Wilson Tucker – Das Jahr der stillen Sonne. Zukunftsroman

Ernste Warnung vor den Folgen der Rassentrennung

‚Eine Zeitmaschine, wie wir sie von H. G. Wells kennen, bringt den Antihelden dieser Geschichte, die einem das Blut gefrieren lässt, in eine Alptraumwelt einer nahen Zukunft, die wir nach Ansicht vieler Leute durch unsere Politik gegenüber Minderheiten gar nicht anders verdient haben. Ich meine, dieser außerordentlich spannende, realistische Roman verdient den „Hugo“ die Auszeichnung für den besten Science-Fiction-Roman des Jahres.‘ A. E. van Vogt.

Dieser Roman ist auch 1972 in der Reihe „Goldmann Science Fiction der Chef-Auswahl“ in Leinen gebunden erschienen…. (Verlagsinfo)

A.E. van Vogt nominierte diesen Roman für den HUGO 1970, aber die Konkurrenz war zu stark, um ihn zu erringen. Tucker bekam einen Trostpreis als bester Fanautor, außerdem eine Nominierung für den NEBULA Award der Kritiker.

1976 wurde ihm der John W. Campbell Memorial Award for Best Science Fiction Novel rückwirkend für „The Year of the Quiet Sun“ (1970) verliehen, den dieser Roman ist einfach zu wichtig, um ihn ignorieren zu können.

Der Autor

Arthur Wilson „Bob“ Tucker (geboren am 23. November 1914 in Deer Creek, Illinois; gestorben am 6. Oktober 2006 in Saint Petersburg, Florida) war ein amerikanischer Autor von Kriminalromanen und Science-Fiction und über 70 Jahre lang ein profiliertes Mitglied des Science-Fiction-Fandom.

Tucker kam 1932 mit der Science Fiction in Berührung. In dieser Dekade begann er, das Science-Fiction-Magazin The Planetoid zu verlegen. Von 1938 bis 1975 publizierte er das Magazin Le Zombie, welches mehr als sechzig Ausgaben umfasste. Zeit seines Lebens war er fest im SF-Fandom verwurzelt, sein erster Roman The Chinese Doll war dann auch ein Krimi, der sich in der Welt der SF-Fans ereignet.

1941 publizierte Tucker seine erste Kurzgeschichte Interstellar Way Station. Zwischen 1941 und 1979 schrieb er 25 SF-Kurzgeschichten. Ebenso begann er mit dem Schreiben von Romanen, darunter elf Kriminalromane und ein Dutzend SF-Romane.

Tucker trat vor allem in den 1950er Jahren mit bedeutenden SF-Romanen hervor, von denen „The Long Loud Silence“ und „The Year of the Quiet Sun“ am bekanntesten wurden. Mit „The Lincoln Hunters“ (siehe meinen Bericht zu 3453310659) schuf Tucker einen SF-Roman, der zu den Klassikern der Zeitreise-Literatur gezählt wird.

Tucker prägte einige Begriffe, die bis heute benutzt werden. Hierzu zählt Space Opera (dt. Weltraumoper). Ebenso bekannt ist seine Art der „Tuckerization“, wo er Namen von Fans und Freunden in seinen Werken nutzt. (Quelle: Wikipedia.de)

