Bryers, Paul – Winter des Bären

In Bridport, einem kleinen Ort im US-amerikanischen Staat Maine, nicht weit entfernt von der kanadischen Grenze, ist der erste Schnee des Jahres gefallen, als am Rande des dichten Waldes, der die Gemeinde umgibt, die Leiche einer jungen Frau entdeckt wird. Sie wurde fürchterlich zerfleischt und offensichtlich von einem Bären angefallen. Doch Detective Michael Calhoun von der Staatspolizei ist skeptisch, denn obwohl es in den Wäldern um Bridport tatsächlich Bären gibt, hat es mit ihnen noch niemals Ärger gegeben.

Madeleine Ross – so hieß die Tote – war erst vor wenigen Monaten mit ihrer zehnjährigen Tochter Freya aus England in die Vereinigten Staaten gekommen. Nach Bridport war sie offenbar auf den Spuren ihrer früh verstorbenen Mutter gereist, einer Indianerin vom Stamm der Souriquois, der hier seit jeher ansässig ist. Ihren Unterhalt hatte sie sich als Bedienung in einem Lokal und Helferin auf einer archäologischen Ausgrabung verdient: In Bridport stand einst Fort Winter, Anfang des 17. Jahrhunderts von den Franzosen erbaut und nach deren Rückzug von den Briten übernommen, eine der frühesten europäischen Siedlungen auf dem nordamerikanischen Kontinent.

So weit ist Detective Calhoun mit seinen Ermittlungen gekommen, als er etwas Interessantes herausfindet: Madeleine Ross hatte bis vor kurzem ein Verhältnis mit Innis Graham, dem Abkömmling einer im Holzgeschäft reich gewordenen, nun aber verarmten Bridporter Familie. Die Beziehung wurde offenbar im Streit und von Madeleine gelöst, während Graham die Trennung nicht hinnehmen wollte. Inzwischen ist im heimatlichen England Jessica, die ältere Schwester Madeleines, über deren Tod informiert worden. Sofort reist sie in die USA, um in Bridport Näheres über das Unglück in Erfahrung zu bringen und sich um ihre Nichte zu kümmern.

Ein weiterer archäologischer Fund sorgt hier derweil für eine Sensation: In einem Massengrab findet man die Überreste zahlreicher Siedler, die im 17. Jahrhundert offenbar von ihren indianischen Nachbarn massakriert wurden. Die Tragweite dieser Entdeckung ist enorm, denn die Souriquois haben gerade eine Klage gegen den Staat Maine angestrengt, der ihnen eine hohe Entschädigung für die Verfolgungen und Vertreibungen zahlen soll, denen sie durch die Siedler einst ausgesetzt waren. Sollten diese sich nun als eigentliche Opfer herausstellen, stünde es schlecht um die Chancen des Stammes, den Prozess zu gewinnen.

Detective Calhoun glaubt inzwischen nicht mehr daran, dass Madeleine Ross durch einen Bären zu Tode kam. Diese Vermutung wird zur Gewissheit, als die Leiterin der Ausgrabung einem Mordanschlag zum Opfer fällt. Während eines heftigen Schneesturms finden Calhoun und Jessica Ross unabhängig voneinander heraus, wer hinter den Morden steckt …

„Winter des Bären“ ist ein komplexes und mehrschichtiges Werk – ein sauber konstruierter Krimi mit einer ungewöhnlichen Auflösung; die Geschichte zweier höchst unterschiedlicher Schwestern, die nie miteinander ins Reine kommen können, bis es zu spät ist; ein Panorama des nur auf den ersten Blick idyllischen und hinterwäldlerischen Staates Maine und seiner Bewohner sowie ein historischer Abriss der weitgehend unbekannten, aber farbigen Vergangenheit Neuenglands, die auch dreieinhalb Jahrhunderte später nichts von ihrer Brisanz verloren hat.

Eine Menge hat sich der Autor also vorgenommen, und das Meiste gelingt ihm auch. Obwohl Paul Bryers in England geboren wurde und dort auch lebt, entwirft er ein einfühlsames Porträt des Staates Maine, der bisher dank seines prominentesten Bürgers, des Schriftstellers Stephen King, eher als Hort diverser Geister, Teufel und Untoter bekannt geworden ist.

Eine ganze Weile scheint es so, als wolle Bryers in dasselbe Horn stoßen, als er beginnt, in die Mythologie der indianischen Urbevölkerung einzutauchen. Glücklicherweise gerät er aber nie auf die Schiene jener heutzutage so beliebten, aber meist nur schwer verdaulichen Ethno-Thriller, deren um politische Korrektheit schwer ringende Autoren die in den Mittelpunkt der Handlung gerückten Minderheiten (ob es nun Indianer sind oder andere „edle Wilde“) als Gutmenschen und Bewahrer einer „besseren“, da näher am Busen der weisen Mutter Natur verbrachten Lebensart mit derselben dreisten Selbstverständlichkeit für sich vereinnahmen, mit der ihre Vorgänger diese einst als blutdürstige Unmenschen verteufelt haben.

Doch dann konzentriert sich Bryers glücklicherweise mehr auf einen Rückblick auf die frühe Siedlungsgeschichte Maines im 17. Jahrhundert. (Der Autor war Lehrer für Geschichte, er ehe zum Journalismus und zur Schriftstellerei wechselte.) Wer weiß heute schon, dass der Osten Nordamerikas zunächst nicht von den Briten, sondern den Franzosen (und in geringerem Umfang von den Niederländern) kolonisiert wurde, und dass um die Vorherrschaft in dieser Region anderthalb Jahrhundert erbittert gerungen wurde, bis sich der Konflikt im britisch-französischen Kolonialkrieg von 1754/55 bis 1763 entlud, der schließlich auf die Mutterländer und ihre Verbündeten übersprang und in Europa den Siebenjährigen Krieg (1756-1763) ausbrechen ließ. Erst der Friede von Paris (1763) brachte das Ende der französischen Vorherrschaft in Nordamerika. Bis zu diesem Zeitpunkt tobte im Osten der späteren USA und Kanadas ein schmutziger Guerilla-Krieg, den die verfeindeten Parteien größtenteils durch „Stellvertreter“ ausfechten ließen – die indianischen Ureinwohner, die für ihre Dienste mit Krankheiten, Alkoholismus, Landraub und Ausrottung „belohnt“ wurden. Diese traurige Tradition wurde später von den neuen amerikanischen Landesherren übernommen. Unter den Folgen leidet die Urbevölkerung bis heute, und obwohl es natürlich keine „Indianerkriege“ mehr gibt, blieben Spannungen zwischen den „alten“ und den „neuen“ Bewohnern Nordamerikas bis in die Gegenwart zurück. Die Illusion eines scheinbar harmonischen Miteinanders, das tatsächlich ein im besten Fall gleichgültiges Nebeneinander ist, bringt Bryers geschickt und wie beiläufig auf den Punkt.

Aus dem Gleis gerät der Roman nur, wenn Bryers die Geschichte von Madeleine und Jessica erzählt. Hier hat er die Handlung eindeutig überfrachtet; er führt sie immer wieder in Sackgassen, die sie nicht weiter bringen. „Winter des Bären“ basiert auf einer guten Ausgangsidee, die logisch entwickelt wird. Reflexionen über eine komplizierte Schwestern-Beziehung, die sich über die halbe Welt erstreckt, bis sie schließlich in Maine endet, stören den Rhythmus empfindlich. Das ist aber auch der einzige echte Einwand, der sich gegen dieses Buch (das im Übrigen auch noch von erfreulicher Kürze ist) erheben lässt.