannte Fernsehprediger Cato Hammer erschossen aufgefunden wird. Es war eindeutig Mord, und Hanne ermittelt gegen ihren Willen, denn sie glaubt, dass die Polizei den Mord schnell aufklären kann, schließlich gibt es nur eine begrenzte Anzahl von potenziellen Tätern und auch der Tatort ist ja eher auf ein minimalen Umkreis eingeschränkt.

Doch die anfängliche Panik steigert sich und die Schicksalsgemeinschaft teilt sich in mehrere Lager auf. Einige Reisende sind abgeklärt und gelassen, andere hingegen befinden sich auf dem Weg in eine panische Hysterie und die nächsten wiederum versuchen sich als Anführer zu profilieren.

Das Unwetter wird nicht besser, eher im Gegenteil. Je stärker der Orkan an dem vom Schnee eingeschlossenen Hotel rüttelt, desto unruhiger werden die dort Eingeschlossenen. Hanne ist sich dessen bewusst und hofft, dass schnellstens der Mörder unter ihnen gefasst wird oder Rettung naht, sonst könnte es innerhalb von „Finse 1222“ zu einer wahren Katastrophe kommen.

Hanne Wilhelmsen – unterstützt von einem Arzt mit enormen Wissen und einem charismatischen Anwalt sowie der Hotelmanagerin – beginnt zu ermitteln, und als sie glaubt, einen Zeugen der Mordtat zwischen den Passagieren aufgespürt zu haben, wird dieser erstochen aufgefunden …

_Kritik_

„Der norwegische Gast“ von Anne Holt ist ein klassischer Kriminalroman, ganz im Stil der bereits erwähnten britischen Autorin Agatha Christi. Die Geschichte wird dabei aus der Perspektive der kauzigen Hanne Wilhelmsen geschildert. Mit vielen humoristischen Zwischenbemerkungen und Vergleichen durchsetzt, liest sich der Roman flüssig und fesselnd.

Anne Holt hat aber ihr Hauptaugenmerk auf den Ausbau und die Darstellung der verschiedenen Persönlichkeiten gerichtet. Es gibt etwa fünfzehn Personen, denen mit all ihren menschlichen Eigenarten eine literarische Seele eingehaucht wird. Dabei geht die Autorin sehr ins Detail, jedoch tut dies dem Spannungsbogen keinen Abbruch, sondern vertieft ihn nur. Die Protagonisten wirken derart gut konzipiert, dass der Leser deren Schicksal und ihre Ängste und Hoffnungen gut nachempfinden kann. Die ganze Story erscheint überhaupt recht realitätsnah und wird nicht übertrieben oder gar verworren.

Spannend sind nicht nur die Ermittlung des Täters, sondern auch die Beziehungen der eingeschlossenen Personen untereinander. Wer kennt wen? Wer verheimlicht etwas? Mit der Tragik der Abgeschiedenheit, der Angst und der Panik, aber auch dem Überlebenswillen und der Hoffnung legt die Autorin viel Wert auf die Dialoge ihrer sympathischen Figuren.

Ein Krimi ist nun allerdings kein Thriller, sodass hier angenehm wenig Blut fließt und auch die Spannung zwar vorhanden ist, nicht aber über die ganze Handlung dominant wirkt. Der Leser ist wirklich angehalten, sich selbst Gedanken zum Motiv und dem Ablauf des Mordes zu machen. Mit jedem Kapitel summieren sich die Hinweise, so dass der Leser erst zum Schluss mit der Auflösung des Rätsels konfrontiert wird.

Anne Holts Stil ist authentisch und sehr detailreich. Über die Hauptperson, die im Rollstuhl sitzende Hanne Wilhelmsen, erfährt man viel Persönliches, sodass man durchaus das Gefühl bekommt, die Figur schon länger zu kennen oder auch mitten unter den Eingeschlossenen zu sein und alles zu beobachten. Etwas paradox verhält es sich dabei aber, dass man sich zwar Hanne nahe fühlt, zugleich aber an ihrer Gedankenwelt keinen unmittelbaren Anteil hat. Ihre Ermittlungen, Vermutungen und Verdächtigungen behält sich fast gänzlich für sich, sodass der Leser ihr aus einer bestimmten Distanz nicht folgen kann, selbst wenn er das versucht. Einerseits erzeugt dieser Dreh Spannung und motiviert den Leser dazu, selbst aktiv zu werden, andererseits kann das Konzept schon etwas befremdlich wirken.

_Fazit_

Anne Holts skandinavisches Ich spiegelt sich gut in „Der norwegische Gast“ wider. Von Norwegen und seinen Menschen und nicht zuletzt dem Wetter erfährt der Leser – für einen Kriminalroman – recht viel, und die Autorin macht sich oftmals schelmisch im positiven wie auch negativen Sinne über ihre Landsleute lustig. Objektive Selbstkritik ihrer Figuren gibt ihre Liebe und Verbundenheit zu Norwegen gut wieder.

„Der norwegische Gast“ ist ein Lesevergnügen à la Miss Marple, die wie es mir erschien, eine Großmutter von Hanne Wilhelmsen gewesen sein könnte. Der Schauplatz erinnerte mich sofort an [„Mord im Orientexpress“, 1844 in dem es auch ein ähnliches Szenario aufzuklären gab. Ein Mord, eine eingeschränkte Lokalität und jeder könnte der Mörder sein – ein Whodunit klassischer Zusammenstellung. Die Zutaten für diese Art von Geschichte sind daher zwar nicht neu, aber doch gekonnt an den richtigen Stellen platziert.

Dieser Krimi ist für jedem Fan zu empfehlen, und man sollte sich die Lektüre keinesfalls entgehen lassen, erst recht nicht, wenn man ohnehin gerne [Whodunits]http://de.wikipedia.org/wiki/Whodunit oder nordische Krimis liest und sich in den skandinavischen Ländern mit ihrer Lebensart wohlfühlt.

_Die Autorin_

Anne Holt, geboren 1958 in Larvik, wuchs in Norwegen und in den USA auf. Als freie Autorin lebt sie heute mit ihrer Familie in Oslo. Ihre Kriminalromane werden in zahlreiche Sprachen übersetzt und machen sie zu einer der erfolgreichsten skandinavischen Autorinnen weltweit. Zuletzt erschienen von ihr „Was niemals geschah“ und „Die Präsidentin“.

|Originaltitel: 1222|
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs
317 Seiten, gebunden
ISBN-13: 978-3-492-04693-0|
http://www.piper-verlag.de

_Anne Holt auf |Buchwurm.info|:_

[„Was niemals geschah“ 1971
[„Die Wahrheit dahinter“ 1523

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