Arnaldur Indriðason – Todeshauch [Erlendur 4]

Am Rand von Reykvavík, der Hauptstadt von Island, wird eine vor vielen Jahren verscharrte Leiche entdeckt. Die Aufklärung dieses Falls gestaltet sich für die Männer und Frauen um Kommissar Erlendur schwierig, doch Stück für Stück kommt eine alte Familientragödie zum Vorschein, die es schwerfallen lässt, Tätern von Opfern zu unterscheiden … – Ausgezeichneter Thriller, der dem in Deutschland beliebten, aber inzwischen arg strapazierten „Skandinavien-Krimi“ neuen Glanz verleiht. Indriðason gelingt das Kunststück, eine an sich bedrückende Geschichte spannend und sogar mit trockenem Witz zu erzählen: die beste Begründung dafür, wieso der Verfasser längst kein Geheimtipp mehr ist.

Das geschieht:

Der Grafarholt ist ein Hügel am Rande von Reykvavík, Hauptstadt des Inselstaates Island. Viele Jahre gab es hier nur Hütten und Wochenendhäuser, von denen die meisten längst verschwunden sind. Nun wird hier neu gebaut, und auf einem der Grundstücke kommt dabei ein Skelett zum Vorschein. Mord ist zu vermuten, sodass die Polizei Ermittlungen aufnimmt. Mehr als ein halbes Jahrhundert stecken die Knochen im Boden: Ist dieser Fall überhaupt noch zu klären? Doch Kriminalkommissar Erlendur Sveinsson hat ein Faible für mysteriöse Mordfälle. Wobei ihm dieser auch als Ablenkung dient. Eva Lind, seine drogensüchtige Tochter, ist hochschwanger auf der Straße zusammengebrochen. Seither liegt sie im Koma; ihr Überleben ist zweifelhaft.

Über seinen Sorgen vergisst Erlendur nicht den Grafarholt-Fall. Wie sich herausstellt, gab es am Ort des Leichenfundes ein inzwischen abgerissenes Haus, um das sich unerfreuliche Überlieferungen rankten. Viele bruchstückhafte, oft einander widersprechende Informationsfetzen müssen geordnet und zusammengesetzt werden. Sie enthüllen Stück für Stück die Geschichte einer uralten Tragödie. In dem Haus auf dem Grafarholt hauste ein grausamer Tyrann mit seiner geprügelten und eingeschüchterten Familie. Schreckliche Dramen spielten sich an der isolierten Stätte ab, denen eines Tages ein finaler Gewaltausbruch sein Ende bereitete.

Aber ist das Grauen tatsächlich mit seinem Verursacher begraben worden? Erlendurs Team findet deutliche Hinweise darauf, dass dem keineswegs so ist. Die Ruine mit dem Grab auf dem Grafarholt ließ die gezeichneten Überlebenden nie wirklich los. Als die Polizei die alte Wunde wieder öffnet, beschwört sie dadurch unwissentlich neuen Schrecken herauf …

Fragwürdige ‚Rache‘ aus dem Grab

Unrecht stirbt womöglich nie, selbst wenn es tief begraben wird: Das ist die Quintessenz dieses großartigen Kriminalromans, den man besser Psychothriller nennen sollte, wäre dieser Begriff nicht schon so abgegriffen. Dennoch spielt sich der wahre Schrecken sehr spannend vor allem in den Köpfen der Beteiligten ab. Verfolgungsjagden, Schießereien und ähnliche Elemente des Vordergründigen fallen aus.

Man vermisst sie nicht, denn Indriðason spinnt ein wahrlich grimmiges Garn. Mit simplen, aber effektvollen literarischen Mitteln schürt er die Erwartungen seiner Leser. So wissen diese scheinbar von Anfang an mehr als die Ermittler. Immer wieder flicht der Verfasser Passagen ein, die den grausamen Alltag im einsamen Haus auf dem Grafarholt wiedergeben. Wir lernen die Personen kennen, die dort lebten bzw. litten, werden nach und nach über ihre Gedanken und Taten informiert. Das schreitet in dem Maße voran, wie der sorgsam arbeitende Polizeiarchäologe Stück für Stück das Skelett aus seinem Erd-Grab präpariert.

Die sich mühsam vorantastenden Beamten und der unsichtbare Erzähler aus der Vergangenheit kommen gleichzeitig zum traurigen Finale. Damit ist die Geschichte aber längst nicht zu Ende. Erlendur und seine Kollegen haben ein altes Unrecht nicht nur aufgeklärt, sondern unbeabsichtigt zu neuem Leben erweckt. Die Konsequenz ist furchtbar: Die alten Opfer erfahren weiteres Unglück, dieses Mal gesichtslos in Gestalt des Gesetzes, was sie aber nicht weniger leiden lässt.