Romane

• The Chinese Doll (1946)
• To Keep or Kill (1947)
• The Dove (1948)
• The Stalking Man (1949)
• Red Herring (1951)
• The City in the Sea (1951)
o Deutsch: Die Stadt im Meer. Moewig (Terra Sonderband #68), 1963.
• The Long Loud Silence (1952, überarbeitet 1969)
o Deutsch: Das endlose Schweigen . Übersetzt von Clark Darlton. Moewig (Terra Sonderband #4), 1958. Auch als: Die Unheilbaren . Übersetzt von Walter Ernsting. Ullstein (Ullstein 2000 #52 (2981)), 1958, ISBN 3-548-02981-7.
• The Time Masters (1953, überarbeitet 1972)
o Deutsch: Die letzten der Unsterblichen. Ullstein 2000 #44 (2959), 1973, ISBN 3-548-02959-0.
• Wild Talent (1953, auch als Man from Tomorrow, 1955)
o Deutsch: Der Unheimliche . Übersetzt von Günter Hehemann. Moewig (Terra Sonderband #15), 1959. Auch als: Geheimwaffe Mensch . Übersetzt von Bodo Baumann. Ullstein (Ullstein 2000 #64 (3030)), 1974, ISBN 3-548-03030-0.
• Time Bomb (1955, auch als Tomorrow Plus X, 1957)
o Deutsch: Die Zeitbombe . Übersetzt von Peter Mathys. Moewig (Terra Sonderband #29), 1960. Auch als: Zeit-Bombe . Übersetzt von Otto Kuehn und Peter Mathys. Ullstein (Ullstein 2000 #92 (3140)), 1975, ISBN 3-548-03140-4.
• The Man in My Grave (1956)
• The Hired Target (1957)
• The Lincoln Hunters (1958)
o Deutsch: Die Lincoln-Jäger. Heyne Science Fiction & Fantasy #4105, 1984, ISBN 3-453-31065-9.
• To the Tombaugh Station (1960)
o Deutsch: Der letzte Flug der Xanthus. Moewig (Terra Sonderband #48) 1961.
• Last Stop (1963)
• A Procession of the Damned (1965)
• The Warlock (1967)
• The Year of the Quiet Sun (1970)
o Deutsch: Das Jahr der stillen Sonne. Goldmann Science Fiction der Chef-Auswahl, 1972, ISBN 3-442-30257-9.
• This Witch (1971)
• Ice and Iron (1974)
• Resurrection Days (1981)

Story-Sammlungen

• The Science-Fiction Subtreasury (1954, auch als Time:X, 1955)
• The Best of Wilson Tucker (1982)
(Quelle: Wikipedia.de)

Handlung

Der Demograph und Bibelwissenschaftler Brian Chaney liegt am 7. Juni 1978 am Strand von Florida, als er Besuch von einem luftig bekleideten Mädchen erhält, die sich als Kathryn van Wise, die Leiterin einer Forschungsabteilung im Amts für Normung, vorstellt. Gegen junge Frauen hat Chaney generell nichts einzuwenden, besonders wenn sie unter der Bluse keinen BH und nur ein kurzes Höschen tragen. Doch Kathryn ist gekommen, um ihn für ein ultrageheimes Programm des Militärs zu rekrutieren, das vom Präsidenten persönlich überwacht wird.

Chaney ist selbst schuld, dass ihn die Regierung haben will. Er hat im Auftrag der Indiana Corporation, einer Denkfabrik in Chicago, einen Report verfasst und veröffentlicht. Darin hat er diverse Vorhersagen zusammengefasst, die er ein zwei Qumran-Schriftrollen vom Toten Meer entnommen hat. Offenbar gilt er fortan nicht nur als Futurologe, sondern als meistgehasster Mann Amerikas. Anscheinend will niemand, dass seine Zukunft eintritt. Er weiß nicht, dass im Augenblick Krieg in Südostasien herrscht; eine Stadt südlich von Saigon wurde von einer chinesischen Atomrakete zerstört, worauf die USA zwei Eisenbahnknotenpunkte in China mit Wasserstoffbomben ausgelöscht haben.

Das ZVF

Kathryns Amt hat seinen bisherigen Arbeitsvertrag übernommen und bringt ein paar sehr überzeugende Argumente vor, die ihn neugierig machen. So etwa soll er die Möglichkeit erhalten, seine eigenen „Vorhersagen“ zu überprüfen. Dafür wird ihm ein Zeitverschiebungsfahrzeug (ZVF) zur Verfügung gestellt, mit der er in das Jahr 2000 reisen soll, um von dort zu berichten. Als er nicht sofort ablehnt, legt sie ihm die Daumenschrauben des gekauften Vertrags an und verdonnert ihn zu strengster Geheimhaltung. Bricht er sie, wird er wegen Hochverrats hingerichtet.

