Mann, Michael – dunkle Seite der Demokratie, Die. Eine Theorie der ethnischen Säuberung

Jeder kann ohne besondere Gründe zum Völkermörder oder dessen Helfer werden, wenn er im falschen Staat zur falschen Zeit lebt. Mit diesem eigentlich erschreckenden Satz lässt sich eine der Grundthesen beschreiben, die Michael Mann vertritt. In seinem Buch „Die dunkle Seite der Demokratie. Eine Theorie der ethnischen Säuberung“ versucht der amerikanische Soziologe die Gemeinsamkeiten aller Genozide der jüngeren Zeit ab dem 19. Jahrhundert zu analysieren – und nimmt seinen Leser dabei mit auf eine detaillierte Reise durch menschliche Abgründe der Mordgier, von Hitlers Nationalsozialisten über Stalins kommunistische Schergen bis hin zu den fürchterlichen Schlachterszenen, die sich vor mehr als zehn Jahren in Ruanda abspielten.

Die zentrale These des mehr als 800 Seiten starken Werkes lautet dabei: Noch nicht stabile Staaten auf dem Weg zur Demokratisierung oder mit einem anfangs demokratischen Anspruch sind am stärksten gefährdet, in den Strudel eines Völkermords abzugleiten – wenn ihre Probleme zunehmend auf ethnische Gegensätze reduziert werden, das Volk sozusagen als Bluts- oder Klassengemeinschaft angesehen wird, in dessen Land andere bisher lebende Gruppen keinen Platz mehr haben sollen. Gesellen sich zu solch einem Konflikt noch andere Faktoren – beispielsweise eine bedrohte Minderheit, die Hilfe von außen bekommt oder selber Anspruch auf Autonomie erhebt -, ist schnell der Punkt erreicht, an dem erst kleinere Unruhen später zum vom Staat gedeckten systematischen Vertreibungen führen – und schließlich zu hunderten, tausenden, manchmal Millionen Morden.

Was so erst einmal abstrakt klingt, beschreibt Michael Mann detailliert. Zu Ereignissen wie dem Völkermord an den Armeniern werden akkurat die geschichtlichen Abläufe geschildert, aber auch einzelne der handelnden Personen dahingehend beschrieben, wie sie sich in die monströsen Verbrechen verstrickten. Und genau da belegt der Politologe seine These: Es waren gerade auf „Sachbearbeiter“- und „Fachbereichsleiter“-Ebene eben ganz normale Menschen, die andere ganz normale Menschen töteten oder mit einem Federstrich erschießen ließen. Besonders erhellend ist in diesem Zusammenhang das Kapitel über den Völkermord der Nationalsozialisten, wo einmal mehr detailliert gezeigt wird, wie viele Menschen sich in die Verbrechen des Dritten Reiches hatten einbinden lassen, sei es aus Karrieregründen, aus Angst vor Repressalien bei Verweigerung oder wirklich empfundenen Hass gegen Juden und Slawen. Und selbst hier, so Mann, träfe seine These von der „dunklen“ Seite der Demokratie zu: Adolf Hitler, der, mit Mehrheit gewählt, für sein Volk spricht, das ihm zujubelt; ein Führer, der den virtuellen (Volks-)Feind des Juden aufbaut – und erst dessen Vertreibung forciert, später in der Kriegskrise schließlich aber seine Vernichtung.

Es sind vieler solcher interessanten Gedanken, die sich quer durch das Buch ziehen, mit dessen grässlichen wie nüchtern geschilderten Geschichten von Massenvergewaltigungen im Jugoslawienkrieg oder mit Leichenwasser gedüngten „Feldern des Todes“ in Kambodscha. Solche und andere Menschheitsverbrechen werden allerdings nicht gleichgesetzt, sondern singulär betrachtet, nur ihre gemeinsamen Strukturmerkmale sind für Michael Mann wichtig: Ein wichtiger Hinweis für solche Leute, gerade aus dem rechtsextremen Spektrum, die das einzigartige Verbrechen des deutschen Volks an den Juden mit den Schweinereien anderer Nationen aufzuwiegen versuchen.

Somit ist Michael Mann mit seiner Arbeit ein Standardwerk für die moderne Friedens- und Konfliktforschung geglückt. Es ist gleichwohl ein Buch, das Angst macht: Denn kaum zuvor hat jemand so überzeugend die notwendige Demokratisierung in der Welt in einen Zusammenhang gestellt mit immer perfekteren Völkermorden – einem Phänomen, welches es in diesem Ausmaß erst in der Neuzeit gibt. Die Schlüsse von Michael Mann sind dementsprechend pessimistisch: Gerade für die südliche Halbkugel sieht er in den nächsten Jahren noch viele Szenarien, die wieder zu einem Völkermord eskalieren können … Darauf muss die Weltgemeinschaft eine Antwort finden – eine Hoffnung, die wohl nicht nur der Soziologieprofessor hegt.

|Originaltitel: The Dark Side of Democracy: Explaining Ethnic Cleansing
Originalverlag: Cambridge University Press 2005
Aus dem Englischen von Werner Roller
861 Seiten
ISBN13: 978-3-936096-75-0|
http://www.his-online.de

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