Wenig Sonne im Leben

Angesichts der hier skizzierten Handlung mag es verblüffen, dass über ihr niemals der Schleier politisch korrekter Entrüstung oder lähmender Trauer – ein Symptom des Skandinavien-Krimis – liegt. Indriðason verkneift sich jede Zeigefinger-hoch!-Stimmungsmache. Er lässt fast dokumentarisch geschilderte Taten sprechen. Vor allem vergisst er niemals den Humor, der sich selbst in der Tragödie finden und diese zwischenzeitlich erträglicher werden lässt.

Kommissar Erlendur kann die Tragödie vom Grafarholt besser nachvollziehen als seine Mitarbeiter. Er sieht sich selbst zwischen denen, die Fehler in der Vergangenheit begingen, unter denen Unschuldige bitter leiden mussten. Zwar hat er nie die Hand gegen seine Familie erhoben, aber seine Frau und Kinder einst ohne Erklärung verlassen. Das hat diesen nachhaltig den Frieden geraubt und vor allem die Tochter auf die schiefe Bahn gebracht. Erlendur macht sich große Vorwürfe deswegen, was aber an den katastrophalen Fakten nichts ändert.

Geschickt verklammert Autor Indriðason Erlendurs Seelenpein mit dem konfusen Innenleben das Tyrannen Grímur, der seiner Familie die Hölle auf Erden bereitet. Zunächst lernen wir nur den Schläger und Vergewaltiger kennen und wie seine hilflosen Opfer hassen. Doch immer wieder streut Indriðason in diese Geschichten des Schreckens Hinweise darauf ein, dass Grímur selbst ein Opfer ist, den die unbewältigten Qualen einer schrecklichen Kindheit zum gewalttätigen Seelenkrüppel der Gegenwart machen. Das ist – der Verfasser macht es deutlich – keine Entschuldigung, sondern eine Erklärung für die Automatismen, die eine Spirale des Schreckens entstehen ließen, die sich scheinbar nicht mehr stoppen lässt, selbst wenn ihr Schöpfer längst nicht mehr ist. So klar und eindrucksvoll, dabei kommentarlos und deshalb ohne (moralisierende) Wertung wird das Kapitel Gewalt in der Familie selten dargestellt.

Polizeiliche Ermittlungen ermöglichen einem Schriftsteller, seinem Publikum eine breite Palette unterschiedlicher Figuren zu präsentieren. Indriðason macht davon gern und reichlich Gebrauch. Seine Zeugen, Verdächtigen, Kollegen sind manchmal ein wenig überzeichnet und wirken recht skurril, doch der kontinentaleuropäische Leser stellt sich so vermutlich ‚typische‘ Isländer vor. Unabhängig davon runden Indriðasons Charakterköpfe den Lesespaß wirkungsvoll ab.

Autor

Arnaldur Indriðason wurde am 8. Januar 1961 in Reykjavík geboren. Er wuchs hier auf, ging zur Schule, studierte Geschichte an der University of Iceland. 1981/82 arbeitete als Journalist für das „Morgunbladid“, dann wurde er freiberuflicher Drehbuchautor. Für seinen alten Arbeitgeber schrieb er noch bis 2001 Filmkritiken. Auch heute noch lebt der Schriftsteller mit Frau und drei Kindern in Reykjavík.

1995 begann Arnaldur Romane zu schreiben. „Synir duftsins“ – gleichzeitig der erste Roman einer Serie um den isländischen Polizei-Kommissar Erlendur Sveinsson – markierte 1997 sein Debüt. Jährlich legt der Autor mindestens einen neuen Titel vor. Inzwischen gilt er auch im Ausland als einer der führenden Kriminalschriftsteller Islands. Gleich zweimal in Folge wurde ihm der „Glass Key Prize“ – der Skandinaviska Kriminalselskapet (Crime Writers of Scandinavia) – verliehen (2002 für „Nordermoor“, 2003 für „Todeshauch“).

Drei seiner Romane hat Arnaldur selbst in Hörspiele für den Icelandic Broadcasting Service verwandelt. Darüber hinaus schrieb das Drehbuch zur Verfilmung seines Erlendur-Romans „Mýrin“ (2006, dt. „Nordermoor“) und zusammen mit dem Regisseur Óskar Jónasson das Script zum Thriller „Reykjavík-Rotterdam“ (2008), der 2012 als „Contraband“ (dt. „Contraband – Gefährliche Fracht) u. a. mit Mark Wahlberg und Kate Beckinsale als internationale Großproduktion neu verfilmt wurde.

Taschenbuch: 365 Seiten
Originaltitel: Grafarthogn (Reykjavík : Vaka-Helgafell 2001)
Übersetzung: Coletta Bürling
https://www.luebbe.de

eBook: 1910 KB (Kindle)
ISBN-13: 978-3-8387-1263-5
https://www.luebbe.de

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