Gefährten

Solcherart schanghait gesellt er sich in Joliet, Illinois, zu zwei anderen Zeitreisenden in spe: Arthur Saltus ist Korvettenkapitän und William Moresby ist beim Geheimdienst der Luftwaffe. Natürlich schauen beide Soldaten auf den Zivilisten herab, doch Kathryn stellt Chaney gebührend vorm bis bei den beiden Soldaten der Groschen fällt: DER Chaney?! Genau der.

Während die Zeitreise-Tests der Ingenieure, die seit drei Jahren mit Affen experimentieren, zu durchdringenden akustischen Phänomenen führen, breitet Kathryn Landkarten vom Testgelände Joliet nahe Chicago aus, die sich jeder einprägen muss. Hier wird es im Jahr 2000 die einzigen Nahrungsmittelvorräte, Ausrüstungsgegenstände und Kleider geben, auf die sie zurückgreifen können. Die Zeitreise selbst wird unbekleidet durchgeführt, um Gewicht zu sparen. Chaney kann sich ein paar spitze Bemerkungen über nackte Männer und hübsche Mädchen nicht verkneifen.

Zwei Vorhersagen

Der Durchgang ins Jahr 2000 erfolgt getrennt, also wird jeder für sich allein kämpfen. Brians Vorhersagen haben viel Gewalt und hohe Opferzahlen prognostiziert, also müssen alle drei auf sich achtgeben. Die Prognosen beruhen auf einer Fassung der Offenbarung des Johannes, die offenbar hundert Jahre älter ist als die Bibelversion und daher von dieser deutlich abweicht.

Brian kann kaum glauben, dass Major Moresby ebenso ernstnimmt wie den zweiten Text, den Brian als religiöse Dichtung bezeichnet: „Eschatos“. Doch auch dieser Text ist vom Projektleiter Gilbert Seabrook als offizieller Lernstoff festgelegt worden. Und er beeindruckt Moresby und Seabrooke noch viel mehr, denn es handelt sich um eine klassische Prophezeiung:

„Eschatos“ erzählt die Geschichte eines Mannes, der zwei Männer war, und Drachen (geflügelte Schlangen) vom Himmel vertrieben hat und sich anschließend unter der Erde zur Ruhe legt. Es ist die Zeit der stillen Sonne. In seiner Abwesenheit fallen die Menschen jedoch vom rechten Glauben ab, werden egoistisch und aggressiv. Diese Vision beschreibt die letzten Tage der Welt und gibt Hinweise auf ein blendend helles Licht, ein sich abkühlendes Klima, weltweite Kriege und Seuchen, Kämpfe um Nahrung, Handelsstillstand und Interregnum. Alle warten darauf, dass der Mann, der zwei ist, sich wieder erhebt und die Welt wieder ins Lot rückt.

An diesem Nachmittag treffen sich alle am Swimmingpool und erfahren, dass das ZVF betriebsklar ist. Chaney und Saltus sind inzwischen beide in Kathryn verliebt, doch Brian gelingt es nicht, den Konkurrenten auszustechen. Arthur flirtet intensiv mit der jungen Frau, ohne dass Brian den Mut hat, dasselbe zu tun.

Die Zeitmaschine

Das ZVF ist ein Aluminiumzylinder und schwimmt in einem Betonbecken mit Polywasser. Die zuständigen Ingenieure sorgen für die Hinreise, während die Zeitreisenden selbst die Rückreise antreten können, indem sie eine Querstange mit den Füßen nach vorne drücken. Das Gerät wird von einem eigenen Atomreaktor betrieben, der mindestens 500 Megawatt Energie liefern soll; das Labor ist erdbebensicher gebaut. Seabrooke gibt grünes Licht.

