Greg Bear – Tangenten. Phantastische Erzählungen

Diese Storysammlung versammelt Bears beste kurze Arbeiten, umfasst jedoch keine seiner Novellen wie etwa das berühmte „Hardfought“ (dt. Titel: „Der Feind in mir“, deutsch in einem IASFM). Dafür sind die preisgekrönten Storys „Musik des Blutes“ – die Vorlage für den bekannten Roman – und „Tangenten“ enthalten.

Findet in „Musik des Blutes“ (Blood Music/Blutmusik) eine Erweiterung der Evolution aufgrund von intelligenten Viren statt, so nimmt in „Tangenten“ ein kleiner Junge Erstkontakt mit Aliens in einer Erweiterung unserer dreidimensionalen Wirklichkeit auf. Die Aliens kommen aus der vierten Dimension des Raumes und haben die Eigenart, sich auf überraschende Weise in den drei Dimensionen eines Hauses als riesige Körperteile zu manifestieren. Damit hat nicht nur die Einwanderungsbehörde ein Problem.

In den sieben anderen Erzählungen werden sehr unterschiedliche Probleme thematisiert. Ähnlich wie in „Tangenten“ greift Bear auch in „Schrödingers Seuche“ ein physikalisches, aber spekulatives Phänomen auf und treibt es zu einer möglichen Konsequenz. Ausgehend von Heisenbergs Erkenntnis, dass der Beobachter (subatomare) Ereignisse beim Beobachten beeinflusst, postuliert Bear, dass der Wissenschaftler dann auch den Ausbruch einer Seuche aus einem Behälter mit Viren entweder verhindern oder auslösen könne – ein unheimliches Szenario.

In andere Dimensionen führen auch die Storys „Totenfuhre“ und „Die Straße ins Nirgendwo“. „Totenfuhre“ funktioniert wie eine Erzählung von Stephen King: Ein auf den ersten Blick stinknormaler Trucker hat eine ungewöhnliche Fracht abzuliefern – tote Seelen (Gogol lässt grüßen). Sie sehen aus wie Menschen, aber ihr Blick ist relativ unlebendig. Als ihm Zweifel kommen, ob er manche Seelen nicht auch zu Unrecht chauffiert, fährt der Trucker ins Land hinter dem Gebäude, wo er abliefert, hinter die große Mauer, ins Land der Toten. Dort erfährt er die Wahrheit über seine Passagiere. Sie wurden von Vertretern der rechtsgerichteten „moralischen Mehrheit“ in den USA, die sich als „Stellvertreter Gottes“ betrachten, zum Tode verurteilt, zu Unrecht meist, zum Beispiel weil sie „Huckleberry Finn“ ausgeliehen hatten, ein „unmoralisches“ Buch. Der Trucker lässt die Seelen seiner letzten Fuhre frei und verschwindet.

Auf der „Straße ins Nirgendwo“ treffen zwei deutsche Nazi-Offiziere auf Urlaub im Frankreich des Jahres 1984 ein altes Weib in einer Kate. Durch die offenbar magischen Fähigkeiten der Alten landen sie auf ihrem weiteren Weg im Jahr 1944, mitten in den Wirrungen der alliierten Invasion.

Ähnlich satirisch ist die Fabel „Webster“ angelegt. Ein moderne, selbständige Frau der nahen Zukunft erschafft sich ihren Traummann aus einem Wörterbuch, eben dem Webster-Lexikon. Doch die Beziehung zu ihm scheitert, da, wie er sagt, ihm „die Substanz fehle“, sprich: Gefühle.

In drei weiteren Geschichten setzt sich Bear mit der Begegnung mit dem Andersartigen auseinander. In „Die Hure“ besucht ein Arbeiterjunge aus den armen Quadranten der Zukunftsstadt das Haus einer berühmten Prostituierten im besten Stadtviertel, um seine Mutter dort auszulösen. Seine Gegenleistung besteht darin, der Hure Gesellschaft zu leisten. Er verliebt sich sogar ein wenig in sie, obwohl er sie zunächst fürchtete. Er erscheint wie der Prinz in „Dornröschen“ in einem erstarrten Leben, schließlich soll er ihr Haus übernehmen. Er scheitert an der Missgunst seiner Verwandtschaft aus den Arbeitervierteln.

