_Vorspann_
Das ausgehende 17. Jahrhundert war besonders für Europa eine erbauende Zeit – auch wenn die richtig großen Fortschritts-Schübe noch eine Weile auf sich warten lassen sollten. Die Nachwehen des 30jährigen Kriegs wurden allmählich überwunden. Wirkliche Demokratie war noch ein ganzes Stück entfernt, dazu verbrauchten sich die untereinander eng verwandten europäischen Monarchen in endlosen Kleinkriegen. Aber dennoch begann die Aufklärung durch die Lande zu leuchten. Das, was die Heutigen als „Wissenschaft“ („Science“) wahrnehmen, das nahm ganz allmählich heute noch vertraute Formen an. Und deswegen sollten Erzählungen vor diesem historischen Hintergrund auch für die Heutigen durchaus verständlich und spannend sein. Besonders für Leute aus dem angelsächsischen Sprachraum, denn vor gut 300 Jahren lebte in England mit Isaac Newton eine der wichtigsten Gründungsfiguren moderner Wissenschaft. Und dazu erhob sich ganz allmählich eine ernst zu nehmende englische Seemacht. Und in dieses Umfeld begibt sich Neal Stephenson mit seinem monumentalen Roman „Quicksilver“.
_Neal Stephenson_
… gilt seinen zahlreichen Verehrern als herausragender Science-Fiction–Autor. Er wurde 1959 geboren und lebt in der Nähe von Seattle. „Science““hat er sicher schon als Kind mitbekommen, entstammt er doch einer Familie, die bereits seit Generationen allerlei naturwissenschaftliche Professoren hervorgebracht hat. Er selbst studierte zuerst Physik, dann Geografie. Beides sollte sich für dieses Buch als hilfreich erweisen. Bereits mit Ende zwanzig konnte er erste Erfolge im Feld der „Fiction“ aufweisen. Auf sein Konto gehen vergnügt verschrobene Abenteuer-Erzählungen wie der Erstling „Zodiac“ (1988) oder „The Diamond Age“ (1995). Dazu das bahnbrechend visionäre „Snow Crash“ (1992) und der erstaunliche Bestseller „Cryptonomicon“ (1999).
„Quicksilver“ ist der erste Teil seiner etwa zwischen 1670 und 1720 spielenden „Barock“-Trilogie. Er behauptet dazu weiterhin, nichts anderes als eben „Science Fiction“ zu schreiben. So mancher Leser mag sich allerdings eher im historischen Roman oder einem schön altmodischen Mantel- und Degen-Epos wähnen. Keine Raumschiffe hier, auch keine Computer (nur frühe Ideen dazu).
_Das Buch_
„Quicksilver“ ist zunächst einmal rein haptisch ein überaus beeindruckendes Werk. Der im September 2004 als |Manhattan|-Buch im |Goldmann|-Verlag erschienene Schmöker wiegt 1,3 Kilogramm und hat (ohne Personenverzeichnis) satte 1130 Seiten Text, eng bedruckt. Wohl wegen des außerordentlichen Umfangs leistete sich der Verlag gleich zwei Übersetzer (Juliane Gräbener-Müller und Nikolaus Stingl). Die Ausstattung orientiert sich sehr eng am amerikanischen Original (habe mittlerweile die beiden Fortsetzungen gelesen). Sie ist hochwertig, den Preis von 29 Euro durchaus rechtfertigend. Aber warum wurde eigentlich der Titel (auf Deutsch „Quecksilber“) nicht übersetzt? Wird der nächste Teil dann auch „The Confusion“ heißen?
_Was passiert?_
Der Riesenwälzer besteht aus drei zeitlich und in der Handlung miteinander verwobenen „Büchern“, mit zahllosen Handlungssträngen und kurzen Gastauftritten allerlei bekannter Figuren der Zeit. Die Namen der Hauptfiguren jedoch dürften dem geneigten Fan schon aus „Cryptonomicon“ bekannt vorkommen.
Auftritt Daniel Waterhouse, Querdenker, Puritaner und Verächter der überkommenen Alchemie. Er teilt sich das College-Zimmer mit – Isaac Newton! – und befreundet sich nebenbei mit allen verfügbaren realen Geistesgrößen, von Hooke über Wren zu Pepys und Leibniz. Na ja.