Die erste Reise: 1978

Jeder der drei macht nacheinander eine kurze Zeitreise zur Übung. Wichtig ist, nicht länger als 50 Stunden im Zielgebiet zu bleiben, und streng verboten ist es, nach den Bewohnern der Station zu suchen. Chaney muss schießen lernen und üben, mit einer Holograf-Kamera zu fotografieren. Er ist ein Schütze, der nicht mal ein Scheunentor treffen würde. Die Entscheidung von Präsident Meeks lautet, zwei Jahre in die Zukunft zum 6. November 1980 nach Joliet zu reisen, denn er möchte wissen, ob er wiedergewählt wird.

Die zweite Reise: 6.11.1980

Moresby, Saltus und Chaney starten mit jeweils einer halben Stunde Abstand. Als erster kommt Chaney um 7.55 Uhr an, die Uhr hätte aber 10.03 Uhr anzeigen müssen, eine unerwartete Abweichung. Das Gelände muss unbewaffnet verlassen werden, da ein neues Bundesgesetz Waffenbesitz außer für Polizei und Militär verbietet. Auf dem Parkplatz stehen drei Autos. Chaney verlässt die Station in einem der Fahrzeuge, muss seinen Ausweis vorzeigen und wird auf die Ausgangssperre in Joliet ab 18 Uhr aufmerksam gemacht.

Wegen anhaltender Rassenunruhen zwischen Weißen und Schwarzen wurde in Chicago eine Mauer quer durch die Stadt errichtet. In Joliet besucht er die Stadtbibliothek; viele Streifenwagen der Polizei stehen vor und in der Stadt. Er sieht die Kongresssitzungsberichte und das Jahrbuch des Handelsministeriums durch und notiert Wichtiges in sein Notizbuch.

Der Mauerbau, erfährt er, begann am 29. Juli 1980 aufgrund von Straßenkämpfen; es ist eine 20 Kilometer lange Barriere und teilt die Stadt in Zonen für Weiße und Schwarze ein. Präsident Meeks wurde wiedergewählt und trieb die „Politik der positiven Polarisierung“ (PPP) voran. Chaney wird von vielen misstrauisch oder feindselig angestarrt. Kein Wunder, denn er ist ein Schwarzer. Er fährt zur Station zurück und trifft Saltus im Schutzraum, der Zeitungen fotografiert: China hat Formosa (Taiwan) überfallen und besetzt; Kanada befürwortet die Invasion und will chinesisches Gold gegen kanadischen Weizen tauschen.

Ganz Amerika steht unter Kriegsrecht. Die Vereinigten Stabschefs haben einen Staatsstreich versucht, der jedoch vereitelt wurde. Chaney erkennt, dass dies möglich war, weil die Zeitreisenden die Regierung informierten und Meeks sich vorbereiten konnte. Arthur erzählt ihm im Vertrauen, dass er im Eheregister seine Eheschließung mit Kathryn gefunden hat, und bittet ihn eindringlich, Kathryn nichts davon zu verraten. An diesem Abend gibt es eine Siegesparty. Präsident Meeks bedankt sich bei allen Beteiligten. Arthur und Kathryn tanzen, Chaney hält sich fern.

Am kommenden Tag erfahren sie, dass die nächsten Ziele jeweils ein Jahr auseinanderliegen. William wählt den 4. Juli 1999, Arthur seinen 50. Geburtstag am 23. November 2000. Brian ist der Zeitpunkt egal. Kathryn versichert, sie werde im Besprechungsraum auf die drei Zeitreisenden warten. Es gibt zwei Ausweichziele: den Tag der Kreuzigung Jesu auf Golgatha und den Tag der Ermordung von John G. Kennedy.

Die dritte Reise

Chaney ist als dritter an der Reihe. William Moresby hat den 4. Juli 1999 als Zielzeit gewählt. Er kehrt nicht zurück.

Arthur Saltus will seinen 50. Geburtstag am 23. November 2000 feiern. Er kehrt nicht zurück.