„Ein marsianischer Ricorso“ erzählt das Schicksal einer Marsexepedition, von der nach dem Kontakt mit den intelligenten Aliens nur ein Besatzungsmitglied überlebt, doch im Gegensatz zu „Alien“ nicht wegen irgendwelcher Monster, sondern wegen (oder trotz) der unangemessenen Reaktion seiner Vorgesetzten auf die friedlichen Aliens.

In „Schwestern“ ist die Fremdartige diejenige, die man heute eine „normale Schülerin“ nennen würde. Alle anderen an ihrer Schule sind genverbesserte superintelligente Schönheiten. Leider, so wird im Lauf der Handlung klar, fallen sie sehr leicht Herzanfällen und Kreislaufzusammenbrüchen zum Opfer. Eine Seuche bricht unter den „Optimierten“ aus. Die Eltern der „Normalen“ triumphieren: Sie hatten sich aus ethischen und ökologischen Gründen geweigert, ihre Kinder im Mutterleib genetisch optimieren zu lassen. Doch ihr „normales“ Kind zeigt eine weit sympathischere Reaktion: Sie begreift die Optimierten als Opfer einer Krankheit und solidarisiert sich mit ihnen. Sie sind ihre Schwestern und Brüder.

Bear legt seine Ansichten in einem Vorwort dar und erklärt die Entstehung der Storys ein wenig. Die abschließende Reportage „Die Unterhaltungsmaschinerie – Ein Bericht aus den Trickstudios über die Medien der Zukunft“, die den Band beendet, liefert einen Ausblick auf die mögliche virtuelle Realität aus dem Computer, allerdings aus der Sicht des Jahres 1987. Da manche von uns bereits zunehmend in eben dieser virtuellen Realität leben, kommt uns dieser Bericht reichlich zahm und, nun ja, „normal“ beziehungsweise altbacken vor.

Der Autor

Greg Bear wurde 1951 in San Diego, einer wichtigen US-Marinebasis, geboren und studierte dort englische Literatur. Unter den Top-Hard-SF-Autoren ist er der einzige, der keine naturwissenschaftliche Ausbildung hat. Seit 1975 als freier Schriftsteller tätig, gilt er heute dennoch als einer der ideenreichsten wissenschaftlich orientierten Autoren.

Sein „Das Darwin-Virus“, der hierzulande zuerst in einem Wissenschaftsverlag erschien, wurde zu einem preisgekrönten Bestseller. Erst damit konnte sich Bear aus dem Science Fiction-Ghetto herausschreiben, so dass man ihn heute ohne weiteres mit Michael Crichton vergleicht. Nur dass Bear da anfängt, wo Crichton aufhört. Im Jahr 2004 erschienen bei uns „Darwins Kinder“, die Fortsetzung von „Darwin-Virus“, sowie der Roman „Stimmen“. 2006 erschienen die Taschenbuchausgabe von „Darwins Kinder sowie der Roman „Quantico“.

Bear hat eine ganze Reihe von Science Fiction- und Fantasyzyklen verfasst. Die wichtigsten davon sind (HSF = Heyne Science Fiction):
– Die Thistledown-Trilogie: Äon (HSF 06/4433), Ewigkeit (HSF 06/4916); Legacy (bislang unübersetzt).
– Der Amboss-Zyklus: Die Schmiede Gottes (HSF 06/4617); Der Amboss der Sterne (HSF 06/5510).
– Der Sidhe-Zyklus: Das Lied der Macht (06/4382); Der Schlangenmagier (06/4569).

Weitere wichtige Werke: „Blutmusik“ (06/4480), „Königin der Engel“ (06/4954), „Slant“ (06/6357) und „Heimat Mars“ (06/5922). Er hat zudem Beiträge für die Buchreihen des Foundation-, Star-Trek- und Star-Wars-Universums geschrieben.

Seine Romane wurden mit etlichen internationalen Preisen ausgezeichnet, in über 22 Sprachen übersetzt und weltweit millionenfach verkauft. Während der vergangenen 28 Jahre war er außerdem als Berater für die NASA, die U. S. Army, das amerikanische Außenministerium, die International Food Protection Association und das US-Ministerium für Heimatschutz tätig; dabei ging es um Themen wie Privatisierung des Weltraums, Lebensmittelschutz, Grenzen der Mikrobiologie und Genetik sowie biologische Sicherheit. (Amazon.de)

Taschenbuch: 301 Seiten.
Originaltitel: Tangents, 1989
Aus dem US-Englischen von Andreas Irle und Peter Robert.
ISBN-13: 978-3453119512

www.heyne.de

Der Autor vergibt: (4.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)