Gleichzeitig: Jack Shaftoe wird vom Londoner Henkersgehilfen zum legendären König der Vagabunden. Er reitet und schwingt das Schwert, riskiert Leib und Leben für sein Glück und seine Liebe – und verliert durch die Syphilis schleichend den Verstand.
Gleichzeitig: Eliza, als Sklavin von einem finsteren, verdorbenen Fisch futternden französischen Admiral einst aus dem fiktiven Land ihrer Herkunft (irgendwo in Großbritannien) geraubt, hat es zur türkischen Haremsdame gebracht. Dabei ist sie noch nicht mal volljährig! Der Obertürke nimmt sie mit nach Wien, dort befreit Vagabundenkönig Jack die Holde. Auf geht es durch manches Abenteuer in deutschen Fürstentümern, bis nach Amsterdam. Dort erweist sich die Dame als Finanzgenie, sie bringt es schließlich an den Hof Ludwigs XIV, sie wird Mätresse, Spionin und Schachfigur in den Händen diverser königlicher Staatsoberhäupter.
Munter geht es hin und her, kurze Abstecher in das Massachusetts des Jahres 1714 eingeschlossen. Und immer, wenn eine der Hauptfiguren nicht mehr weiter weiß – hurra! da kommt ein gewisser Enoch Root um die Ecke. Und er hat natürlich immer die richtige Idee, kein Wunder, bei seiner Erfahrung …
Es wäre schlichtweg vermessen, alle Handlungsstränge hier nacherzählen zu wollen. Es sind zu viele. Schon ein wenig störend wirkt, dass keine der Plotlinien wirklich zu einem klaren Ende geführt wird. Der Kauf der Fortsetzungs-Romane des großen Zyklus wird da fast unvermeidbar. Immerhin bleibt es zumeist sehr unterhaltsam, und immer recht abenteuerlich.
_Worum geht es denn?_
Ja, bei Bedarf lässt sich hier eine Menge über Wissenschaftsgeschichte erfahren, über Sittengeschichte, Staatenwerdung, etc. Aber zum Stillen übermächtigen Wissensdurstes ist „Quicksilver“ dann doch nur bedingt geeignet. Auch wenn all die in umfassender Detaillierung geschilderten Alltagssorgen und –verrichtungen der Figuren weitgehend authentisch sein dürften – da gibt es Besseres (wie zum Beispiel das echte Tagebuch des echten Samuel Pepys). Obwohl der historische Rahmen weitgehend korrekt beschrieben scheint, dominieren doch die fiktiven Figuren. Und deren philosophische Tiefe scheint mir trotz allen Diskurses der edlen Herren von der „Royal Society“ dann doch arg begrenzt. Dies ist ein extra langer Abenteuer-Schmöker in Cinemascope, nicht weniger, aber auch nicht mehr.
_Und wie lässt es sich schmökern?_
Überaus vergnüglich. Stephenson hält eine mild ironische Tonlage locker durch. Die oft leicht antiquierte Schreibweise des Originals (uralte Verben, obsolete Rechtschreibung etc.) wurde durch die Übersetzer leider weitgehend getilgt. Schade eigentlich, steigert sie doch den Charme des Barock-Zyklus erheblich. Und barock, ja, barock geht es hier zu. Spielszenen werden eingeflochten, Spottgedichte, gelegentlich wandelt sich das Buch zum Briefroman. Immer aber gibt es flotte Action, Ehre und große Gefühle, erbauliche Details, manchmal etwas konstruiert anmutende Begegnungen – aber was soll’s. „Quicksilver“ ist mächtig unterhaltsam, und sehr schwer zur Seite zu legen. Auch wenn die Lektüre sicher einige Wochen Zeit beansprucht.
_Zum Abschluss_
In diesem Buch gibt es „Science Fiction“ nur im wörtlichen Sinne. Großzügig ausgeteilte Brocken Wissenschaftsgeschichte in einem herrlich dahinsprudelnen Abenteuerroman mit historischer Kulisse. „Quicksilver“ ist angenehmer Eskapismus. Die Helden sind nur selten eindimensional, meist liebevoll gezeichnet. Wärme und Humor durchströmen das Buch. Schön für lange Winterabende, schön als Urlaubslektüre.
Nur etwas schwer zu transportieren.
Homepage des Autors: http://www.nealstephenson.com
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