Brian ist der Zeitpunkt egal, aber als er in der Forschungsstation eintrifft, informiert ihn das Tonbandgerät, das Saltus zur Ausgangszeit zurückgeschickt hat, dass er nicht mehr zurückkehren könne. Nur seine kugelsichere Weste habe ihn vor dem Tod bewahrt, als ein paar fremde Wachen auf ihn schossen. Als sich Chaney umschaut, herrscht Finsternis, aber er findet Streichhölzer. Die digitale Wanduhr ist im Jahr 2009 stehengeblieben. Aber irgendjemand hat hier noch gelebt, vielleicht immer noch: Fast alle Lebensmittel sind aufgebraucht und die Waffen sind fast alle aus dem Schrank entnommen worden. Er geht hinaus.

Das Gelände der Forschungsstation bei Joliet ist mehrere Hektar groß und zwei Meilen lang. Er braucht eine Weile, bis er das andere Ende erreicht hat. Eine Familie spielt draußen vor dem mit Totenköpfen geschmückten Stacheldrahtzaun. Erschreckt laufen sie davon: Es ist seine Hautfarbe, die sie in Panik versetzt hat. Er fühlt sich schuldig. Danach ist alles sehr still, nirgendwo regt sich Leben.

Als nächsten begegnet er zwei jungen Menschen, die offenkundig Bruder und Schwester sind: Es sind die Kinder von Arthur Saltus und Kathryn van Hise. Auch sie sind sehr vorsichtig und erklären nur sehr wenig. Chaney ehrt Arthurs Grab. Und schließlich hat er die Ehre, die letzte Überlebende des ursprünglichen Experiments anzutreffen:, und sie hat versprochen, ihn am üblichen Ort zu treffen: im Besprechungsraum…

Mein Eindruck

Rassismus ist das Generalthema, und es lädt geradezu dazu ein, mit dem Holzhammer antirassistische Parolen ins Bewusstsein des Lesers zu hämmern. Das Resultat dürfte meist eine Abwehrreaktion sein, die genau den beabsichtigten Effekt verhindert. Deshalb geht der Autor sehr viel subtiler vor und er setzt eine Reihe von Erzähltechniken so geschickt ein, dass sie selbst den gewieften SF-Leser austricksen könnten.

Die Hauptfigur ist zunächst ein Jedermann, der bloß seine Ruhe haben möchte. Je nach Hautfarbe schreibt ihm der Leser seine eigene Hautfarbe zu, und die war anno 1970 meist weiß. Denn Schwarze hatten damals, nur vier Jahre nach der Öffnung der Hochschulen für Schwarze und dem Ende der Rassentrennung, sehr wenig Zugang zu belletristischer Literatur. Auch SF-Autoren waren fast durchweg Weiße, mit einer Ausnahme: Samuel R. Delany.

So kann es daher dazu kommen, dass dem Leser die Betrachtung der Hauptfigur Chaney durch Chicagoer Polizisten ungewöhnlich, ja, sogar unerklärlich vorkommt. Was stimmt mit Chaney nicht? Ist seine unheilvolle Prophetie der beiden Bibeltexte schuld, mag man sich fragen, aber er befindet sich auf seinem ersten „Freigang“ im Jahr 1978, um die Zeitungen in der Bibliothek zu lesen, dann kehrt er im November 1980 dorthin zurück. Die Lage hat sich dramatisch verändert, denn Präsident Meeks hat seine Rassentrennungspolitik nach dem Scheitern des Putsches der Stabschefs umgesetzt und eine Mauer durch Chicago – und viele weitere Städte – errichten lassen.

Alle Schwarzen, wie etwa Chaney, die in „weißen“ Zonen auf der Straße sind, werden scharf beobachtet. Chaney bekommt sofort einen Strafzettel, weil er seine Parkdauer überschritten hat. Auf diesen Strafzettel schreibt er „We shall overcome“, die Parole und Hymne der Bürgerrechtsbewegung. Dass Chaney erst jetzt, fast in der Mitte des Buches, als Schwarzer erscheint, trifft den nichts ahnenden Leser mit einem gelinden Schock. Fortan wirkt der Rest des Geschehens irgendwie anders, und der Leser muss doppelt genau lesen und aufpassen, ob und wie genau das erzählte Geschehen von seinen Erwartungen abweicht.

Letzte Reisen

Es kann nicht ausbleiben, dass der Leser die Geschichte mehrerer Zeitreisen mit dem ersten derartigen Bericht vergleicht, nämlich „Die Zeitmaschine“ (1895), genauer gesagt mit der Urfassung von 1888, die unter dem Titel „The Chronic Argonauts“ in „Science Schools Journal“ als Essay-Serie erschien. Der Knackpunkt besteht darin, dass der Zeitreisende in den Verlauf der Geschehnisse eingreift und dabei nicht nur eine Eloi-Frau rettet, sondern auch die Morlocks bekämpft. Darf er das überhaupt, mag sich mancher Leser fragen, wenn doch die Wissenschaft zu „objektiver Neutralität“ verpflichtet ist. Wells lässt seinen Zeitreisenden bis ans Ende der Erde gelangen, als die Sonne im Sterben liegt.

Endzeit

Deshalb wartet der Leser von Tuckers Roman nicht nur auf die übliche Endzeitvision à la Wells, sondern auf die Antwort auf die Kardinalfrage, ob die drei Zeitreisenden in den Geschichtsverlauf eingegriffen haben. Ja, aber nicht nur einmal. Sie haben den Putschversuch aufgedeckt und Meeks davor gewarnt, so dass er nicht nur die Wahl gewonnen hat, sondern sich zudem auf Lebenszeit zum Diktator emporschwingen kann. Dies scheint nicht besonders schlimm zu sein, doch auf den drei letzten Reisen müssen die zwei Militärs und der Zivilist, Chaney, am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet, in einem Land der Rassentrennung zu leben, in dem Bürgerkrieg herrscht: Es ist das Ende der Zivilisation.

Der Autor braucht den Zeigefinger eines Oberlehrers an keiner Stelle zu heben, um dem Leser, der durch die Augen der jeweiligen Figur „sieht“, deutlich zu machen, dass dieser Zustand des Bürgerkriegs das Endstadium Amerikas ist. Sicher, es gibt wieder eine Familie außerhalb des Zauns, aber sie bekommt sofort Panik, als sie einen Schwarzen, wieder Chaney, erblickt. Es ist irreparabler Schaden entstanden, verursacht von Meels „Politik positiver Polarisierung“. Was daran „positiv“ sein soll, mag sich jeder Leser am Schluss fragen. Die Polarisierung ist derzeit, anno 2022, die Plage der US-amerikanischen Gesellschaft. Tuckers Roman malt lediglich aus, wozu dies führt.

Prophezeiung

Die Ironie dabei: Schon vor über 2000 Jahren soll ein Bibelautor diesen Zustand vorausgesagt haben; es handelt sich also um ein grundsätzliches Phänomen der Zivilisation. Diese Prophetie namens „Eschatos“ (seite 54-57) schildert eine Welt, in der die Luft voll geflügelter Schlangen, also Symbolen des Satans, ist und die angestammten Gesetze der Gastfreundschaft, die aus der Nomadenzeit stammen, nicht mehr anerkannt und befolgt werden. Die Hoffnung ruht auf der Wiederkehr des „Mannes, der zwei Männer ist“ und alles wieder ins rechte Lot rückt. Wer ist dieser Mann und wofür steht er, fragt sich nicht nur der Leser, sondern v.a. Major Moresby. Er hält sich selbst dafür.

Utopie

Am Schluss des Buches steht eine Utopie: „Im Freien ist der Himmel klar, die Sterne funkeln. Chaney merkt nun, dass der „Mann, der zwei Männer war“, er selbst ist. Auf dem Mond macht er einen pulsierenden Laser aus, der von einem Unfall mit zwei Astronauten stammt, einer weiß, einer schwarz. Diese Expedition stammt noch aus der Zeit, als es noch keine Rassentrennung gab, weder in der Gesellschaft, noch in der Raumfahrt. „Dies hatte der alte Prophet nicht vorausgesehen.“

Die Übersetzung

Ob dieser Text gekürzt wurde, ist schwer zu beurteilen, aber nicht auszuschließen. Er wirkt trotz des Druckfehlers auf S. 87 vollständig, denn alle Motti und Datumsangaben wurden beibehalten. Die Zitate stammen aus der Bibel (Micha, Jesaja), von Winston Churchill, Charles Rann Kennedy und dem persischen Dichter Omar Khayyam.

S. 32: „Säuglingssterblichkeit bei künstlichen Geburten“. Also, entweder handelt es bei „künstlichen Geburten“ um Kaiserschnitte oder der Autor bezieht sich auf die künstliche Befruchtung, die diese Geburten erst ermöglicht.

S. 87: Der Satz bricht mittendrin ab! „Chaney rüttelte impulsiv an der Tür und stellte fest, dass sie abgeschlossen war. Soviel zur Nützlichkeit des Schutzraums im“ … „Keller“ steht in der Zeile DARÜBER. Zwei Zeilen sind also nach unten „gerutscht“.

S. 159: „Auf dem Parkplatz fand er einem zweirädrigen Karren vor.“ Hier ist aber nicht der Dativ (einem), sondern der Akkusativ (einen) gefragt.

Unterm Strich

Ich habe diesen schönen, anrührenden und erschütternden Roman in wenigen Tagen gelesen. Die Sätze sind kurz und leicht verständlich, die Hauptfigur Chaney ist ein humorvoll-ironischer Antiheld, der seine militärischen Wegbegleiter gerne auf die Schippe nimmt. Die genau geschilderten figurenwirken zunehmend menschlich, interessant und mitunter sogar sympathisch.

Die Frau, von Anfang ein erotisches Sexobjekt mit Köpfchen, sorgt in diesem Team für emotionale Spannungen, während Chaney selbst als falscher Prophet gehasst und als Zivilist verachtet wird. Dabei ist noch gar nicht seine abweichende Hautfarbe berücksichtigt. Erst etwa in der Mitte wird dem aufmerksamen Leser klar, was Chaneys Problem sein muss: Er ist ein Schwarzer. Als Ausgegrenzter ist er in der gleichen Position wie Kathryn, die einzige Frau im ganzen Zeitreiseprojekt. Ein klarer Fall von #MeToo!

Zunehmend wird in der zweiten Hälften des Buches klar, welche fatale Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft die Kunde aus der Zukunft hat. Präsident Meeks übersteht einen Putsch und wird Diktator. Er dreht die Uhr zurück und führt die Rassentrennung wieder ein. Damit haben die Chinesen und Kanadier nichts zu tun, wohl aber der Krieg, den Meeks nach Asien trägt und der 20 Millionen Männer bindet, die in der Heimat fehlen. In der Heimat tobt der Bürgerkrieg, bis nichts mehr übrig ist und „das Jahr der stillen Sonne beginnt. Dies ist ein extrem bitteres Bild: alles friedlich, ruhig – und tot.

In diese Endzeit tritt Chaney, der Pseudo-Prophet. Sein „Eschatos“ ist ein Bild aus der Vergangenheit, religiöse Dichtung, die aber wider Erwarten die Zukunft voraussagt. Chaney zieht ein bitteres, düsteres Fazit, erblickt aber doch ein oder zwei Elemente, die Anlass zu Hoffnung geben. Er warnt die Nachgeborenen – also die Leser dieser Dystopie – vor dem, was aus einer „simplen Politik der positiven Polarisierung“ entstehen kann.

Hinweis

Die lückenlose Beschreibung der Handlung dieses Romans, die auf Wikipedia zu lesen ist, nimmt das Ende vorweg. Um sich die Spannung zu erhalten, sollte der Leser diese Handlungsbeschreibung erst NACH dem Roman lesen.

Taschenbuch: 198 Seiten
O-Titel: The Year of the Quiet Sun, 1970.
Aus dem Englischen von Wulf Bergner.
ISBN-13: 9783442231973.
www.penguinrandomhouse.de

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